Kapitel
ZWEI
Auf der Coolnessprobe waren neben ein paar unbekannten Gesichtern die üblichen Verdächtigen versammelt. Antoine und Trez, die beide bei Dr. Jay’s, einem Laden für Streetwear in der Bronx, arbeiteten. Hiro Wakata, der sich sein Brett unter den Arm geklemmt und einen Kopfhörer um den Hals hängen hatte, der groß genug war, um von einem dieser Menschen getragen zu werden, die auf dem Rollfeld mit orangen Leuchtstäben Flugzeuge einweisen. Die Silicon-Alley-Crew, angeführt von Lexa Legault, die eine schwarze Nerd-Brille auf- und einen hauchdünnen Laptop mithatte (das Produkt eines bekannten Computerherstellers, der nach einer Obstsorte benannt ist). Außerdem Vivienne de Winter, die sich von der Fifth Avenue in den Slum herüberbequemt hatte, sowie Tina Catalina, auf deren pinkfarbenem T-Shirt ein englischer Spruch stand, der eindeutig von jemanden verfasst worden war, der nur Japanisch sprach. Alles junge, hippe Stadtmenschen wie aus der Kartei einer Castingagentur.
Ich fühlte mich auf den Treffen der Fokusgruppe immer ein bisschen deplatziert. Die meisten Leute meines Alters geben ihre Meinung umsonst preis und freuen sich fast tot, wenn sich überhaupt jemand dafür interessiert, weshalb sie es niemals in den erlauchten Kreis der bezahlten Fokusgruppenteilnehmer schaffen. Dementsprechend waren Jen und ich auch die Jüngsten im Raum. Verglichen mit den anderen fielen wir auch klamottenmäßig extrem auf. Jen trug ihren Innovatorinnen-Look und ich meinen Cool-Hunter-Tarnanzug. Mein labelloses T-Shirt hatte die Farbe von getrocknetem Kaugummi, meine Kordhose war grau wie ein Regentag und der Schirm meiner Basecap (Mets, nicht Yankees) zeigte schnurgerade nach vorn. Wie ein Spion, der sich möglichst unauffällig unter die Menge mischt, oder wie jemand, der sich in seine ausgedientesten Klamotten wirft, um seine Wohnung zu streichen, vermied ich es, mich für die Treffen der Fokusgruppe cool anzuziehen. Man geht ja auch nicht betrunken zu einer Weinprobe.
Antoine knallte mit seinem üblichen Spruch »Hey, Hunter – alles klar, Mann?« seine Faust auf meine, während er Jen abcheckte. Er verzog kurz das Gesicht, als er den Basketball unter ihrem Arm bemerkte, den er offensichtlich für einen zu verkrampften Versuch hielt, Street Cred vorzutäuschen. Als sein Blick auf ihre Schuhe fiel, zog er allerdings respektvoll die Brauen hoch.
»Nicht unschick, die Schnürsenkel.«
»Die hab ich aber zuerst gesehen«, informierte ich ihn.
Ich hatte das Foto schon an Mandy gemailt, aber wenn Antoine sich die Schnürsenkel zu genau ansah, würde sich die Schnürtechnik wie ein hochansteckender Grippevirus in der ganzen Bronx ausbreiten. Das heißt, falls man dort aus irgendeinem Grund nicht immun dagegen war – so genau ließ sich das nämlich nie vorhersagen.
Antoine hob beschwichtigend die Hände und vermied es anschließend, den Blick unterhalb von Jens Waden zu senken.
Ehrenkodex unter Dieben.
Wieder fragte ich mich, warum ich Jen eigentlich mitgenommen hatte. Um sie zu beeindrucken? Viel wahrscheinlicher war, dass sie extrem unbeeindruckt sein würde. Um die anderen zu beeindrucken?
Aber wen interessierte deren Meinung schon? Okay, mal abgesehen von einer Handvoll multimilliardenschwerer Unternehmen und fünf oder sechs Trendmagazinen.
