31. Kapitel

 

Sheriff Oberlander wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Nur noch vier Monate hatte er bis zu seinem wohlverdienten Ruhestand zu arbeiten, und jetzt das! Ausgerechnet in seinem Bezirk musste die Leiche eines jungen Mädchens gefunden werden.

Vor etwas mehr als einer Stunde war der Notruf eingegangen. Ein Junge namens Brandon Cromby hatte berichtet, dass er und seine Freundin ein Stück außerhalb von Medford eine Tote entdeckt hatten, die jemand im Wald verscharrt hatte. Er war so aufgeregt gewesen, dass sich seine Stimme immer wieder überschlagen hatte. Erst nach mehrmaligem Nachfragen hatte Annie, die den Notruf entgegengenommen hatte, alles verstehen können. Da der angegebene Fundort gerade noch in Oberlanders Bezirk lag, hatte sie ihn sofort verständigt.

Es bestand kein Zweifel daran, dass das Mädchen im Wald nicht eines natürlichen Todes gestorben war. Neben der Tatsache, dass man sie von der Straße aus den Hang hinunter geschleppt und sorgfältig mit Blättern und trockenen Zweigen bedeckt hatte, sprachen die Drosselmale an ihrem Hals eine klare Sprache.

Der Sheriff seufzte und hakte beide Daumen in den Gürtel, der seinen imposanten Bauch umschloss. Seine letzten Wochen im Dienst hatte er sich geruhsamer vorgestellt.

Er war von Natur aus ein ruhiger, ausgeglichener Typ, keiner dieser durchgeknallten Actioncops, die man immer im Kino oder in Fernsehserien sah. Als man ihn vor vierzehn Jahren in seinem jetzigen Bezirk zum Sheriff gewählt hatte, war ihm das nur recht gewesen, gerade weil der Bezirk als ausgesprochen langweilig galt. Es reichte ihm völlig aus, sich mit Diebstählen, kleineren Einbrüchen und Kneipenschlägereien zu beschäftigen. Er hatte auch nichts gegen ein wenig Langeweile einzuwenden.

Aber in nächster Zeit war Langeweile sicher nichts, mit dem man rechnen musste.

Mit einem Anflug von Mitleid sah er zu dem Mädchen hinüber, das zusammen mit ihrem Freund die Leiche gefunden hatte. Genaugenommen war sie es gewesen, die die Hand des toten Mädchens als Erste gesehen hatte. Jennifer McNeill saß auf der Trage eines Krankenwagens, der an der Straße oberhalb der Lichtung abgestellt war. Sie zitterte am ganzen Körper, obwohl ein hilfsbereiter Sanitäter ihr eine Decke um die Schultern gelegt hatte und beruhigend auf sie einredete.

Sheriff Oberlander, dem sie ausführlich geschildert hatte, wie sie und ihre Freund auf die Leiche gestoßen waren, konnte gut nachempfinden, was jetzt in ihr vorging. Den Anblick der starren, bleichen Hand würde sie sicher nie wieder aus ihrem Gedächtnis löschen können. Wahrscheinlich hatten die beiden nur ein bisschen allein sein wollen, dachte Oberlander. Damit, dass sich ihre verliebte Zweisamkeit plötzlich in einen Horrortrip verwandeln würde, hatte sie mit Sicherheit nicht gerechnet. Trotzdem lächelte Jennifer dankbar, als der nette Sanitäter ihr einen Becher mit dampfendem Tee reichte.

Ihr Freund Brandon ging auf sie zu, setzte sich neben sie und legte tröstend den Arm um ihre Schultern. Er schien den Fund der Leiche besser zu verkraften, obwohl auch er wesentlich blasser aussah, als das wahrscheinlich normalerweise der Fall war. In ruhigem Ton hatte er dem Sheriff erzählt, wie er mit der Astgabel in dem Blätterhaufen gewühlt und dabei die Leiche des Mädchens freigelegt hatte.

Aber der Sheriff wusste, dass auch der Junge noch an dem Ereignis lange zu knabbern haben würde. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als er an all die schrecklichen Anblicke dachte, die er in seinem Leben schon in sich hatte aufnehmen müssen. Die meisten davon als junger Polizist in Chicago. Manche davon war er nie wieder losgeworden. Selbst nach den vielen Jahren, die seitdem vergangen waren, schreckte er nachts manchmal noch aus dem Schlaf hoch, weil ihn die Schatten seiner Vergangenheit einholten.

Joe Simmons, einer seiner Leute, riss ihn abrupt aus seinen Gedanken.

»Der Gerichtsmediziner ist jetzt fertig mit der ersten Untersuchung«, berichtete er und schob sich seine Kappe aus der Stirn. Er hat die Leiche zum Transport freigegeben.«

»Gut.« Oberlander kratzte sich an der Schläfe. »Lass sie nach Medford in die Gerichtsmedizin bringen«, wies er Joe an. Als dieser sich bereits wieder abwenden wollte, hielt er ihn zurück. »Äh, Moment noch, was ist mit der Untersuchung der Umgebung? Hat sich da was ergeben?«

»Soweit ich weiß, ist der direkte Fundort komplett untersucht. Was wir gefunden haben, haben wir eingetütet und ans Labor geschickt. Aber das umliegende Gelände wird noch durchkämmt. Vorhin ist Chris Turner mit seinem Hund angekommen. Er ist jetzt unten unterwegs. Vielleicht findet der Köter ja was.«

»Wollen wir es hoffen«, murmelte Sheriff Oberlander und entließ Joe mit einem kurzen Kopfnicken.

