39. Kapitel

 

»Es bleibt dabei. Ich will nicht, dass sie noch einmal in unseren Laden kommt. Ich will sie einfach nicht mehr sehen«, beharrte Wendy Miller und starrte geistesabwesend aus dem Fenster ihres Schlafzimmers in die Dunkelheit.

Frank Miller verdrehte die Augen. Seine Frau war schon immer ausgesprochen stur gewesen, aber in letzter Zeit grenzte ihr Verhalten an krankhaften Altersstarrsinn.

Als sie von ihrer Aushilfe gehört hatte, dass Tess Hennessey heute in ihrem Laden Lebensmittel eingekauft hatte, war sie vor Wut schnaubend die Treppe zu ihrer Privatwohnung hochgerannt und hatte sich im Schlafzimmer verbarrikadiert. Erst nach einem Überzeugungsmarathon von Frank, der mehr als zwei Stunden gedauert hatte, war sie bereit gewesen, wenigstens die Tür zu öffnen. Sie schmollte aber immer noch.

»Wendy, jetzt beruhige dich doch erst einmal«, versuchte er sie zu besänftigen. »Das Mädchen hat uns doch gar nichts getan. Ich bin davon überzeugt, dass sie selbst auch immer noch sehr unter Joannas Tod leidet. Denk mal dran, wie jung sie noch war, als sie das alles erlebt hat.«

»Das ist mir egal«, erwiderte Wendy trotzig.

Frank seufzte. »Aber was soll sie denn machen?«, wandte er ein. »Du weißt genau, dass unser Laden die einzige Möglichkeit in Shadow Lake ist, sich mit Essen und Getränken zu versorgen. Soll sie etwa zum Einkaufen immer nach Medford fahren?«

Wendy drehte sich zu ihrem Mann um. Zwischen ihren Augen hatte sich eine tiefe Zornesfalte gebildet. »Das ist nicht mein Problem, ihre Tante hat das ja schließlich auch immer gemacht«, schnauzte sie ihn an. »Außerdem redest du immer nur von dem Mädchen. Interessiert es dich denn gar nicht mehr, wie es mir dabei geht?«

Frank ging zu seiner Frau und strich ihr besänftigend mit dem Finger über die Wange. »Natürlich tut es das, und das weißt du auch. Du bist doch das Wichtigste für mich auf der Welt«, sagte er liebevoll. »Trotzdem glaube ich, dass du Tess Unrecht getan hast, als du sie neulich im Laden so schlecht behandelt hast.«

Wendy hatte ihren Mann dankbar angelächelt, aber bei seinem letzten Satz veränderte sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig. Entschlossen presste sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

»Nein«, stieß sie hervor. »Ich habe mit Sicherheit keinen Fehler gemacht. Und ich bin auch nicht davon überzeugt, dass sie wirklich das Unschuldslamm ist, das sie uns allen immer vorgespielt hat. Irgendjemand muss Jared Hennessey nach dem Mord geholfen haben, aus Shadow Lake zu verschwinden. Woher willst du wissen, dass sie das nicht war? Die beiden waren immerhin wie Geschwister.«

Frank schüttelte resigniert den Kopf. Wenn Wendy sich in diesem Zustand befand, hatte es überhaupt keinen Sinn, mit ihr zu streiten. Es war völlig egal, wie sehr er versuchte, sie zu überzeugen, und welches Argument er noch vorbrachte. Wendy würde alles abblocken.

»Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen«, seufzte er erschöpft. »Es war ein langer, harter Tag für uns alle.«

Nachdem sie ins Bett gegangen waren und er das Licht gelöscht hatte, dauerte es fast eine halbe Stunde, bis er davon überzeugt war, dass seine Frau fest schlief. Angestrengt lauschte er auf ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge.

Als er sicher war, dass sie nicht mehr so schnell aufwachen würde, schlug er die Decke zu Seite und huschte aus dem Schlafzimmer. So leise wie möglich schloss er die Tür hinter sich.

Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil Wendy Tess so ungerecht behandelt hatte. In der Zeit seit ihrem Streit hatte er überlegt, wie er es wenigstens zum Teil wieder gutmachen könnte und einen Entschluss gefasst. Er wollte Tess als Entschuldigung und als Zeichen des guten Willens ein paar Erinnerungsstücke von Joanna schenken.

Er machte kein Licht im Flur an. Das Mondlicht, das durch das kleine Dachfenster fiel, war für sein Vorhaben völlig ausreichend.

Leise öffnete Frank die Tür zu Joannas Zimmer. Wie immer, wenn er diesen Raum betrat, spürte er eine tiefe, lähmende Trauer in sich aufsteigen.

Er schaltete das Licht ein. Weder er noch Wendy hatten in dem Zimmer etwas verändert, seit Joanna nicht mehr bei ihnen war. Weiß lackierte Möbel, freundliche Tapeten und Vorhänge mit Blumenmuster erinnerten daran, dass er sich in einem Mädchenzimmer befand. Seine Füße machten auf dem dicken, altrosafarbenen Teppich kein Geräusch.

Unschlüssig sah er sich um. Was konnte er Tess schenken? Es musste etwas ganz Persönliches sein, etwas, das für Joanna von Bedeutung gewesen war. Andererseits sollte es keinen hohen materiellen Wert besitzen. Das Geschenk sollte eine Geste sein, nicht mehr und nicht weniger.

Er griff nach einem Plüschtier, ein schon recht abgewetzt wirkendes Schaf, dem ein Auge fehlte. Joanna hatte dieses Schaf von klein auf geliebt und ständig mit sich herumgetragen. Dann jedoch hielt er inne und setzte das Kuscheltier kopfschüttelnd auf das Regalbrett zurück, von dem er es geholt hatte. Das war doch ein wenig zu persönlich. Außerdem wollte er sich gar nicht vorstellen, was Wendy sagen würde, wenn sie das Fehlen des Schafs entdeckte.

Nein, er musste etwas anderes finden. Vielleicht etwas, das aus dem letzten Schuljahr stammte.

Plötzlich fiel sein Blick auf ein Kästchen, das in dem schmalen Fach unter der Platte von Joannas Schreibtisch stand. Ein Onkel von Joanna hatte es von einer Geschäftsreise aus Marokko mitgebracht. Es bestand aus dunklem Holz, und der Deckel war mit einem Mosaik aus bunten Plättchen verziert.

Vorsichtig zog Frank es aus dem Fach und klappte es auf. Wie er gedacht hatte, enthielt es ein Sammelsurium an Erinnerungsstücken: Kinokarten, den Flyer eines Freizeitparks, Buttons von der Schülersprecherwahl im letzten Jahr der Highschool, die Eintrittskarte zu einem Baseballspiel, das sie mit Tess besucht hatte.

Frank lächelte zufrieden und klappte den Deckel wieder zu. Das war genau das Richtige! Er hoffte, dass Tess das Kästchen als Entschuldigung annehmen würde. Dabei durfte er sich allerdings nicht von Wendy erwischen lassen. Sie würde einen Riesenaufstand machen und die Sachen zurückfordern, da war er sich sicher.

Er löschte das Licht, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Einer spontanen Eingebung folgend versteckte er das Kästchen auf seiner Seite des Schuhschranks. Hier war die Wahrscheinlichkeit, dass Wendy es entdecken würde, am geringsten. Am nächsten Tag konnte er es dann unauffällig aus der Wohnung schmuggeln.

Mit dem Gefühl, das Richtige zu tun, und einem gleichzeitigen Anflug von Gewissensbissen tappte er zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte zu seiner Frau unter die Bettdecke.

See der Schatten - Kriminalroman
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