Kapitel

SECHZEHN

»Mmpf«, machte ich erschrocken.

Er murmelte irgendetwas Unverständliches und sein Blick glitt über mich hinweg.

Ich schluckte das Reisbällchen in einem einzigen unzerkauten Klumpen herunter und erstickte fast daran.

Erst als er weiterredete, wurde mir klar, dass er nicht mit mir sprach. An seinem Ohr klemmte ein unauffälliges schwarzes Headset, und seine Augen hatten den typisch abwesenden Ausdruck von Menschen, die im Gehen mit jemandem telefonieren. Sein Blick ging glatt durch mich hindurch.

Mit meinen blonden Haaren und meinem Pinguinanzug war ich für ihn unsichtbar.

Ich drehte mich um und schlenderte ein paar Schritte weiter, während sich die Muskeln in meinem weitgehend leeren Magen langsam entkrampften und nicht länger drohten, das im Ganzen geschluckte Sushibällchen wieder nach oben zu drücken. Ich ging auf das Planetarium zu, versuchte ganz entspannt auszusehen und blieb schließlich vor einem von der Decke baumelnden Modell des Saturns stehen, das etwa so groß war wie ein aufblasbarer Wasserball.

Ich stellte mich so hin, dass mein Kopf hinter dem Planeten verschwand, zählte bis zehn und wartete darauf, dass der Glatzkopf mit fünf fies grinsenden Schlägertypen im Schlepptau anmarschiert kam.

Als er nicht kam, wagte ich einen Blick an den Saturnringen vorbei.

Er stand immer noch an derselben Stelle wie vor ein paar Minuten und sprach in sein Headset. Im Gegensatz zu mir und den anderen Pinguinkostümträgern war er ganz in Schwarz gekleidet, als würde er zum Sicherheitsdienst gehören. Plötzlich hob er den Kopf, ließ aufmerksam den Blick über die Menge schweifen und suchte ganz eindeutig nach jemandem.

Nach mir.

Ich lächelte. Die Tarnung, die Jen sich ausgedacht hatte, funktionierte. Er brachte den Nicht-Hunter nicht mit dem Jungen in Verbindung, der heute Vormittag vor ihm davongelaufen war.

Weil ich mein Glück nicht überstrapazieren wollte, indem ich noch einmal an ihm vorbeiging, sah ich mich um und überlegte, welchen Teil der Partylocation ich als Nächstes erforschen könnte. Vor mir pilgerte ein steter Gästestrom in den weit geöffneten Schlund des Planetariums. Ein Schild verkündete eine Dauervorführung des neuen TV-Werbespots für PooSham. Im Inneren des Planetariums würde es dunkel sein und in der vertrauten Umgebung einer Fokusgruppe würde ich schnell wieder zu meiner gewohnten Coolness zurückfinden. Schließlich war Werbespotsschauen quasi mein täglich Brot.

Ich holte tief Luft, trat hinter dem Planeten hervor und ging entschlossen auf das Planetarium zu. Unterwegs nahm ich mir ein Glas Champagner von einem Tablett, rückte meine Manschettenknöpfe zurecht und fühlte mich sehr geheimagentmäßig.

e9783641060695_i0008.jpg

PooSham entpuppte sich als ein ziemlich bizarres Shampoo.

Aber der Reihe nach. Ich lehnte mich im Dämmerlicht des Planetariums in meinen Sessel zurück und gab mich dem Summen eines Hi-End-Lautsprechersystems hin. Die Sterne über unseren Köpfen schimmerten so kristallklar wie in einer kalten Gebirgsnacht.

Plötzlich tauchte ein helles Rechteck am Nachthimmel auf und ein gigantischer Fernsehschirm schälte sich aus der Dunkelheit.

