Kapitel

SECHSUNDDREISSIG

Ich besaß den Schuh ungefähr drei Wochen lang. Dann kam meine Kreditkartenabrechnung. Drastische Situationen erfordern drastische Maßnahmen.

»Du kannst dir ja ein Paar kaufen, wenn sie auf den Markt kommen«, tröstete mich Jen.

»Ja, aber keine mit dem Originallogo.« Ich würde den roten Schrägbalken über dem geschwungenen Haken vermissen, das Symbol für etwas, das der Philosoph Max Scheler einmal so ausdrückte: »Der Mensch ist das Tier, das Nein sagen kann.«

Zu einem gewissen Kreditkartenunternehmen, dessen Name sich aus vier Buchstaben zusammensetzt, konnte ich leider nicht Nein sagen. Also riefen wir Antoine an, um sicherzugehen, dass er im Laden war, teilten ihm mit, dass wir ihm etwas Wichtiges zu zeigen hätten, und machten uns über die Brücke zum Festland auf.

»Dr. Jay’s« wurde zeitgleich mit der Hip-Hop-Kultur 1975 in der Bronx gegründet. Der Laden existiert heute noch und hat mittlerweile überall in der Stadt Filialen. Er führt Schuhe, Trainingsanzüge und alles Mögliche andere, das mit Sport zu tun hat und aus Synthetikmaterialien hergestellt wird, die Supplex oder Ultrah heißen – Space-Age-Vokabular, das beim Kunden Bilder von Roboterkurtisanen heraufbeschwören soll. »Hey, Hunter – alles klar, Mann?« Antoine knallte seine Faust auf meine, dann bedachte er Jen mit dem Nicken, womit er vermutlich zum Ausdruck bringen wollte, dass er sich an den Kommentar erinnerte, den sie auf dem Treffen der Fokusgruppe von sich gegeben hatte und den er ziemlich cool gefunden hatte.

Er führte uns durch das fröhliche, mithilfe einer eindrucksvollen Beschallungsanlage noch verstärkte Chaos nach hinten: Kinder, die durch die Gänge flitzten, um Sitz und Tragekomfort ihrer neuen Sneakers zu testen, junge Männer, die Trikots anprobierten, um die perfekte Länge zwischen Hüfte und Knie zu finden, in sämtlichen Regenbogenfarben schillernde reflektierende Teamlogos, die sich auf Shirts an ihren Ständern drehten.

Im Allerheiligsten – dem Lagerraum – angekommen, quetschten wir uns zwischen die hohen Regale, die bis unter die Decke mit nach Größen und Marken sortierten Schuhkartons bestückt waren.

»Wonach riecht’s hier?«, fragte Antoine und schob eine Bibliotheksleiter auf Rollen aus dem Weg.

»Nach Düsentriebwerk«, sagte Jen sachlich und wickelte den Schuh aus dem Papier.

Als er zum Vorschein kam, begannen Antoines Augen zu leuchten. Er nahm ihn behutsam in die Hand, sah ihn sich von allen Seiten an, untersuchte Ösen, Zunge, Schnürsenkel und Sohlenprofil.

Eine Minute später flüsterte er: »Wo habt ihr den her?«

»Er ist ein Bootleg«, sagte Jen. »Alle anderen sind leider zerstört worden – bis auf den hier.«

»Scheiße.«

»Der Klient will das gleiche Modell rausbringen«, sagte ich. »Aber das hier ist das Original.«

Antoine nickte wie in Zeitlupe, ohne auch nur ein einziges Mal den Blick vom Schuh zu lösen. »Das schafft er nicht. Jedenfalls nicht so. Da gibt es zu viele Leute in zu vielen Abteilungen, die alle mitreden wollen. Die werden es garantiert versauen.«

»Und das hier«, ich tippte auf das Anti-Logo, »sieht dann natürlich auch anders aus.«

Er lachte. »Dann zieh ich sie wohl besser nicht auf der Arbeit an.«

»Davon gibt es keine zwei. Nur den hier.«

»Scheiße.«

Ich schluckte. »Die Sache ist die … ich muss ihn verkaufen. Finanzielle Schwierigkeiten, du verstehst.«

Er sah mich an, wartete darauf, dass ein Haken kommen würde.

»Ich muss ihn verkaufen, okay?«, sagte ich.

»Schon klar, dass du ihn nicht freiwillig hergibst. Aber wenn du die Kohle nun mal brauchst …«

»Genau«, sagte ich, wobei ich mich wahrscheinlich wie der Bräutigam bei einer Zwangsheirat anhörte.

»Wie viel?«

»Na ja, weißt du, ich hab da diese Kreditkartenabrechnung am Hals und die beläuft sich ungefähr auf tausend Do…«

»Einverstanden.«

Erst draußen auf der Straße, als ich die Scheine cash in der Hand hielt, wurde mir klar, dass ich auch mehr hätte verlangen können.

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Die Pointe dieser tragischen kleinen Geschichte ist, dass der Klient den Schuh nie auf den Markt brachte. Und es auch nie vorhatte.

Stattdessen guckt er sich jede Saison ein anderes Detail von ihm ab. Es ist wie bei Frankensteins Monster, nur umgekehrt: Der Schuh wird in seine Einzelteile zerlegt und seine herrlichen Organe werden nach und nach in ein Dutzend andere Körper verpflanzt.

Falls ihr immer brav die Pflastersteine zu euren Füßen im Auge behaltet, habt ihr ihn wahrscheinlich schon mal gesehen, allerdings nur in winzigen Details. Er ist einfach zu erkennen, egal ob er in den Sneakers des Klienten oder den Plagiaten steckt: Er ist der Teil eines Schuhs, der euer Gehirn zum Prickeln bringt, der euch einen Moment lang das Gefühl gibt, ihr könntet fliegen. Aber das Gesamtkunstwerk werdet ihr nie in der Hand halten. Es ist in Rauch und Flammen aufgegangen.

Trotzdem kann man dem Klienten nicht vorwerfen, er würde die Bedürfnisse der Konsumenten nicht befriedigen: Gebt uns niemals, was wir wirklich wollen. Schneidet den Traum in kleine Stückchen und verstreut sie wie Asche. Füttert uns mit leeren Versprechungen, verpackt unsere Sehnsüchte und verkauft sie uns als billigen Abklatsch, damit sie sich niemals ganz und gar erfüllen.

Wenigstens Antoine hat für sein Geld etwas bekommen: das unverfälschte Original.

 

Und ich habe Jen bekommen.

Nachdem der Schuh verkauft und endgültig weg war, küssten wir uns durch die Straßen der Bronx – was mich ein bisschen nervös machte, weil wir tausend in viele kleine Scheine gebündelte Dollar in unseren Taschen mit uns herumtrugen (probiert das bei Gelegenheit mal aus – ist ein ziemlich intensives Gefühl) – und kehrten wieder nach Manhattan zurück – was mich ebenfalls ein bisschen nervös machte, weil ich wusste, dass ich einer Kompassnadel folgte, die mich mit untrüglicher Sicherheit mitten ins Chaos hineinführen würde. Jen ist mitreißend, sie ist ein verwöhntes Küken, eine Nervensäge vor dem Herrn und sie bringt meine Synapsen durcheinander, wie es sonst niemand schafft. Aber irgendwie wird alles besser, wenn sie es von innen nach außen stülpt.

Und genau das macht sie meistens.