Kapitel

ZWEIUNDDREISSIG

Mwadi Wickersham lachte.

»Krass, guckt euch ihre Köpfe an. Das Zeug färbt besser als gedacht.«

»Abhauen?«, fragte Futura.

»Bleibt uns wohl nichts anderes übrig«, meinte sie achselzuckend. »Du schnappst dir Mandy, ich mir die beiden Kids. Wir treffen uns in der Fabrik. Das Licht!«

Ein paar Sekunden später erloschen alle Scheinwerfer gleichzeitig und wieder einmal war ich blind wie ein Maulwurf.

»Los, kommt.« Eine starke Hand schloss sich um meinen Arm, zog mich auf die Füße, und ich rannte blindlings dem ratternden Geräusch von Rollerskates auf Beton hinterher, während Mwadi alle unsichtbaren Hindernisse in unserem Weg mühelos beiseiteschob. Hinter uns wurden Schreie und Gepolter laut, als unsere Verfolger durch das Durcheinander von Kulissen und Studiokabeln stolperten. Die Spalter waren kaum sichtbar – eine wieselflinke, schnelle Horde, nur anhand des in der Dunkelheit auf und ab hüpfenden Taschenlampenlichts auszumachen.

Ich hörte Jens schnelle Atemzüge neben mir und tastete nach ihrer Hand. Wir hielten uns aneinander fest, als wir abrupt um eine Ecke gezogen und eine Leiter hinaufgeschoben wurden. Mwadis Skates klapperten hinter uns die Metallsprossen hoch. Wir stürmten die Laufplanke entlang und wurden durch eine hoch oben in der Wand eingelassene Tür geschubst. Vor uns öffnete sich ein langer Flur, der nur spärlich von einer Reihe schmutziger Dachluken erhellt wurde und zu einem Fenster führte, hinter dem die untergehende Sonne rot leuchtete.

Mwadi überholte uns, flitzte auf ihren Rollen voraus und hatte den Notausgang schon geöffnet, bevor wir sie erreicht hatten. Sie zog sich auf die Feuerleiter hinaus, Jen und ich folgten ihr atemlos. Unter unserem vereinten Gewicht klappten die verrosteten Angeln der alten stählernen Konstruktion auf, und die Leiter sank quietschend zu Boden, während wir hinter Mwadi die Stufen aus Gitterrost hinunterkletterten.

Unten angekommen, skatete Mwadi wie vom Teufel verfolgt um die Ecke. Jen und ich sahen uns an.

»Vielleicht wäre das jetzt der richtige Moment, um abzuhauen«, sagte ich.

»Zu deiner Erinnerung: Nichts anderes tun wir gerade.«

»Nein, ich meine, vielleicht sollten wir vor dem Anti-Klienten abhauen.«

»Sie heißen Spalter, Hunter. Hast du denn gar nicht zugehört? Außerdem müssen wir nicht mehr vor ihnen abhauen. Die wollen, dass wir für sie arbeiten.«

»Und wenn wir nicht für sie arbeiten wollen?«

»Als würden wir das nicht wollen.«

Jen drehte sich um und jagte Mwadi hinterher. Mir blieb nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun.

Um die Ecke skatete Mwadi gerade eine Rollstuhlrampe hinauf, die zu der riesigen Schiebetür führte – wir waren einmal um das Gebäude herumgerannt und wieder beim Studioeingang gelandet. Mwadi zog die Tür zu, ließ das massive Vorhängeschloss einrasten, klemmte zur Sicherheit auch noch ihre Taschenlampe zwischen Riegel und Schloss und überließ die hoi aristoi ihrem finsteren Gefängnis.

»Zum Glück ist das ganze Equipment nur gemietet«, sagte sie, während sie die Rampe wieder hinunterglitt. Ihr Blick fiel auf eine leer stehende Limousine, die vor dem Eingang parkte. Der Fahrer war offenbar mit seinem Arbeitgeber im Gebäude. »Hat einer von euch den Führerschein?«

»Nein.«

»Nein.«

Sie schüttelte den Kopf. »Klar, ihr seid ja New Yorker. Ich kann zwar den Motor kurzschließen, aber ich fahre verdammt ungern mit Skates.«

Jen war bereits an der Fahrertür und riss sie auf. »Kann ja nicht so schwer sein, so oft, wie ich schon… « – sie nannte ein Videospiel, das genauso hieß wie das Verbrechen, das wir gerade im Begriff waren zu begehen – »… gespielt hab.«

»Dann zeig mal, was du draufhast, Kleine«, grinste Mwadi.

