14. Kapitel
Zur gleichen Zeit erreichte Ryan MacIntyre Shadow Lake. Alle Flüge direkt nach Medford waren ausgebucht gewesen, weshalb Cathy ihm einen Flug nach Portland gebucht hatte. Den Rest der Strecke hatte er mit dem Auto zurücklegen müssen. Immerhin hatte er so die Gelegenheit bekommen, sich die Landschaft Oregons anzusehen. Sie war kärger, als er erwartet hatte – und als echtem Großstädter kam ihm das dünn besiedelte Gebiet außerhalb Portlands fast wie Niemandsland vor. Selbst Medford, die einzige größere Stadt in der Nähe von Shadow Lake, war nicht viel mehr als ein größer gewordenes Dorf. Noch immer herrschte dort der typische Kleinstadtcharakter vor.
Jetzt hatte er mehr als fünf Stunden Fahrt hinter sich und war froh, endlich in dem kleinen Ort angekommen zu sein. Während er mit seinem Mietwagen die Hauptstraße entlangfuhr, fragte er sich zum wiederholten Mal, warum Susannah hierher gekommen war.
Shadow Lake war ein für diese Region charakteristisches, verschlafenes Nest. Die Häuser waren rustikal, aber sehr gepflegt. Sie standen weit auseinander. Die großen Grundstücke dazwischen zeigten, dass Land in dieser Gegend nicht viel kostete. In den Gärten blühten bunte Blumen neben rechtwinklig angelegten Gemüsebeeten. Rechts und links der Hauptstraße lagen die üblichen Geschäfte: ein kleiner Lebensmittelladen, einer für Anglerbedarf, eine Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt, ein Friseursalon. Alles wirkte sehr nett – und sehr spießig. Es war überhaupt kein Ort, an dem Susannah sich hätte wohlfühlen können, da war er sich absolut sicher. Was also hatte sie hier gewollt?
Noch immer quälten Ryan Gewissensbisse. Er dachte an die Wochen vor Susannahs Tod. Warum hatte er nicht mehr Zeit für seine kleine Schwester gehabt, als sie nach Oregon gezogen war? Es wäre überhaupt kein Problem für ihn gewesen, sie wenigstens ab und zu anzurufen oder einen Kurzbesuch über das Wochenende zu organisieren. Wenn er sich mehr um sie gekümmert hätte, wäre ihm vielleicht rechtzeitig aufgefallen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Aber stattdessen hatte er seine ganze Energie in seinen Beruf gesteckt. Bauzeichnungen und Kundenbesuche waren ihm wichtiger gewesen als die eigene Familie. Viel mehr als kurze, oberflächliche E-Mails hatte er für Susannah nicht übrig gehabt. Er verzog verbittert das Gesicht.
Außerdem warf er sich vor, dass er nach Susannahs Tod ihre Leiche einfach nach Boston hatte überführen lassen, anstatt selbst nach Shadow Lake zu kommen. Sicher, er war durch die Nachricht vom Selbstmord seiner Schwester geschockt gewesen – und völlig überrascht. Von Anfang an hatte er das Gefühl gehabt, dass da irgendetwas nicht zusammenpasste. Susannah hatte eine sehr stabile Persönlichkeit gehabt, es musste schon etwas wirklich Gravierendes passiert sein, das sie so aus der Bahn geworfen hatte. Aber er hatte die Ergebnisse der Ermittlungen einfach akzeptiert. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass es sich nicht um einen Selbstmord handeln könnte. Erst jetzt hatte er leise Zweifel. Durch Susannahs Brief, den er in der Wohnung seiner Mutter gefunden hatte, war der vage Verdacht in ihm geweckt worden, dass irgendetwas nicht stimmte. Hätte er sofort auf sein Gefühl gehört und wäre direkt nach ihrem Tod hergeflogen, hätte er alle Fragen sofort klären können.
Entschlossen umklammerte Ryan das Lenkrad seines Mietwagens. Diesmal würde er sich erst zufriedengeben, wenn alle Unstimmigkeiten aus dem Weg geräumt wären, schwor er sich.