Der Spot begann wie eine ganz normale Shampoowerbung:

Ein Model steht mit eingeschäumten Haaren unter der Dusche. Dann zieht sie sich an. Die Haare sind inzwischen trocken, schwingen in Zeitlupe hin und her und leuchten in den schönsten Lichtreflexen, die mit Computereffekten zu erzeugen sind (in irgendeinem Studio hatten Leute wie Lexa – die in der Rangordnung allerdings weit unter ihr standen – als Maschinen gearbeitet, die Kaffee in Lichtreflexe umwandeln).

Dann taucht der Typ auf, mit dem das Model verabredet ist. Völlig hin und weg von ihren voluminösen PooSham-Haaren stammelt er: »Du siehst schunderwön aus, schein Matz.« Woraufhin sie dümmlich lächelt und ihre Haare zurückschleudert.

Sie gehen erst ins Theater und anschließend in ein Restaurant, wo der Kellner, der angesichts ihrer Haarpracht ebenfalls total aus dem Häuschen ist, stottert: »Darf ich Sie an Ihren Fisch tühren?« Woraufhin unsere Heldin dümmlich lächelt und ihre Haare zurückschleudert.

Anschließend bestellt ihr immer noch völlig verzückter Freund: »Eine Fizza al Porno und die Wuscheln in Meisweinsoße, bitte.«

Und was tut sie? Genau: Sie dächelt lümmlich und heudert ihre Schlaare zurück.

Der Spot endet mit einer Nahaufnahme der Shampooflasche und einer Stimme aus dem Off: »PooSham – nie war ihr Schaar höner!«

Während das Publikum einen Moment lang leicht benommen dasaß und unterdrückt kicherte, wurde es auf einmal wieder dunkel im Saal. Völlig unvermittelt begann es auf der Leinwand stakkatoartig abwechselnd tiefblau und grellrot zu flackern und mein Hirn mit Farbnadelstichen zu malträtieren. Ich tippte auf einen Softwarefehler in der Elektronik des Projektors.

Das Ganze hörte so plötzlich auf, wie es angefangen hatte, dann leuchteten die Sterne wieder, das Licht ging an, und das Publikum klatschte Beifall.

Als ich blinzelnd aus dem Planetarium stolperte, hatte ich den Glatzkopf, den Anti-Klienten und alles andere völlig vergessen. Die flackernde Leinwand hatte irgendetwas mit meinem Gehirn angestellt.

Ich deponierte mein leeres Champagnerglas auf einem vorbeikommenden Tablett und nahm mir, bevor es weiterziehen konnte, noch einen Orangensaft. Unausgegorene Gedanken schossen mir durch den Kopf, als hätte jemand in meinem Gehirn auf Neustart gedrückt.

Der Orangensaft enthielt sogar noch mehr Rum als der erste, aber es tat gut, das kühle Glas in meiner Hand zu spüren. Ich trank es aus und versuchte das komische Gefühl, das die PooSham-Werbung in mir ausgelöst hatte, abzuschütteln, indem ich in Bewegung blieb.

Irgendetwas nagte an mir und ließ mir keine Ruhe. Wie die meisten Menschen hatte ich einen großen Teil meiner Lebenszeit vor dem Fernseher verbracht und jede Menge Werbespots gesehen. Mittlerweile verdiente ich sogar Geld damit, Werbespots zu beurteilen. Und irgendetwas an dieser PooSham-Werbung war faul. Oberfaul. Es war nicht einmal so sehr die flackernde Leinwand am Ende, die meine geschulten TV-Spot-Sensoren in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Es war etwas anderes.

Der Spot hatte nicht echt ausgesehen.

Kennt ihr Filme, in denen jemand Fernsehen schaut und da läuft gerade eine Show, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, mit einem Moderator, der nur für diesen Film erfunden wurde? Irgendwas daran sieht immer falsch aus. Das liegt daran, dass wir alle Maschinen sind, die Kaffee in Fernseh-Fachwissen umwandeln. Und zwar extrem fundiertes Fachwissen.