Derart überstimmt, stieg ich ein.

 

Eine 2003 von der University of Rochester veröffentlichte Studie hat ergeben, dass Jugendliche, die endlose Stunden mit Videospielen verbringen, über eine außergewöhnliche Auge-Hand-Koordination und schnellere Reflexe verfügen. Eltern und Pädagogen äußerten sich über dieses Ergebnis geschockt, entsetzt und sehr skeptisch.

Jeder Teenager, den ich kenne, äußerte sich dazu mit einem schlichten: »Ach nee!«

Jen fuhr uns in halsbrecherischem Tempo durch die leeren Straßen der alten Werft und hinterließ schwarze Reifenspuren auf dem sommerheißen Asphalt. Erst als wir durch das Tor auf die Flushing Street einbogen, nahm sie den Fuß vom Gas und passte sich dem gesetzlich vorgeschriebenen Tempo an.

Ich drehte mich um und schaute durch die Heckscheibe – von Verfolgern keine Spur.

»Wir sind in Sicherheit.«

»Was ist mit den anderen?«, fragte Jen.

»Um die musst du dir keine Sorgen machen«, sagte Mwadi. »Übung macht den Meister.«

»Ihr habt das geübt?« Ich musste es einfach fragen.

»Es war klar, dass wir uns Feinde machen würden. Andere Organisationen halten Brandschutzübungen ab, wir üben für den Fall, dass wir auffliegen. Apropos: Könnt ihr mir sagen, warum wir aufgeflogen sind?«

Es folgte unbehagliches Schweigen.

»Na ja, weißt du, wir haben uns Hilfe von einer Bekannten geholt, um euch zu finden« – ich räusperte mich –, »genauer gesagt, von einem der PooSham-Opfer. Und wie es scheint, hat sie jemanden darauf angesetzt, uns zu folgen, und dann alle ihre Freunde zusammengetrommelt, die wiederum alle ihre Freunde zusammengetrommelt haben.«

»So was Ähnliches hab ich mir schon gedacht.« Mwadi schüttelte den Kopf. »Eigentlich hätte ich euch für cleverer gehalten.«

»Es ist meine Schuld«, sagte Jen.

»Ich bin genauso daran schuld«, hielt ich dagegen.

Jen umklammerte mit weiß hervortretenden Knöcheln das Lenkrad, während sie grimmig entschlossen die Flushing Avenue entlangfuhr. »Aber ich war so bescheuert, Vivienne zu erzählen, was wir vorhaben.«

»Doch nur, damit sie uns hilft«, sagte ich. »Du hattest ja schließlich nicht vor, ihr zu erzählen, was wir herausfinden, oder?«

»Natürlich nicht. Aber ich war diejenige, die alles ausgeplaudert hat. Ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass sie uns reinlegen könnte.«

»Die nächste links«, sagte Mwadi. »Und jetzt haltet mal kurz die Klappe.«

Sie zückte ihr Handy, wählte eine Nummer und sprach schnell und leise mit jemandem, während sie Jen per Handzeichen durch den Verkehr dirigierte. Ich fragte mich, welche Bestrafung uns – jetzt wo wir in Ungnade gefallen waren – am Ende dieses Trips erwarten würde.

Andererseits spürte ich auch eine tiefe innere Befriedigung: Wir hatten endlich Antworten bekommen. Die Puzzleteile hatten sich zu einem Gesamtbild zusammengefügt, das gar nicht so weit entfernt war von unseren Theorien und Paka-Paka-Erkenntnissen: Hinter allem, was passiert war, steckten tatsächlich ein paar abtrünnige Cool Hunter, eine charismatische Innovatorin und eine Bewegung, die das bestehende System ins Wanken bringen wollte. Vielleicht kannten Jen und ich uns wirklich aus.

Es war ein gutes Gefühl zu merken, dass das in meinem Hirn angesammelte scheinbar unnütze Wissen doch einen gewissen Wert hatte, dass meine Fantasiewelt zumindest gelegentlich mit der Realität übereinstimmte. Dass die viele Zeit, die ich damit verbracht hatte, all die Codes um mich herum zu entschlüsseln, nicht komplett vergeudet war.

Gut möglich, dass die Zeichen schon da gewesen waren, bevor Mandy verschwunden war – genauso real und greifbar wie das Kopfsteinpflaster in den Straßen. Die Leute fingen an, sich gegen die ständige Zwangsüberfütterung aufzulehnen, waren reif für die Revolution. Möglicherweise kanalisierten Innovatoren immer nur das, was sowieso schon in der Luft lag. Vielleicht war es eine ganz zwangsläufige Entwicklung, dass eine Gruppe wie die Spalter entstanden war.