In diesem Moment kam das Lakeview Inn in Sicht. Anscheinend war es das einzige Hotel im Ort, zumindest hatte Ryan im Internet kein anderes gefunden. Hoffentlich hatten sie noch ein Zimmer frei. Vor seiner übereilten Abreise war er nicht mehr dazu gekommen, eines reservieren zu lassen.
Er fuhr auf den Parkplatz. Nur ein einzelnes Auto war dort abgestellt. Auch rund um das kleine Hotel wirkte alles wie ausgestorben. Der Mai war wohl nicht unbedingt der bevorzugte Monat, in dem sich viele Touristen nach Shadow Lake verirrten. Ryan bezweifelte allerdings, dass es überhaupt eine Jahreszeit gab, zu der in dem kleinen Ort etwas los war.
Er stieg aus, öffnete den Kofferraum und nahm seinen Koffer heraus. Er ließ den Blick schweifen. Das Hotel war schon in die Jahre gekommen und sah nicht besonders einladend aus. Die Holzverkleidung war nicht gestrichen und wirkte schäbig. Die Blumen in den großen Pflanzkübeln aus Beton, die zu beiden Seiten der Einfahrt zum Parkplatz standen, brauchten dringend Wasser. Sie ließen schon die Köpfe hängen. Dagegen wucherte das Unkraut zwischen ihnen um so mehr. Ryan hoffte, dass es im Inneren des Hotels gepflegter aussah.
»Naja, für zwei oder drei Nächte wird es schon gehen«, murmelte er, während er auf den Eingang zusteuerte.
Der Gastraum des Restaurants war gleichzeitig die Rezeption für die Hotelgäste. Momentan herrschte an den Tischen gähnende Leere, kein einziger Gast war zu sehen. Hinter einem langen Tresen aus dunklem Holz stand ein Mann mit grauen Locken und einer Brille mit kreisrunden Gläsern und polierte Gläser. Er nickte Ryan zur Begrüßung zu. Vor ihm stand ein Messingschild, auf dem der Name Hank Friday eingraviert war. Auf dem Tresen der Bar wirkte es seltsam deplatziert.
»Was darf`s denn sein?«, erkundigte er sich freundlich, allerdings ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
»Ich brauche ein Zimmer für zwei oder drei Nächte, vielleicht auch länger«, gab Ryan zurück. »Haben Sie eines frei?«
»Sicher. Sie können sich eins aussuchen. Nur die Präsidentensuite ist belegt.« Hank lachte gackernd über seinen eigenen Scherz. »Möchten Sie die Zimmer sehen?«
Ryan schüttelte den Kopf. Es gab kein anderes Hotel in der Nähe, also würde er mit dem Zimmer hier auskommen müssen, egal wie es aussah. Außerdem machte das Lakeview Inn von innen doch einen etwas besseren Eindruck als von außen, was ihn in gewisser Weise beruhigte.
Er nahm das auf ein Klemmbrett geheftete Formular entgegen, das Hank ihm reichte, füllte es mit dem daran befestigten Kugelschreiber aus und schob es dem Rezeptionisten über den Tresen zurück. Als dieser den Namen des neuen Hotelgastes las, schnellten seine Augenbrauen in die Höhe. Durch die runden Brillengläser warf er ihm einen prüfenden Blick zu. Er schien mit sich zu kämpfen, ob er nachfragen sollte oder nicht, sagte aber nichts.
Ryan kam ihm nicht zu Hilfe. Ihm war klar, was Hank beschäftigte. Susannahs Selbstmord musste in einem kleinen Kaff wie Shadow Lake hohe Wellen geschlagen haben und ihr Nachname MacIntyre war sicher noch allen geläufig. Aber Ryan hatte nicht vor, jedem unter die Nase zu reiben, wer er war und warum er hergekommen war. Er würde erst dann etwas preisgeben, wenn er es für richtig hielt, zumindest solange ihn keiner direkt danach fragte.