Zwei Sekunden nachdem wir den Fernseher angeschaltet haben, können wir mit Sicherheit sagen, ob der Film, der gerade läuft, aus den späten Achtzigern oder von letztem Jahr stammt, ob es sich um einen Krimi, eine Sitcom oder einen TV-Film handelt und ob er von einem der großen Medienkonzerne oder von einem kleinen Regionalsender produziert wurde. All das erkennen wir an winzigen Details wie der Beleuchtung, dem Kamerawinkel und der Qualität des Filmmaterials. Und zwar auf den ersten Blick.

Uns kann man nichts vormachen.

»FooSham ist eine Pälschung«, murmelte ich leise vor mich hin.

Als ich aus dem Augenwinkel die Tür zu einer Herrentoilette sah, bog ich kurzerhand ab und ging hinein. Ich stellte mein leeres Glas auf dem Waschbeckenrand ab und wühlte in meiner Goody Bag, bis ich das Fläschchen PooSham gefunden hatte.

Ich drückte mir etwas von dem Zeug auf den Finger. Es war leuchtend purpurrot, unterschied sich aber im Geruch und in der Konsistenz nicht von den meisten anderen Shampoos. Und als ich es unter laufendem Wasser zwischen den Fingern verrieb, bildete sich sofort ganz normaler, shampooartiger Schaum.

Im Spiegel starrte mir ein offensichtlich wahnsinnig gewordener, wasserstoffblonder Fremder mit aufgerissenen Augen entgegen.

Ich runzelte die Stirn. Entweder waren mir die Ereignisse des Tages so an die Nieren gegangen, dass ich paranoide Anwandlungen hatte, oder Jens Säure war mir tatsächlich ins Gehirn gelaufen. Die Werbekampagne von PooSham war zwar etwas daneben, aber das Produkt war ganz offensichtlich echt. Seufzend wusch ich mir die Hände.

Fünf Minuten lang.

Sie blieben purpurrot.

 

PooSham war ein Fake. Hinter der harmlosen Shampoo-Fassade verbarg sich ein extrem starkes Färbemittel. Diese ganze Party war ein Komplott, um reichen Menschen einen purpurroten Denkzettel zu verpassen.

»Aber wozu?«, fragte ich den wasserstoffblonden Fremden im Spiegel, während ich mir die purpurroten Hände abtrocknete. Diesmal hatte ich die Silben nicht durcheinandergewürfelt, anscheinend hatte mich das starke Neonlicht aus meiner Benommenheit gerissen. Aber meine Hände zitterten vor Hunger, und ich spürte, wie der Rum und der Champagner in meinen Hirnwindungen schwappten.

Ich brauchte dringend etwas zu essen.

Weil ich keine Lust hatte, noch mehr unliebsame Überraschungen zu erleben, ließ ich die Goody Bag stehen und steckte nur die Zeitschrift und die kleine Digitalkamera ein. Sie war zwar mit dem PooSham-Logo bedruckt und daher der wahrscheinlichste Kandidat für weitere fiese Tricks, aber ich konnte sie unmöglich zurücklassen. Hallo? Kostenlose Mini-Digitalkamera!

Bevor ich mich wieder ins Getümmel stürzte, zog ich mein Handy aus der Tasche und rief Jen an, bekam aber wieder nur ihre Mailbox dran. Wo steckte sie bloß? Ich wollte ihr unbedingt von dem gefakten Shampoo und dem gefakten Werbespot erzählen, hören, ob sie in der Zwischenzeit etwas Neues herausgefunden hatte und sie vor dem Glatzkopf warnen.

Aber vor allem wollte ich sie fragen, warum der Anti-Klient ein Interesse daran haben sollte, andere Leute purpurrot einzufärben?

Ich steckte das Handy wieder ein und ging nach draußen. Da meine purpurroten Hände natürlich nicht so gut zur Pinguinverkleidung passten, versteckte ich sie in den Hosentaschen und versuchte, lässig und entspannt auszusehen und nicht wie jemand, der heute schon zum zweiten Mal mit Färbemittel in Kontakt gekommen war.