Aber ganz egal, was in Zukunft noch passieren würde: Wenigstens war Mandy wohlauf.

Ich lehnte mich ins Polster zurück und schloss erschöpft die Augen. Im Moment gab es nichts weiter zu tun, als darauf zu warten, dass der Wagen dort ankam, wo er ankommen sollte.

 

»Da entlang.« Mwadi klappte ihr Handy zu.

Jen bog ab und steuerte den Wagen vorsichtig durch eine schmale Straße, die so eng war, dass die Limousine die links und rechts gestapelten prall gefüllten Mülltüten streifte. Wir fuhren auf einen schmucklosen Hof, der von baufälligen Gebäuden umgeben war, deren blinde Fenster uns wie seelenlose Augen anzustarren schienen. Vor uns parkte ein Transporter von einer Mietwagenfirma – derselbe, den wir tags zuvor auf der Lispenard Street gesehen hatten.

Zwei Gestalten standen auf der Rampe und warfen achtlos Schuhkartons auf den Boden. Als einige der Schuhe aus den Kartons in den Dreck purzelten, fiel mein Blick auf reflektierende Seitennähte.

Eine dritte Person stand neben dem wachsenden Haufen aus Pappe und Schuhen.

Und übergoss ihn mit Benzin.

»Nein!«, entfuhr es mir.

Die Limousine kam knirschend zum Stehen, eine herumliegende Flasche zersplitterte unter einem der Reifen. Mwadi sprang hinaus und glitt auf ihren Rollen über den müllübersäten Hof, als wäre er eine blank polierte Rollschuhbahn.

Jen und ich rannten zu dem Haufen aus Kartons und Turnschuhen.

»Was habt ihr vor?«

»Wir vernichten sie, so wie wir es mit dem Klienten vereinbart haben«, sagte Mwadi. »Er bekommt den Prototypen und alle notwendigen technischen Daten zur Herstellung. Wäre schließlich ein ziemlich schlechter Deal für ihn, wenn die Originale auf der Straße auftauchen würden, bevor er den Schuh auf den Markt bringen kann.«

»Ihr könnt sie unmöglich verbrennen!«, riefich. »Die müssten in einem Museum ausgestellt werden!«

Mwadi nickte wehmütig. »Müssten sie. Aber dank euch beiden ist unsere Deckung aufgeflogen, und jetzt müssen wir die Sache schnell und leider schmutzig hinter uns bringen.«

Ein entzündetes Streichholz landete auf dem Berg und der Geruch von Benzin stieg uns in die Nase.

»Nein!«, schrie ich.

Eine Hitzewelle zwang uns, zurückzuweichen, und ich konnte nur noch entsetzt zusehen, wie das Feuer sich in Sekundenschnelle ausbreitete. Die Deckel fielen von den Kartons und enthüllten ihren kostbaren Inhalt. Elegante Linien deformierten und krümmten sich inmitten züngelnder Flammen, reflektierende Seitennähte flackerten noch ein paar Sekunden lang in der Feuersbrunst, bevor sie für immer schwarz wurden. Der beißende Gestank von brennendem Kunststoff und Leinen breitete sich aus und trieb mir die Tränen in die Augen.

Jen versuchte, irgendetwas zu rufen, aber ihre Worte gingen in einem Hustenanfall unter.

Das Feuer wurde immer gieriger und sog jeden Kubikzentimeter Luft, den es kriegen konnte, in sein infernalisch loderndes Höllenmaul. Papierfetzen wehten von der in den Himmel steigenden Rauchsäule angezogen, an meinen Füßen vorbei Richtung Scheiterhaufen. Mir wurde ganz schlecht, als mir klar wurde, dass die dicke rußige Wolke über uns praktisch der Schuh war – dessen Schönheit und Einzigartigkeit vor meinen Augen in dem sich kräuselnden schwarzen Rauch verpuffte. Ich atmete den traumhaften Schuh in meine Lungen ein, erstickte fast an ihm.

Mwadi bellte Befehle in ihr Handy, während die letzten Kartons vor meinen Augen von den Flammen verzehrt wurden. Die Hitze zwang mich, noch weiter zurückzuweichen, ohnmächtig musste ich dem Zerstörungswerk zusehen, konnte nichts dagegen ausrichten. Die Schuhe verbrannten … verglühten … zu Asche.