Kapitel

DREIUNDZWANZIG

Die Welt ist klein. Das ist wissenschaflich bewiesen.

1967 bat ein Forscher namens Stanley Milgram sechzig zufällig ausgewählte Personen aus Kansas, einer von ihm festgelegten Person ein Päckchen zu schicken – ohne dass sie die Person kannten oder wussten, wo sie wohnte. Die Teilnehmer konnten das Päckchen an jeden senden, den sie persönlich kannten, der es wiederum an jeden senden konnte, den er persönlich kannte und so weiter – bis das Paket schließlich bei der jeweiligen Zielperson eingetroffen war.

Die Pakete erreichten ihr Ziel schneller als erwartet. Im Durchschnitt lagen jeweils nur sechs Stationen zwischen Absender und Zielperson – ein Phänomen, das unter anderem als die »Bacon-Zahl« (richtig, wir sprechen hier vom Lieblingsschauspieler meiner Mom) oder auch als »Six Degrees of Separation« bekannt ist. In unserer kleinen Welt (ein Dorf, ich sag es euch) seid ihr nur ungefähr sechs Shakehands von eurer großen Liebe, eurem meistgehassten Promi oder der Person entfernt, die den Spruch »Jemandem ein Ohr abkauen« erfunden hat.

Wenn die Welt also schon so klein ist, dann ist die Cool-Hunting-Welt winzig. Angenommen Jen und ich lagen mit unseren Paka-Paka-Erkenntnissen richtig, trennten uns lediglich ein paar Handschläge von der Fehlenden schwarzen Frau. Jetzt ging es nur noch darum, die richtigen Hände zu schütteln.

 

Aber vorher mussten wir meinen Smoking zur Reinigung bringen.

Wir gaben das Hemd, die Hose und die Fliege ab, damit sie bei der Rückgabe im Geschäft wieder wie neu glänzten und ich mein Geld (wenigstens teilweise) zurückbekam. Ich sah nervös zu, wie der Chinese hinter der Annahmetheke die Preisschildchen abschnitt.

»Sie haben getragen diese Kleidung?«

»Ja.«

Schnipp. »Mit Preisschildchen?«

»Ja.«

Schnipp, schnipp. »Sie vorher müssen entfernen Schildchen. «

»Ja.«

Schnipp, schnipp, schnipp, Pause. »Ihre Hände rot?«

»Ja.«

»Können Sie vielleicht den Ärmel an diesem Jackett hier wieder richten?«, unterbrach Jen unsere geistreiche Unterhaltung, worauf eine längere, von Kopfschütteln und bedauernden Gesten begleitete Redepause folgte. Ich nutzte die Gelegenheit und fegte verstohlen die Preisschildchen von der Theke in meine Tasche.

»Nein. Kann nicht richten.«

Jen faltete das Jackett sorgfältig zusammen und schob es behutsam in die Tüte zurück, eine Geste, die natürlich nur noch rein symbolischen Charakter hatte: Respekt vor den Toten.

»Mach dir keine Sorgen, Hunter. Ich krieg das schon irgendwie hin.«

Der Mann sah Jen an und schüttelte erneut den Kopf.

 

Der Central Park ist, genau wie der Rest von Manhattan, an einem gitterförmigen Raster ausgerichtet.

In anderen Städten sind Parkanlagen organisch gewachsene kreisförmige Gebilde, folgen den Windungen eines Flusses oder haben alle möglichen anderen Formen. Aber der Central Park ist ein exaktes Rechteck, das auf der unregelmäßig geformten Insel Manhattan sitzt wie das Etikett auf einem eingeschweißten Stück Braten.

Am unteren Rand des Etiketts, sozusagen bei den »Inhaltsstoffen«, trifft sich jeden Samstagnachmittag eine sehr coole Kaste zu einer Art Freiluft-Rollerdisco – ein DJ legt ohne jede Ironie ehrwürdigen alten Dancefloor auf und sie skaten im Kreis um ihn herum.