Er gab Hank die Kreditkarte und nahm den Zimmerschlüssel in Empfang. »Nummer vier, die Treppe hoch und dann den Gang durch bis zur letzten Tür auf der rechten Seite«, wies ihn der Rezeptionist an, und wünschte ihm einen angenehmen Aufenthalt.
Nachdem Ryan seine Sachen ins Zimmer gebracht und das Fenster so weit wie möglich geöffnet hatte – obwohl er ausdrücklich ein Nichtraucherzimmer verlangt hatte, stank der Raum nach altem Zigarettenqualm – machte er sich auf den Weg zum Büro des Sheriffs. Auf der Fahrt zum Hotel hatte er gesehen, dass das Sheriffbüro ziemlich genau in der Mitte des Ortes lag. Und da schönes Frühlingswetter mit strahlendem Sonnenschein herrschte, beschloss er, zu Fuß zu gehen und sich dabei gleich einen Überblick über Shadow Lake zu verschaffen.
Jetzt um die Mittagszeit war der kleine Ort wie ausgestorben. Sowohl der Lebensmittelladen als auch der Friseursalon hatten Mittagspause. Das Geschäft für Anglerbedarf hatte einem Aushang zufolge sogar die ganze Woche geschlossen. Auf der Straße waren weder Menschen noch fahrende Autos zu sehen. Ryan fragte sich, was die Bewohner von Shadow Lake tagsüber so trieben, dass man keinen von ihnen zu Gesicht bekam.
Als er an Susannah dachte, konnte er sich ein gequältes Grinsen nicht verkneifen. Shadow Lake war bestimmt kein Ort für sie gewesen. Wenn man schon mitten am Tag niemanden auf der Straße sah, wie musste es dann erst nachts aussehen? Hier wurden die Bürgersteige abends wahrscheinlich nicht nur hochgeklappt, sondern wie eine Zugbrücke hochgezogen.
Als er das Büro des Sheriffs erreichte, blieb er staunend stehen. Er fragte sich, wie sich ein so winziges Kaff eine so große und komfortable Polizeistation leisten konnte. Das offensichtlich erst vor Kurzem modernisierte Gebäude war in grau und weiß gestrichen und verfügte sogar über eine automatische Glastür.
Beinahe lautlos schoben sich die beiden Glasscheiben auseinander, als er das Büro betrat. Im Inneren schlug ihm auf Gefrierschranktemperatur heruntergekühlte Klimaanlagenluft entgegen. Eine pummelige Frau mit kurzen blondierten Haaren und einer markanten Hakennase blickte ihn fragend an. »Ja, bitte?«
»Mein Name ist Ryan MacIntyre«, stellte Ryan sich vor. »Ich würde gern mit dem Sheriff sprechen.«
Die Frau antwortete nicht, aber das leichte Zusammenzucken bei seinem Namen war ihm nicht entgangen. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, stand sie auf, ging in eines der angrenzenden Zimmer und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Leises Stimmengemurmel war daraufhin zu hören, aber leider konnte Ryan kein Wort von dem verstehen, was drinnen gesprochen wurde. Dann öffnete sich die Tür wieder, und hinter der Frau, die wortlos an ihren Platz zurückkehrte, kam der Sheriff von Shadow Lake aus dem Raum. Er war ein recht gut aussehender Mann, vielleicht Mitte vierzig. Sein muskulöser Körper deutete auf regelmäßiges Krafttraining hin. Während er auf Ryan zuging, fuhr er sich mit den Fingern durch die langsam schütter werdenden Haare und zog sich dann mit beiden Händen die Hose seiner khakifarbenen Uniform seitlich am Bund hoch.