»Oh. Neue Freundin, Hunter?« Auch Vivienne Von-und-Zu unterzog Jen einer eingehenden Musterung, allerdings tat sie es auf eine vollkommen andere Weise – ihre blauen Augen glitten kühl über Jens Outfit. Vivienne selbst trug ein schwarzes Kleid, eine schwarze Handtasche und schwarze Wedges, jedes Teil besaß Vor- und Nachnamen, die als verschlungene Initialen aus Goldblech dezent daran befestigt waren, und stammte wie sie selbst von der Fifth Avenue. Sie ersparte mir die Mühe einer Antwort. »Ach, ich vergaß. Es gab ja gar keine alte.«
»Jedenfalls keine, die so alt gewesen wäre wie du«, sagte Jen wie aus der Pistole geschossen.
Hiro stieß einen Pfiff aus, wirbelte quietschend einmal um die eigene Achse und gab damit das Signal zum Arbeitsbeginn. Ich zog Jen auf die Stuhlreihen am anderen Ende des Konferenzraums zu, mitten hinein in Mandys Schutzzone und außer Reichweite von Viviennes luxusmanikürten Hundert-Dollar-Krallen (pro Hand).
»Hey, Hunter. Schön, dass du’s geschafft hast.« Mandy war von Kopf bis Fuß in rot-weiße Klamotten des Klienten gekleidet, auf denen sein berühmtes geschwungenes Logo prangte. Sie starrte stirnrunzelnd auf ein Schaltbrett mit verschiedenen Knöpfen, dessen raumschiffartige Komplexität sie etwas einzuschüchtern schien.
Als sie versuchsweise einen der Knöpfe drückte, surrten schwarze Vorhänge zu und versperrten den Panoramaausblick vom sechzigsten Stock auf den Central Park. Einen zögernden Fingerdruck später glitten hölzerne Schiebewände zur Seite und enthüllten einen überdimensionierten Fernseher, der wahrscheinlich mehr kostete als ein Van Gogh, aber wesentlich flacher war.
»Hi. Das hier ist Jen.«
»Coole Schnürsenkel«, meinte Mandy, ohne sich die Mühe zu machen, auf Jens Schuhe zu schauen. Ich erhaschte einen Blick auf ihr Brett, auf dem ein Ausdruck des Fotos klemmte, das ich ihr gemailt hatte – die innovative Schnürtechnik stand also kurz davor, demnächst in Massenproduktion zu gehen. Während ich Jen eilig zu den Stühlen zog, flüsterte ich: »Sie findet dich gut.«
»Und ich finde alles ziemlich seltsam hier.«
»Was du nicht sagst.«
Vivienne Von-und-Zu, die kürzlich die große Zwei mit der Null dahinter erreicht hatte, schaffte es, den Mund zu halten, als das Licht langsam ausging.
Der Spot spielte in der üblichen Fantasiewelt des Klienten. Es war später Abend, es regnete, alles war von schimmernder Nässe überzogen, und in sämtlichen Metalloberflächen spiegelten sich blaue Lichtreflexe. In schnellen Schnitten wurden zum Beat eines von einem deutschen DJ geremixten Songs, der älter war als Vivienne, drei extrem gut aussehende, die Kleidung des Klienten tragende junge Menschen gezeigt, die offensichtlich in den Feierabend starteten. Selbstverständlich war dem Zuschauer sofort klar, dass sie alle unglaublich coole Jobs hatten. Einer der Typen raste auf einem chromblitzenden Motorrad davon, der andere trat in die Pedale eines Rennrads mit mindestens fünfzig Gängen und die Frau joggte in ihren Laufschuhen durch Pfützen, in denen sich »DON’T WALK«-Zeichen spiegelten.
»Okay, verstehe. Nicht gehen. Rennen!«, flüsterte Jen.
Ich kicherte. Die Sprache des Klienten bestand zwar nur aus ungefähr zwölf Wörtern, aber die beherrschte dafür jeder fließend.
Die drei gut aussehenden jungen Erfolgsmenschen strebten, aus unterschiedlichen Richtungen kommend, alle dieselbe coole Bar an, die aussah wie eine Mischung aus einer Fabrik für Plüschsofas und einem Operationssaal. Sie bestellten bernsteinfarbenes Bier in Gläsern ohne Markenaufdruck und strahlten vor Begeisterung darüber, sich hier getroffen zu haben. Auf ihrer dynamischen Reise durch die Fantasiewelt hatten sie sichtlich Energie und Lebensfreude getankt.