Ein Tablett wurde vorbeigetragen, diesmal mit winzigen Doppeldecker-Lachssandwiches. Ich folgte ihm in Richtung des Saals mit den afrikanischen Säugetieren und fragte mich, wie ich mir eines davon nehmen sollte, ohne die Aufmerksamkeit auf meine Hände zu ziehen.

Der Glatzkopf stand im Durchgang zwischen den beiden Sälen, genau an der Stelle, an der ich ihn zurückgelassen hatte, und schwafelte immer noch in sein Headset. Ich straffte die Schultern und vertraute darauf, mich in meiner Verkleidung auch diesmal unerkannt an ihm vorbeimogeln zu können.

Allerdings musste der Kellner in dem Durchgang stehen bleiben, weil er plötzlich von einem Mob hungriger Gäste umzingelt war, die sich gierig auf die Sandwiches stürzten. Leicht betrunken und völlig ausgehungert fletschte ich die Zähne und beschloss, es zu riskieren. Meine Neurotransmitter verlangten dringend nach Nahrung.

Ich streckte die Hand aus, griff mir blitzschnell ein Sandwich und schob es mir halb in den Mund. Wie schon die Reisbällchen zuvor war es total versalzen, aber ich kaute hungrig und drehte dem Glatzkopf dabei den Rücken zu.

Niemand achtete auf mich — meine Handrücken waren zum Glück nicht ganz so rot wie die Handinnenflächen –, also wagte ich es, mir noch ein Sandwich zu nehmen, bevor ich mich aus der Gefahrenzone wegbewegte.

Als ich mich in der Gruppe der Lachssandwichesser umsah, fiel mir auf, dass jeder von ihnen einen Drink in der Hand hielt. Eine Frau rammte ein Schnapsglas voll Rum in die Luft und lallte auf PooShamesisch: »Ich trink auf solchen Kesten ja am liebsten Furze.« Die Freunde, die sie umringten, kreischten vor Lachen.

Kein Wunder, dass die Gäste langsam betrunken wurden. Das salzige Essen ließ ihnen ja gar keine andere Wahl, als ständig nach dem nächsten Glas zu greifen. Und an Nachschub mangelte es wahrlich nicht, überall wurde freigiebig Noble Savage ausgeschenkt.

Während ich mein Sandwich inhalierte und zusah, wie nach und nach alle ihre Gratiskameras zückten und wild kichernd durch die Gegend knipsten, fiel mir auf, dass die PooSham-Kameras mehrmals kurz aufblinkten, bevor der Blitz ausgelöst wurde, wahrscheinlich damit sich die Pupillen zusammenzogen und keiner der Fotografierten auf den Bildern satanisch rote Augen bekam. Aber etwas an dem Blinken war anders als sonst. Es blinkte abwechselnd blau und rot, genau wie vorhin auf der Leinwand nach der Vorführung des PooSham-Spots, und hinter meiner Stirn begann es sofort wieder zu pulsieren.

War die ganze Party womöglich eine Falle?

Quatsch. Wahrscheinlich löste meine permanente Unterzuckerung allmählich Wahnvorstellungen in mir aus. Nichts, was mit einem dritten Lachssandwich nicht wieder in den Griff zu kriegen wäre.

Als ich mir gerade eins vom Tablett nahm, stieg mir plötzlich ein wohlvertrauter Duft in die Nase.

»Mom?«, sagte ich leise. Es war eines ihrer Parfüms.

Das Sandwich in der Hand, drehte ich mich um und stand praktisch Nase an Nase mit Vivienne Von-und-Zu.

Sie trat blinzelnd einen Schritt zurück, und nachdem ihr Blick von meiner purpurroten Hand zu meinem plötzlich kreidebleichen Gesicht gewandert war, breitete sich auf ihren Lippen ein erst zögerliches, dann aber immer sicherer werdendes Lächeln des Erkennens aus.

»Hunter?«, murmelte sie mit hochgezogener Braue.

»Sie müssen vich merwechseln«, stammelte ich.