»Hallo, Mr MacIntyre. Ich bin Dan Marcks, Sheriff von Shadow Lake und Umgebung. Was kann ich für Sie tun?«
Ryan ergriff die ausgestreckte Hand des Sheriffs und erwiderte dessen festen Händedruck. »Hallo, Sheriff Marcks. Ich bin wegen des Selbstmords von Susannah MacIntyre hier. Sie war meine Schwester. Letztes Jahr haben wir ihretwegen ein paar Mal telefoniert. Vielleicht erinnern Sie sich.«
»Sicher, sicher.« Marcks setzte einen unglücklichen Gesichtsausdruck auf und kratzte sich an der Stirn. »War wirklich `ne unschöne Sache. Zum Glück haben wir so etwas nicht häufiger«, meinte er nachdenklich. Dann wandte er sich wieder direkt an Ryan. »Aber eigentlich war doch alles geklärt. Oder gibt es dazu noch Fragen?«
»Das weiß ich selbst nicht so genau«, erklärte Ryan ausweichend. »Es ist so, dass ich vor ein paar Tagen beim Ausräumen der Wohnung meiner Mutter einen Brief von Susannah gefunden habe, der so überhaupt nicht zu dem passt, was wir bisher angenommen haben. Ich bin immer davon ausgegangen, Susannah wäre in Oregon einsam und unglücklich gewesen. Aber anscheinend lag ich damit falsch.«
Er legte Susannahs Brief aufgefaltet vor dem Sheriff auf den Schreibtisch. »Sie hat ihn am 16. Oktober geschrieben, also genau an dem Tag, an dem sie starb.«
Während Marcks den Brief durchlas, beobachtete Ryan ihn genau, aber der Sheriff verzog keine Miene. Flink wanderten seine Augen hin und her. Als er fertig war, faltete er das Papier wieder zusammen und gab es Ryan ohne einen Kommentar zurück.
»Meinen Sie, so einen Brief schreibt jemand, der seinem Leben ein Ende setzen will?«, hakte Ryan nach. »Für mich klingt das nach einem ganz normalen Mädchen, das ganz normale Dinge tut und dabei Spaß am Leben hat.«
Der Sheriff sah ihn stirnrunzelnd an. Dann holte er einmal tief Luft und baute sich in seiner ganzen Größe vor Ryan auf, wobei er die Hände in die Hüften stemmte. »Hören Sie, ich verstehe Sie schon. Für die Angehörigen ist so etwas natürlich immer schwer zu begreifen. Keiner will wahrhaben, dass eine geliebte Person nicht mehr weiterleben wollte. Dazu kommen dann natürlich noch die eigenen Schuldgefühle, weil man nichts gemerkt hat und nicht rechtzeitig eingreifen konnte. Es kann schon sein, dass Ihre Schwester noch gut drauf war, als sie den Brief an Ihre Mutter geschrieben hat. Aber vielleicht ist dann etwas passiert, das sie dazu bewogen hat, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Vielleicht hat ihr Lover sie betrogen oder sonst irgendwas. Und dann kam es zu dieser Kurzschlussreaktion. Das ist bedauerlich, äußerst bedauerlich sogar.« Er zuckte die Achseln. »Aber es kommt nun einmal vor.«
Ryan kniff skeptisch die Augen zusammen. »Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt? Eine Kurzschlussreaktion? Meinen Sie wirklich, Susannah besorgt sich Schlaftabletten, setzt sich ins Auto und fährt mehr als dreißig Meilen in einen Ort, zu dem sie gar keine Verbindung hat, um sich dort umzubringen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch gar keinen Sinn.«
»Selbstmord ergibt für Außenstehende selten einen Sinn.« Der Stimme des Sheriffs war inzwischen deutlich anzuhören, dass er langsam ungeduldig wurde, aber Ryan hatte nicht vor, so schnell nachzugeben.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick in die Ermittlungsakten von damals werfe?«, erkundigte er sich freundlich, aber bestimmt.
Marcks machte eine abwehrende Handbewegung. »Die sind unter Verschluss. Es ist nicht üblich, die Akten an Zivilisten auszuhändigen, auch nicht an die Angehörigen der Betroffenen. Außerdem wurde der Fall zweifelsfrei aufgeklärt und ordnungsgemäß abgeschlossen.«
»Aber gerade dann dürfte es doch kein Problem sein, wenn ich sie mir mal ansehe«, wandte Ryan ein. Als er merkte, dass der Sheriff zögerte, fügte er schnell hinzu: »Oder haben Sie etwas zu verbergen?«
Einen kurzen Moment starrte Marcks ihn feindselig an, während seine Finger an den Gürtelschlaufen seiner Hose zu spielen begannen. Es fiel ihm offensichtlich schwer, ruhig zu bleiben.
