35. Kapitel
Am Nachmittag beschloss Tess, endlich etwas in die Tat umzusetzen, das sie sich schon lange vorgenommen hatte: Sie wollte wie geplant Mrs Pretzky ein Päckchen Kaffee bringen, um sich damit bei ihr für ihre Hilfe beim Heraussuchen der Zeitungsartikel über Claire und Susannah zu bedanken.
Das Problem war nur, dass sie dafür erst Kaffee besorgen musste. Mit einem mulmigen Gefühl betrat sie den Laden der Millers. Nach ihrer letzten Begegnung war sie darauf vorbereitet, sofort aus dem Geschäft geworfen zu werden, sobald Mr oder Mrs Miller sie erblickten. Aber es war nur ein junges Mädchen im Laden, das gerade damit beschäftigt war, Fischkonserven in ein Regal zu sortieren. Wahrscheinlich arbeitete sie aushilfsweise hier. Tess schätzte sie auf siebzehn oder achtzehn Jahre. Sie muss ungefähr so alt sein wie Joanna, als sie erstochen wurde, schoss es ihr durch den Kopf.
Das Mädchen lächelte ihr schüchtern zu. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie höflich.
»Danke, ich komme schon klar«, winkte Tess ab. So schnell wie möglich suchte sie die Sachen zusammen, die sie brauchte. Außer dem Kaffee für Mrs Pretzky nahm sie auch gleich noch etwas frisches Obst mit. Sie war erleichtert, dass ihr eine weitere Begegnung mit den Millers erspart geblieben war, und wollte nicht riskieren, doch noch auf einen von den beiden zu treffen.
Nachdem sie bezahlt hatte, machte sie sich auf den Weg zur Shadow Lake Gazette. Mrs Pretzky war gerade mit einem Kunden beschäftigt, als Tess hereinkam. Trotzdem winkte sie ihr freundlich zu und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie kurz warten solle.
Wieder wunderte sich Tess über die plötzliche Freundlichkeit der alten Dame, die früher als so griesgrämig bekannt gewesen war. Während Mrs Pretzky weiterhin den Anzeigentext des Kunden aufnahm – Tess glaubte in ihm den Vorarbeiter einer nahegelegenen Farm zu erkennen – überlegte Tess, ob sich die alte Frau generell so verändert hatte. Sie hatte allerdings den leisen Verdacht, dass Mrs Pretzky genau deshalb so freundlich war, weil die Hennesseys in Shadow Lake inzwischen ziemlich unbeliebt waren. Der alte Drachen hatte sich schon immer gern einen Spaß daraus gemacht, gegen den Strom zu schwimmen. Sie tat eigentlich nie das, was man von ihr erwartete..
Nachdem der Vorarbeiter endlich seinen Anzeigentext ausgesucht und sich mit einem Kopfnicken verabschiedet hatte, konnte Tess ihr Geschenk loswerden. Mit einem strahlenden Lächeln hielt sie Mrs Pretzky das Päckchen Kaffee hin.
»Ich möchte mich bei Ihnen für Ihre Hilfe bedanken. Ich weiß ja, dass Sie gern Kaffee trinken, deshalb habe ich gedacht, hiermit könnte ich Ihnen eine kleine Freude machen«, sagte sie. Bei der Aushilfe im Laden der Millers hatte sich Tess sogar noch erkundigt, welche Marke Mrs Pretzky bevorzugte.
Die alte Frau nahm den Kaffee mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck entgegen. »Wäre aber nicht nötig gewesen«, murmelte sie.
»Doch«, widersprach Tess bestimmt. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
»Bist du denn inzwischen weitergekommen bei deinem Vorhaben?«, fragte Mrs Pretzky neugierig.
Tess musste sich ein Grinsen verkneifen. Eigentlich hatte die alte Dame wohl eher fragen wollen, was Tess überhaupt vorhatte, aber so direkt traute sie sich wahrscheinlich nicht. »Ja, es geht voran«, antwortete sie deshalb vage. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber auch nicht mehr verraten als notwendig.