Ihm stand einiges an Arbeit bevor. Zuerst mussten sie herausfinden, wer die Kleine überhaupt war. Bei dem auffälligen Äußeren des Mädchens sollte das eigentlich kein Problem sein. Wenn sie als vermisst gemeldet worden war, hatten sie damit leichtes Spiel. Aber das war natürlich nur der erste Schritt, dem umfangreiche Ermittlungen folgen würden. Er stöhnte leise auf, als er daran dachte, was in den nächsten Tagen und Wochen auf ihn zukam.

Er hoffte, den Mord so bald wie möglich aufzuklären. Das war er der Familie des Mädchens gegenüber schuldig. Er wusste, dass ein nicht aufgeklärtes Verbrechen für die Angehörigen eines Opfers noch viel schwerer zu verkraften war als eines, bei dem der Täter dingfest gemacht und verurteilt worden war. Der Schmerz der Hinterbliebenen war aber nicht das Einzige, was ihn in diesem Moment beschäftigte. Die Vorstellung, sich mit einem ungelösten Fall in den Ruhestand zu verabschieden, schmeckte ihm gar nicht.

Er sah auf, als ein Auto angefahren kam und direkt vor seinem Streifenwagen hielt. Ein hochgewachsener Mann mit Halbglatze und eine zierliche blonde Frau steigen aus. Es waren Jennifers Eltern, die ihre Tochter abholen wollten. Sofort stürzten beide auf das verunsicherte Mädchen zu, umringten sie und redeten aufgeregt auf sie ein. Jennifer schien mit der Situation völlig überfordert zu sein. Sie brach in Tränen aus und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Wie zwei Bodyguards geleiteten ihre Mutter und ihr Vater sie zu ihrem Wagen.

Sheriff Oberlander zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als er beobachtete, dass Jennifers Eltern den Freund ihrer Tochter keines Blickes würdigten. Anscheinend waren sie nicht gerade begeistert über die Beziehung. Der Sheriff wunderte sich darüber, denn er hatte vorher noch wohlwollend zur Kenntnis genommen, wie rührend sich Brandon um seine Freundin gekümmert hatte.

Schließlich zuckte er die Achseln und wandte sich wieder Joe zu. Er hatte im Moment wirklich andere Probleme zu lösen als die Beziehungskonflikte von zwei Teenagern und deren Eltern.

Gerade als Brandon im Geländewagen seines Vaters abgeholt wurde – der Wagen seiner Mutter, mit dem die beiden gekommen waren, stand noch unten auf dem Parkplatz – ertönte plötzlich lautes Hundegebell aus dem Wald. Es hielt über eine Minute an, bis Chris Turner seinen Hund anscheinend wieder beruhigt hatte. Aber auch danach waren noch die aufgeregten Rufe mehrerer Männer zu hören.

Der Sheriff starrte angestrengt in die Richtung, aus der der Lärm kam. »Habt ihr was gefunden?«, rief er einem seiner Männer zu, der eben eilig aus dem Wald gestapft kam.

»Allerdings«, gab dieser völlig außer Atem zurück und stützte sich keuchend mit den Händen auf seine Knie. Entweder war er sehr schnell den Berg hochgerannt oder einfach nur schlecht in Form. »Der Hund hat was entdeckt, das Sie sich unbedingt ansehen sollten.«

Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte Sheriff Oberlander dem Deputy den Berghang hinab. Da es keinen Weg gab und sie sich durch das dichte Unterholz und dorniges Gestrüpp kämpfen mussten, kamen sie nur langsam voran. Trotzdem erreichten sie schon nach wenigen Minuten die Stelle, an der der Hund angeschlagen hatte.

Drei weitere Männer standen herum, während der Hundeführer versuchte, das aufgeregt hechelnde Tier zu beruhigen.

»Da vorn ist es«, sagte der Deputy überflüssigerweise und deutete mit einer Handbewegung in Richtung der Männer. Während er zurückblieb, stapfte der Sheriff weiter. Er sah in die Gesichter der anderen, die betroffen schwiegen. Also holte er einmal tief Luft und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Nach ein paar Schritten gelangte er an die angegebene Stelle. Anscheinend hatte der Hund hier kräftig gescharrt, war dann aber von Chris Turner weggezogen worden. Der Erdboden wies deutliche Kratzspuren auf.

Oberlander sah sofort, warum bei den Männern einer derartige Betroffenheit herrschte: Aus dem aufgegrabenen Untergrund ragte deutlich erkennbar ein menschlicher Kieferknochen heraus, in dem eine Reihe gleichmäßiger, gelblich-weißer Zähne stand. Darüber starrten ihm zwei leere Augenhöhlen düster entgegen.

Sheriff Oberlander merkte, dass ihm die Knie weich wurden. Unwillkürlich fasste er nach einem tief hängenden Ast des Baumes, neben dem er stand. Er atmete hörbar aus.

Nicht der Anblick des Skeletts machte ihm zu schaffen. Er hatte in seiner Laufbahn als Polizist weit Schlimmeres zu Gesicht bekommen. Dieses Bild würde ihn nicht in seinen Träumen verfolgen.

Was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, war die Erkenntnis, dass in seinem Bezirk ein Serienmörder sein Unwesen trieb.

Scheinbar geistesabwesend starrte er auf den Totenschädel, während ein Gedanke in ihm aufstieg und ihn nicht mehr losließ: Der Rest seiner Dienstzeit würde alles andere als ruhig werden.

See der Schatten - Kriminalroman
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