Wahrscheinlich kam es nicht häufig vor, dass seine Autorität infrage gestellt wurde, dachte Ryan.
Nach einem längeren Zögern knurrte Marcks: »Ruth, gib Mr MacIntyre die Ermittlungsakten im Fall Susannah MacIntyre. Er gibt ja sonst doch keine Ruhe.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand wieder in seinem Büro. Das Zuknallen der Tür scheiterte an dem modernen, schallschluckenden Dichtungsmaterial.
Die pummelige Frau am Empfang, die das Gespräch die ganze Zeit mit unverhohlenem Interesse verfolgt hatte, fischte mit missbilligender Miene eine braune Mappe aus einem der grauen Büroschränke und reichte sie Ryan. Dabei wies sie mit der Hand auf einen Tisch neben dem Eingang der Polizeistation. »Dort können Sie sich hinsetzen. Aber die Akte muss vollständig bleiben. Sie dürfen auf keinen Fall etwas herausnehmen, klar?«
»Klar.« Ryan nickte und setzte sich auf den unbequemen Besucherstuhl. Während er die Ermittlungsakte über den Tod seiner Schwester durchging, war er sich dessen bewusst, dass er keine Sekunde von Ruth aus den Augen gelassen wurde.
Die Akte war erstaunlich dünn. Allzu viele Ermittlungen schienen also nicht angestellt worden zu sein, dachte Ryan nicht ohne Verbitterung.
Ganz vorn waren Fotos von Susannahs Leiche eingeheftet. Sie zeigten sie aus allen Blickwinkeln und mit sämtlichen Details. Zusammengerollt wie ein Embryo lag sie zwischen Felsen und kleineren Steinen auf einer schmalen Grasfläche. Ihre Augen waren geschlossen. Das feurige Rot ihrer Haare stand in einem krassen Kontrast zu ihrer unnatürlich blassen Haut und den blau angelaufenen Lippen. Ein dünnes Rinnsal Speichel war aus ihrem Mundwinkel gelaufen und zu einer weißen Spur verkrustet. Obwohl es im Oktober sicher nicht besonders warm gewesen war, hatte sie nur ein T-Shirt und keine Jacke getragen. Ihre Hand umklammerte immer noch eine Whiskyflasche, in der sich ein kleiner Rest einer goldfarbenen Flüssigkeit befand.
Immer wieder musste Ryan auf das bleiche Gesicht seiner Schwester starren. Er hatte sie kurz vor der Beerdigung noch einmal gesehen, als er und seine Mutter am offenen Sarg von ihr Abschied genommen hatten, aber da war sie schon vom Bestatter hergerichtet und geschminkt gewesen. Damals hatte sie ausgesehen, als würde sie friedlich schlafen. Er schluckte. Es waren weder ihre Blässe noch die zusammengerollte Körperhaltung, die ihn am heftigsten trafen. Es war der gequälte Ausdruck, der auch nach dem Tod immer noch auf ihrem Gesicht lag. Diesen Anblick würde er wohl nie wieder aus dem Gedächtnis bekommen.
Mit großer Kraftanstrengung zwang er sich, weiterzublättern. Hinter die Fotos war der Bericht des örtlichen Gerichtsmediziners geheftet, der als Todesursache Atemstillstand in Folge einer Überdosis Barbiturate in Verbindung mit Alkohol festgestellt hatte. Die Schlaftabletten waren in der Whiskyflasche aufgelöst gewesen, die bei Susannah gefunden worden war. Der Alkohol hatte die Wirkung des Medikaments demnach noch verstärkt und beschleunigt.