Mrs Pretzky musterte sie nachdenklich. Als Tess schon begann, sich zu fragen, was sie jetzt von ihr erwartete, sagte die alte Frau leise: »Du hast dich doch für die Frauen interessiert, die in Shadow Lake ums Leben gekommen sind. Ich habe da heute was reinbekommen, was du dir in diesem Zusammenhang vielleicht auch mal ansehen solltest.«
Umständlich kramte sie in einem Stapel Papiere, die in ihrem Postkorb lagen. Schließlich zog sie ein paar Blätter hervor.
»Drüben in der Nähe von Medford haben zwei Teenager eine Mädchenleiche gefunden«, erklärte sie. »Die Polizei hat zwar ihren Namen feststellen können – sie hieß Cristina Gomez und war siebzehn Jahre alt – aber ansonsten gibt es wohl kaum Hinweise, was mit dem Mädchen passiert sein könnte. Deshalb sollen wir ein Foto von ihr veröffentlichen und nach Zeugen suchen. Wenn jemand sie gesehen hat, soll er sich beim Sheriff des Bezirks melden.«
Sie schob Tess ein Blatt Papier zu. Darauf war das Gesicht eines Mädchens zu sehen. Sie hatte die Augen geschlossen und die Haut hatte eine unnatürliche Farbe. Tess bekam beim Anblick der Toten eine Gänsehaut. Sofort kam die Erinnerung an die Bilder aus Joannas Mordakte ihr wieder in den Sinn, doch sie versuchte, sie so gut wie möglich zu verdrängen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf das Foto, das vor ihr lag.
Das Mädchen war hübsch gewesen, auch wenn das merkwürdig geschnittene Haar – eine Seite kurz und rot, die andere schwarz und lang – einen fast schon absurden Kontrast zu den ebenmäßigen Gesichtszügen bildete. Tess war sich sicher, dieses Gesicht noch nie vorher gesehen zu haben. Sie schüttelte den Kopf und gab Mrs Pretzky das Blatt Papier zurück. »Ich kenne sie nicht«, sagte sie knapp.
Die alte Frau nickte, dann schob sie ein weiteres Blatt in Tess` Richtung.
»Das war leider noch nicht alles«, berichtete sie weiter. Die Polizei hat die Umgebung des Fundortes abgesucht. Und dabei haben sie noch eine Leiche gefunden.« Ihr Ton klang beiläufig, aber an ihren zitternden Fingern erkannte Tess, dass die Neuigkeiten sie nicht kaltgelassen hatten.
Tess nahm das Papier und betrachtete es. Dann runzelte sie die Stirn. Auf dem Blatt, das sie in den Händen hielt, waren nur die Fotos von ein paar Gegenständen abgebildet, aber kein Gesicht.
Mrs Pretzky bemerkte ihre Verwunderung und fuhr mit ihrer Erklärung fort: »Die Leiche hat wohl schon etwas länger da gelegen, deshalb war nicht mehr allzu viel von ihr übrig. Die Fotos sind von den persönlichen Gegenständen, die sie bei sich hatte. Vielleicht erkennt jemand etwas davon und kann einen Hinweis geben, wer die Tote sein könnte.«
Tess nickte und betrachtete die Bilder. Viel war es nicht. Ein Lippenstift von einer eher billigen Marke, eine ziemlich vermoderte Ledertasche mit geflochtenem Riemen, ein Paar Turnschuhe, deren Farbe kaum noch zu erkennen war und eine rote Plastikhaarbürste. Es waren alles Allerweltssachen, die nicht weiter auffielen. Tess bezweifelte, dass jemand etwas davon wiedererkennen würde.
Als ihr Blick allerdings auf das letzte Foto rechts unten in der Ecke fiel, stockte ihr der Atem. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild.
Es zeigte ein zierliches Armband aus schwarz angelaufenem Silber, an dem kleine Kügelchen und in Sternform geschliffene Türkise hingen. Tess hatte das Gefühl, ihre Beine könnten jeden Moment unter ihr wegsacken. Krampfhaft hielt sie sich mit einer Hand an der Tischplatte fest.
»Was ist denn, Tess?« Mrs Pretzky legte ihr sanft die Hand auf den Arm. Ihr faltiges Gesicht drückte echte Besorgnis aus »Geht es dir nicht gut?«
»Oh mein Gott«, flüsterte Tess tonlos. »Es ist Millie. Sie haben Millie Walls gefunden.«