»Bewegung macht Spaß«, flüsterte ich.
»Spaß ist gut.« Jen nickte.
Der Spot kam zu einem fulminanten Ende, als unsere drei Helden ihr Bier unberührt stehen ließen und spontan beschlossen, wieder rauszugehen, weil sie erkannten, dass sie viel mehr Lust hatten, sich gemeinsam weiterzubewegen. Ich fragte mich nur, wie sie das machen wollten – würde die Frau neben dem Motorrad und dem Fahrrad herjoggen oder was? Egal.
Das Licht ging wieder an.
»Also?« Mandy breitete die Arme aus. »Was halten wir von ›Don’t Walk‹?«
Ja, ihr habt richtig gelesen. Werbespots bekommen tatsächlich richtige Titel, als wären sie kleine Kinofilme. Allerdings kennen diese Titel nur diejenigen, die sie drehen, und Leute wie ich.
»Das Motorrad passt«, sagte Tina Catalina. »Japanische Straßenmaschinen sind wieder angesagt.«
Mandy sah Hiro Wakata, den Meister aller fahrbaren Untersätze, fragend an. Als er nickte, hakte sie zufrieden ein Kästchen auf ihrem Klemmbrett ab. Ich hatte geglaubt, amerikanische Maschinen wären angesagt, aber die Motorradgurus hatten offensichtlich anders entschieden.
»Der Track ist ziemlich steil«, fand Lexa Legault, was von den übrigen Cyber-Geeks mit einem Nicken bestätigt wurde. Der deutsche DJ hatte ihr Okay.
»Die Schuhe gehn auch klar«, sagte Trez in die darauf folgende kurze Stille hinein. Er und Antoine hatten sie mit Sicherheit schon vor Monaten abgenickt. Schuhe, die es in der Bronx nicht schafften, wurden nach Sibirien, nach New Jersey oder in eine ähnlich abgelegene Gegend verschickt.
Abgesehen davon ging es bei dieser Coolnessprobe aber gar nicht um die Schuhe, sondern darum, ob die vielen kleinen Elemente der Fantasiewelt in sich stimmig waren.
»War das in der Schlussszene etwa das ›Plastique‹?«, fragte Vivienne Von-und-Zu mit gerümpfter Nase. »Der Laden hat nämlich schon im April sein Verfallsdatum erreicht.«
Mandy warf einen Blick auf ihr Klemmbrett. »Nein, das war ein Club in London.«
Vivienne kniff die Lippen zusammen. Der Klient war gewitzt genug, die Straßenszenen in New York zu drehen und die Innenszenen in einer ganz anderen Trendmetropole. Es durfte auf keinen Fall zu viel Realität in die Fantasiewelt einsickern. Die Wirklichkeit altert zu schnell.
»Dann hat uns der Spot also gefallen?«, fragte Mandy in die Runde. »Oder hat sich für euch irgendwas falsch angefühlt?«
Sie sah sich erwartungsvoll um. Cooles zu entdecken, war nur die eine Hälfte unseres Jobs. Der wichtigere Teil bestand darin, Uncooles aufzuspüren, bevor es schlimme Folgen haben konnte. In der Beziehung ähnelte der Klient einem Rennfahrer, der lieber mal eine Runde nicht der Schnellste ist, als zu riskieren, einen Unfall zu bauen und in Flammen aufzugehen.
Niemand sagte etwas, und Mandy wollte ihr Klemmbrett gerade bestens gelaunt auf dem Tisch ablegen, als Jen sich meldete. »Mich hat die Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation ein bisschen gestört«
Mandy blinzelte. »Die was?«
Jen zuckte unbehaglich mit den Schultern und schien zu spüren, dass alle Augen plötzlich auf sie gerichtet waren.
»Ja, ich weiß, was du meinst«, behauptete ich, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte.