Dann folgte die Zeugenaussage eines gewissen Greg Koborski, der Susannah gefunden hatte. Er hatte zu Protokoll gegeben, dass er am Shadow Lake angeln gehen wollte und dabei auf die Leiche der jungen Frau gestoßen war. Er hatte noch einen Rettungswagen gerufen, aber es war schon zu spät gewesen. Der Arzt hatte festgestellt, dass Susannah bereits seit über einer Stunde tot gewesen sein musste.
Auf den nächsten Seiten waren die Aussagen von Kollegen und Bekannten von Susannah zusammengefasst. Die meisten von ihnen kamen aus Medford, aber es waren auch ein paar darunter, die in Shadow Lake wohnten, aber zusammen mit Susannah in Medford gearbeitet hatten. Ihre Aussagen waren wenig ergiebig. Alle hatten angegeben, Susannah nur oberflächlich zu kennen. An ihrem Verhalten hatten sie nichts Auffälliges beobachtet, und sie hatte ihnen auch nicht erzählt, dass etwas nicht in Ordnung war.
Ryan überlegte einen Moment, dann zog er Stift und Papier aus der Tasche und notierte sich die Namen der Kollegen aus Shadow Lake. Dabei entging ihm nicht, dass Ruth ihm demonstrativ missbilligende Blicke zuwarf. Mit ihren zusammengekniffenen Augen und der Hakennase sah sie aus wie ein angriffslustiger Geier.
Nachdem er den Zettel mit den Namen in seiner Hemdtasche verstaut hatte, blätterte er weiter. Als Nächstes folgte die Kopie von Susannahs Abschiedsbrief, der nur aus wenigen Zeilen bestand. Zum Vergleich nahm Ryan den Brief hervor, den er in der Wohnung seiner Mutter gefunden hatte, und legte ihn daneben. Die Handschrift sah tatsächlich sehr ähnlich aus, auch wenn der Abschiedsbrief insgesamt unordentlicher wirkte.
Plötzlich stutzte Ryan. Er war über die Anrede im Abschiedsbrief gestolpert. Liebe Mum, lieber Dad, hatte Susannah geschrieben. Wie konnte das sein? Ihr Vater war seit mehr als fünf Jahren tot. Das wusste Susannah natürlich. Wollte sie damit einen Hinweis geben, dass sie den Brief nicht freiwillig geschrieben hatte? Oder war sie vielleicht schon so verwirrt gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte? Nachdenklich rieb sich Ryan mit dem Handrücken über die Stirn. Noch einmal las er den Brief Wort für Wort durch:
Liebe Mum, lieber Dad,
es tut mir leid, dass ich Euch das antun muss, aber ich kann einfach nicht mehr. Mein Leben ist so sinnlos. Ich habe das Gefühl, ganz allein zu sein. Bitte seid mir nicht böse.
In Liebe, Susannah.
Ryan fröstelte, und das lag nicht nur an der kühlen Luft im Büro. Er schlug die Seite um. Dahinter war das Gutachten des Sachverständigen geheftet, der bestätigte, dass es sich wirklich um Susannahs Handschrift handelte. Dass der Abschiedsbrief ein unregelmäßigeres Schriftbild aufwies, hatte er auf den seelischen Ausnahmezustand zurückgeführt. Zum Vergleich der Handschriften hatte er Schriftproben herangezogen, die ihm Susannahs Arbeitgeber zur Verfügung gestellt hatte. In dieser Akte Notizen über Ersatzteile für Traktoren zu lesen, erschien Ryan geradezu absurd.
Er blätterte noch die restlichen paar Seiten durch, entdeckte aber nichts, was für ihn noch von Interesse war. Also stand er auf, gab Ruth die Akte mit ein paar gemurmelten Dankesworten zurück und verließ die Polizeistation.
Als er wieder in die warme Luft vor dem Gebäude trat, war er ganz froh, dass Shadow Lake so ein verschlafenes kleines Nest war. Er brauchte eine Weile für sich, um alles zu verdauen, was er gerade gelesen hatte. Da konnte er auf eine Begegnung mit einem neugierigen Einheimischen gern verzichten.