38. Kapitel

 

Als Tess später wieder ins Lakeview Inn zurückkehrte, war sie froh, Ryans Mietwagen auf dem Parkplatz des Hotels stehen zu sehen. Das bedeutete, dass er bereits aus Medford zurück war. Er hatte den Tag dazu nutzen wollen, sich mit Susannahs früheren Arbeitskollegen zu treffen und sie noch einmal gründlich auszuhorchen. Zum Glück schien das nicht sehr lange gedauert zu haben, dachte Tess. Nach allem, was gerade passiert war, wollte sie jetzt nur ungern allein sein.

Da sie Ryan im Gastraum nicht entdecken konnte, winkte sie Hank nur kurz zur Begrüßung zu und lief dann direkt die Treppe hoch zu den Hotelzimmern. Sie klopfte an Ryans Tür und wartete.

Nur wenige Sekunden später öffnete er die Tür. Er telefonierte gerade. Als er Tess sah, lächelte er und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, ins Zimmer zu kommen.

Tess ließ sich auf den obligatorischen Stuhl fallen, der in jedem Hotelzimmer stand. Er war so wackelig, dass sie es kaum wagte, sich zu rühren, weil sie Angst hatte, dass der Stuhl sonst einfach unter ihr zusammenkrachte.

Geduldig wartete Tess ab, bis Ryan sein Gespräch beendet hatte. Die meiste Zeit sagte er nicht viel, sondern hörte nur konzentriert zu, wobei er häufig die Stirn runzelte.

»Okay, Ronald. Genau das wollte ich wissen. Danke, du hast mir wirklich sehr geholfen. Wenn ich mal irgendwann etwas für dich tun kann, gib mir einfach Bescheid«, sagte er nach kurzer Zeit. Dann verabschiedete er sich von seinem Gesprächspartner und legte auf.

Anschließend wandte er sich Tess zu. Als er ihre bedrückte Mine sah, kam er besorgt zu ihr. »Was ist denn passiert? Du siehst ja schrecklich aus.«

»Ich fühle mich auch schrecklich«, antwortete Tess in jämmerlichem Tonfall. Stockend begann sie ihm alles zu erzählen, von ihrem ersten unerfreulichen Besuch im Büro des Sheriffs, über den Fund von Millies Leiche bis hin zu ihrer Begegnung mit Justin Ciprati.

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich von seiner Reaktion halten soll«, berichtete Tess nachdenklich. »Er hat sich irgendwie so merkwürdig benommen.«

»Inwiefern?«, hakte Ryan nach.

»Das kann ich nicht mal genau sagen«, gestand Tess ein. Sie überlegte einen Moment. »Als ich ihm erzählt habe, dass man die Überreste von Millie gefunden hat, da hatte ich den Eindruck, dass er gar nicht so erstaunt war. Vielleicht irre ich mich ja auch, aber …« Sie schüttelte den Kopf, weil sie selbst nicht wusste, was sie eigentlich empfand. Sie suchte nach den richtigen Worten. »Ich fand es irgendwie merkwürdig, denn er war anscheinend nur geschockt darüber, dass man sie gefunden hat, aber nicht, dass sie tot ist.« Sie lächelte verlegen. »Das hört sich total bescheuert an, oder?«

»Nein, überhaupt nicht«, widersprach Ryan ernst. »Ich weiß zwar noch nicht so genau, was ich davon halten soll, aber wir sollten das auf jeden Fall im Auge behalten.«

Tess nickte. Sie war erleichtert, dass er ihr glaubte.

»Danach war ich noch mal im Büro des Sheriffs«, erzählte sie weiter. »Ich war zwar nicht gerade scharf drauf, Marcks nach unserer Auseinandersetzung heute Morgen noch am gleichen Tag wiederzusehen, aber trotzdem wollte ich ihm persönlich sagen, was ich bei Mrs Pretzky erfahren habe. Er sollte wissen, dass Millie tatsächlich tot ist.«

Ryan zog grinsend einen Mundwinkel nach oben. »Und du wolltest ihm natürlich überhaupt nicht unter die Nase reiben, dass er zumindest im Fall von Millie mit seiner Einschätzung absolut danebenlag?«

Tess sah ihn empört an, musste dann aber kichern. »Naja, vielleicht ein kleines bisschen«, gab sie zu. »Leider war er nicht da, als ich hinkam. Deswegen musste ich Ruth Montgomery alles erzählen. Die hat keine Miene verzogen, aber immerhin versprochen, sofort alles an die richtigen Stellen weiterzuleiten.«

»Gut. Dann kommt zumindest in diesen Fall langsam Bewegung«, folgerte Ryan. »Auch wenn es wahrscheinlich eine ganze Weile dauern wird, bis es erste Ermittlungsergebnisse gibt. Vermutlich wird sich die Polizei erst einmal auf dieses andere Mädchen, Cristina Gomez, konzentrieren. Da ihr Tod noch nicht lange zurückliegt, wird es bei ihr bestimmt einfacher, etwas herauszufinden.«

Tess ging zum Fenster und sah lange hinaus. »Seitdem ich Millies Namen auf Ellens Liste gelesen habe, habe ich ja schon damit gerechnet, dass ihr etwas zugestoßen ist. Aber trotzdem kann ich es immer noch nicht fassen, dass sie tot ist«, sagte sie traurig.