Jen holte langsam Luft und ordnete ihre Gedanken. »Na ja, der Motorradfahrer war schwarz. Der Typ auf dem Rennrad war weiß. Die Frau war auch weiß. Das ist die klassische Zusammensetzung. Man hat das Gefühl, dass jeder in dieser Gruppe vertreten ist, oder? Aber das stimmt nicht. Es war keine schwarze Frau dabei. Ich nenne das die ›Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation‹. Die gibt’s öfter.«
Einen Moment lang herrschte absolute Stille, aber es war deutlich zu spüren, dass sämtliche Hirne fieberhaft arbeiteten. Nach einer Weile stöhnte Tina Catalina auf, als hätte sie eine Erleuchtung. »Stimmt! Bei ›The Mod Squad‹, dieser Copserie aus den Siebzigern, ist es auch so!«
»Du hast recht«, sagte Hiro. »Oder in …« Er nannte eine bekannte Filmtrilogie über Cyberrealität und Zeitlupen-Kung-Fu, deren Name auf x endet und ein geschütztes Markenzeichen ist, weshalb ich ihn auf diesen Seiten nicht nennen werde.
Damit war der Damm gebrochen. Die Titel diverser Comics, Bücher und Fernsehserien wurden in den Raum gerufen und ein Dutzend bis zum letzten Byte mit Daten gefüllte popkulturelle Erinnerungsspeicher nach Beispielen für die Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation durchforstet, bis Mandy aussah, als würde sie gleich anfangen zu heulen.
Sie knallte das Klemmbrett auf den Tisch.
»Hätte ich das etwa wissen müssen?«, fragte sie scharf und sah finster von einem zum anderen. Unglückliches Schweigen senkte sich über den Konferenzraum. Ich fühlte mich wie in einem der Filme über diesen britischen Geheimagenten, dessen Name aus drei Ziffern besteht: Als wäre ich der Assistent des genial-verrückten Bösewichts und hätte gerade einen üblen Fehler begangen. Ich erwartete fast, Mandy würde jeden Moment einen Knopf auf ihrem Schaltbrett drücken, um Jen und mich mitsamt unseren Stühlen durchs Fenster in einen der Seen im Central Park zu katapultieren.
Antoine rettete uns vor den Piranhas. »Tja.« Er räusperte sich. »Also ich hab noch nie was von diesem Fehlende-schwarze-Frau-Dings gehört.«
»Ich auch nicht«, sagte Trez.
Lexa Legault, die – ihren Laptop auf dem Schoß – hektisch vor sich hin getippt hatte, blickte auf. »Im Netz kann ich nichts dazu finden. Keine relevanten Treffer bei …« Sie nannte eine bekannte Suchmaschine, die nach einer sehr, sehr großen Zahl benannt ist.
»Das ist ja auch kein stehender Begriff«, sagte Jen. »Bloß so eine private Beobachtung von mir.«
»Hallo? Wer schaut denn heutzutage noch ›The Mod Squad‹?« Vivienne Von-und-Zu verdrehte die Augen und bedachte Jen mit einem besonders verächtlichen Blick. Es bereitete ihr sichtlich Genugtuung, dass wir Welpen an unseren Platz verwiesen worden waren.
Mandys Gesichtsfarbe begann sich wieder etwas zu normalisieren. Es handelte sich also nicht um ein welterschütterndes neues Konzept, das der Klient durch ihre Unachtsamkeit verpasst hatte, sondern nur um einen Gedanken, der heute zum ersten Mal laut gedacht worden war.
Als alle sich zum Gehen wandten und Mandy mir das Honorar gab (auch für Jen, wie sich herausstellte), war ihr Blick trotzdem sehr kühl, und ich begriff, dass ich mich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Hier in diesem Raum war eine Idee in die Welt gesetzt worden, die sich gnadenlos verbreiten würde. Die Zeit der Suchmaschinen-Anonymität war für die FSF-Konstellation bald vorbei. Der Klient würde eine Woche Zeit haben, seinen Spot zu senden und ihn dann schleunigst wieder abzusetzen, bevor Jens radikal neue Wortschöpfung ihn so alt aussehen lassen würde wie eine Polizeiserie aus den Siebzigern.
Mandys Blick sagte mir, dass ich einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte.
Ich hatte eine Innovatorin zu einer Coolnessprobe mitgenommen, auf der nur Trendsetter zugelassen waren.