Streng genommen dürften sie in der eingangs beschriebenen Pyramidenhierarchie gar nicht auftauchen. Sie sind Stehengebliebene – gefangen in einer Zeitblase, genau wie die Typen in den Kiss-T-Shirts. Nur eben sehr viel cooler. Sie stammen aus der Zeit, in der die Barrierefreiheit für körperlich Behinderte gesetzlich erlassen wurde. Damals ordnete die Regierung an, jeden Bordstein und jedes Gebäude im Land mit Rollstuhlrampen zu versehen – und initiierte damit völlig unerwartet die Geburtsstunde der modernen Skaterkultur.

Das ist jetzt schon ein paar Jährchen her. Diese Leute sind Veteranen, so was von gestern, dass sie fast schon wieder Avantgarde sind.

Und jeden Samstag tauchte Hiro Wakata, Meister aller fahrbaren Untersätze, hier auf, trainierte seine Backslides und jagte gleichzeitig nach allem, was neu und cool war.

Normalerweise hielt ich mich seinem Arbeitsbereich fern, schließlich wollte ich einem Cool-Hunter-Kollegen nicht ins Handwerk pfuschen. Es war also ein paar Monate her, seit ich ihn das letzte Mal hier besucht hatte (als Zuschauer wohlgemerkt – auf Rollen war ich nämlich das Gegenteil von cool). Aber für mich stand fest, dass Hiros Hand die erste war, die ich auf der Suche nach dem Anti-Kunden schütteln musste. Mit seinen Mitte zwanzig ist er für einen Cool Hunter schon ziemlich betagt, kennt jeden und skatet quasi schon, seit er laufen kann.

Er war unter den etwa fünfzig anderen im Orbit des DJs kreisenden Skatern leicht auszumachen, als er in seinem ärmellosen weißen Kapuzenshirt gefährlich nah an den Schaulustigen vorbeifegte. Als Jugendlicher war er der König der Halfpipes gewesen, weshalb Rollerskaten so etwas wie seine zweite Muttersprache war, die er fließend beherrschte (übrigens genauso wie Motorrad-, Elektroroller- und Mountainboardfahren.

Ich winkte ihm zu und bei seiner nächsten Runde brach er auf unserer Höhe aus dem Kreis aus. Kleine Kieselsteinchen knirschten unter seinen Rollen und spritzten nach allen Seiten weg, als er den asphaltierten Außenring überquerte, bevor er wie ein Eishockeyspieler schlitternd vor uns zum Stehen kam.

»Hey, Hunter, neuer Haarschnitt?«

»Ist so eine Art Tarnung.«

»Sieht cool aus. Die Hände auch.« Statt den Kopf ein paar Grad zu drehen, um Jen anzusehen, machte er eine halbe Pirouette; ein Leben auf Rollen hatte ihn zu einem Rotationsjunkie gemacht. »Jen, richtig? Hat mir gut gefallen, was du da neulich auf der Coolnessprobe gesagt hast. Tipptopp.«

Ich merkte, wie sie sich beherrschen musste, nicht die Augen zu verdrehen. Dafür, dass wir Trendsetter waren, musste es für sie irritierend sein, dass wir ständig mit dem gleichen Spruch auf sie reagierten. »Danke.«

»Mandy war so was von angepisst. Ha! Skatest du?«

»Nicht gut genug, um bei euch Cracks mitzulaufen«, antwortete Jen. Vor uns preschte ein Pärchen vorbei, sie hielten sich an den Händen, skateten Rücken an Rücken und wirbelten dann in einer 360-Grad-Dehung um ihre eigene Achse, ohne sich dabei loszulassen. Jen und ich pfiffen gleichzeitig anerkennend durch die Zähne.

»Macht euch nichts draus, ihr dürft trotzdem jederzeit vorbeikommen. « Hiro drehte die nächste Pirouette und sah wieder mich an. »Also, was liegt an?«

»Ich bin auf der Suche nach jemandem und dachte, du könntest mir vielleicht helfen. Sie ist Skaterin.«

Er vollführte eine langsame Drehung – ein König, der stolz seine Ländereien betrachtet. »Ich schätze, da seid ihr hier genau richtig.«

Jen zog einen der Fotoausdrucke aus ihrer Tasche. »Das ist sie.«

Er sah sich das Bild an und nickte mit beinahe ehrfürchtigem Ernst.