Dann drehte sie sich um und versuchte zu lächeln. »Was ist eigentlich mit deinen Nachforschungen? Hast du etwas Interessantes herausgefunden?«

»Wie man es nimmt«, gab Ryan achselzuckend zurück. »Zuerst einmal habe ich herausgefunden, dass Ellens Nachbar ein ganz widerliches Ekelpaket ist und nicht einmal ansatzweise zivilisierte Umgangsformen besitzt.« Er berichtete von seiner kurzen Begegnung mit Greg Koborski kurz zuvor. Tess hörte mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen zu und schüttelte schließlich den Kopf.

»Ich kann das kaum glauben. Mir gegenüber war er doch so zuvorkommend, fast schon schleimig«, meinte sie.

Ryan zuckte die Achseln. »Vielleicht steht er einfach mehr auf Frauen«, vermutete er. »Naja, wie auch immer, ich kann damit leben. Bevor ich bei ihm war, habe ich mich in Medford mit ein paar Arbeitskollegen von Susannah getroffen und sie ausgefragt.« Er seufzte laut. »Sie waren auch alle wirklich nett und sehr hilfsbereit, aber etwas Neues konnten sie mir nicht erzählen. Unglücklicherweise war Jenny Darner nicht da. Sie hat gerade Urlaub und ist nach Las Vegas geflogen. Jenny ist die Kollegin, mit der sich Susannah ein Büro geteilt hat«, fügte er hinzu, als er Tess` verständnislosen Gesichtsausdruck sah. »Ich habe ihr eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen. Vielleicht haben wir Glück und sie meldet sich demnächst.«

»Hoffentlich«, stimmte Tess zu. »Aber das war nicht das Telefongespräch, das du vorhin geführt hast, als ich ins Zimmer gekommen bin, oder?«

Ryan schüttelte den Kopf. »Da habe ich mit Ronald Biederman gesprochen. Er ist ein alter Freund meines Vaters und kennt sich fantastisch in der Pharmakologie aus.« Er ließ sich auf das Bett fallen, das unter seinem Gewicht bedenklich knarrte. »Ich habe in Susannahs Akte gelesen, dass ihr Tod durch Phenobarbital ausgelöst wurde. Deshalb wollte ich ein bisschen mehr über dieses Medikament in Erfahrung bringen. Und was Ronald mir darüber erzählt hat, war ziemlich aufschlussreich.«

Tess runzelte die Stirn. »Inwiefern?«, wollte sie wissen.

»Weil es wieder ein Punkt ist, der nicht in das einfache Schema vom Selbstmord passt, wie der Sheriff es aufgestellt hat. Er hat sich nämlich gar nicht darum gekümmert, woher Susannah das Zeug überhaupt hatte.«

Ryan stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich bin immer davon ausgegangen, dass Susannah ein ganz normales Schlafmittel genommen hat, das man in jeder Apotheke kaufen kann«, erklärte er. »Aber dieses Phenobarbital wird als Schlafmittel normalerweise gar nicht mehr verwendet, weil es zu viele Nebenwirkungen hat und zudem wohl stark abhängig macht. Es kann nur von einem Arzt verschrieben werden. Inzwischen wird es fast ausschließlich bei Epilepsie eingesetzt.«

»Epilepsie?«, wiederholte Tess nachdenklich. »Das hieße ja, dass Susannah sich das Zeug bei jemandem besorgt haben müsste, der da dran kommt. War vielleicht einer ihrer Freunde Epileptiker?«

»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete Ryan kopfschüttelnd. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, du könntest mir da weiterhelfen. Du kennst doch beinahe jeden in Shadow Lake. Gibt es unter den Einwohnern jemanden, der Krampfanfälle hat?«

Tess überlegte eine Weile. »Ich glaube nicht«, antwortete sie schließlich. »Zumindest fällt mir spontan niemand ein. Und eigentlich müsste ich das doch wissen. Aber wenn sie sich das Medikament weder von einem Freund noch von jemandem hier im Ort besorgt hat, wo hat Susannah es denn dann herbekommen?«

Ryan sah sie vielsagend an. »Genau das werde ich in den nächsten Tagen herausfinden«, meinte er entschlossen. »Und dann sind wir vielleicht schon einen großen Schritt weiter.«

See der Schatten - Kriminalroman
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