»Wow, sie hat sich kaum verändert. Ist eine halbe Ewigkeit her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hab, genauer gesagt, seit es zur Spaltung kam.«

»Zur Spaltung?«

»Genau, Mann. Das muss jetzt so zehn Jahre her sein. Ich war damals noch ein kleiner Scheißer und wir wurden ständig von den Bullen schikaniert.« Er zeigte auf den DJ, der inmitten von vier Lautsprechertürmen, zwei Plattentellern und einem brummenden Generator thronte. »Genau da drüben stand früher Wicks Ghettoblaster – in einem Einkaufswagen, damit wir jederzeit abhauen konnten, wenn wir mal wieder erwischt wurden. Sie war ein Original, hat den Platz hier klargemacht, als sie dreizehn war.«

Ich stieß einen befriedigten Seufzer aus – sie war eine Innovatorin.

»Sie heißt Wick?«, hakte Jen nach. »Ist das eine Abkürzung für ›wicked‹, weil sie so verdammt cool war?«

Hiro rollte amüsiert von rechts nach links und wieder zurück. »Das ist die Abkürzung für Mwadi Wickersham.«

Der Name sagte mir nichts. »Lässt sie sich denn ab und zu noch hier blicken?«

»Wie schon gesagt, nach der Spaltung ist sie verschwunden. Das war, als der harte Kern der Gruppe mit… « – er nannte den Namen eines Unternehmens, das als Erstes Inlineskates auf den Markt brachte – »einen Deal abschloss.«

»Weil sie sich nicht vermarkten lassen wollte?«, fragte Jen.

Hiro zuckte mit den Schultern. »Davon hat sie nie was gesagt. Zu meinen Halfpipe-Zeiten war ich von oben bis unten mit Logos zugetaggt, hat sie aber nie gestört. Bei der Spaltung ging es nicht um Sponsoring, sondern darum, ob man auf Inliner umsteigt oder nicht.« Er winkelte ein Bein an und zeigte uns die Rollen an seinen Skates. »Was anderes kam Wick nicht unter die Füße, in der Beziehung war sie total old school. Wir hielten noch ziemlich lange durch, da waren alle anderen schon längst umgestiegen. Zwei vorne, zwei hinten – two-by-two – das war quasi eine Religion.«

Jens Augen weiteten sich. »Willst du damit sagen, dass es bei der ganzen Sache nur darum geht, welche Art von Skates man trägt?«, rief sie.

Hiro rollte rückwärts und breitete verständnislos die Arme aus. »Von welcher Sache redest du?«

»Das wissen wir selbst nicht so genau«, wiegelte ich mit meiner Deeskalationsstimme ab. »Nicht so wichtig. Du hast sie in letzter Zeit also nicht gesehen. Hast du eine Ahnung, wie wir sie finden können?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. War damals eine traurige Geschichte. Großartige Skaterin, aber sie konnte es einfach nicht ertragen, auf Inliner umzusteigen. Dabei ging es noch nicht einmal um irgendeinen Megadeal oder so. Die wollten uns nur kostenlos Blades zur Verfügung stellen und besseres Sound-Equipment. Und vielleicht ein oder zwei Werbeshootings mit uns machen.«

»Du hast gesagt, dass es zu einer Spaltung kam«, sagte Jen. »Heißt das, dass zusammen mit Wick noch andere Leute aus der Gruppe ausgestiegen sind?«

»Ja, ein paar. Aber die meisten kamen ziemlich bald wieder zurückgeskatet – dieser Deal lief sowieso nur einen Sommer lang. Aber Wick blieb ganz weg. Sie … verschwand einfach.«

»Und was ist mit denen hier?« Jen zeigte ihm die Fotos der drei anderen.

»Nein, die gehörten nicht zu den Spaltern. Aber den da, den kenn ich …« Er zeigte auf Schurke Nr. 3. »Das ist Futura. Futura Garamond.«

»Ist er auch ab und zu hier?«

»Nie. Aber wir haben zusammen bei City Blades gearbeitet. Der Typ ist Designer.«

»Er designt Skates?«

Hiro schüttelte den Kopf. »Nein, Mann, er ist Grafikdesigner. Arbeitet für diverse Magazine.«