Kapitel

VIERUNDDREISSIG

»Hast du dir die Hände gewaschen?«

»Ja, ich habe mir die Hände gewaschen.«

Mein Vater blickte auf und sah mich an. Ausnahmsweise einmal schien er meinen Tonfall beunruhigender zu finden als das allmorgendliche Schreckens-Diagramm.

»Oh, natürlich. Entschuldige bitte.«

Sieg. Wenn ich wenigstens hätte lächeln können. Nach all den Jahren war es mir endlich gelungen, meiner Stimme genau den richtigen roboterartigen Klang zu geben. Tonlos, seelenlos, leer. Ich wusste, dass mein Vater mich nie wieder fragen würde, ob ich mir die Hände gewaschen hätte.

Meine Wut auf Jen – und auf mich selbst – war schon gestern Abend auf dem Nachhauseweg verraucht und hatte sich, als ich ins Bett ging, in etwas Hartes, Kaltes verwandelt. Jetzt, am Morgen, war ich innerlich nur noch tot.

Mom schenkte mir schweigend Kaffee ein.

Eine volle Minute später fragte mein Vater: »Anstrengendes Wochenende gehabt?«

»Ziemlich.«

»Gefällt mir immer noch sehr gut, wie du deine Haare jetzt trägst«, sagte Mom, und ihre Stimme ging am Ende ein bisschen hoch, als hätte sie eine Frage gestellt.

»Danke.«

»Und deine Hände sind heute schon weniger rot.«

»Das würde ich jetzt nicht unbedingt sagen.« Ich hatte im grellen Licht des Badezimmerspiegels gesehen, dass die Farbe nur einen winzigen Hauch verblasst war. Wenn das in dieser Geschwindigkeit weiterging, konnte ich immerhin damit rechnen, bis zu meinem Uniabschluss keine purpurfarbenen Hände mehr zu haben.

Meine Mutter sah mich besorgt an. »Magst du uns nicht erzählen, was los ist, Hunter?«

Ich seufzte. Vermutlich dachten sie sich schon ihren Teil und das meiste würde ich ihnen früher oder später sowieso erzählen. Also konnte ich es eigentlich genauso gut gleich hinter mich bringen.

»Jen.«

»Oh Hunter, das tut mir leid.«

»Hat nicht sehr lange gehalten«, fügte Dad hinzu, womit er das Problem mit seinem brillanten empirischen Verstand perfekt auf den Punkt brachte.

»Nein, eher nicht.« Ich hatte Jen Donnerstagnachmittag kennengelernt. Und was war heute? Sonntagmorgen?

Mom legte ihre Hand auf meine. »Möchtest du darüber reden? «

Ich zuckte mit den Achseln, ging, während ich den Blick durchs Esszimmer schweifen ließ, verschiedene Sätze im Kopf durch, und sagte schließlich: »Sie konnte in mich hineinsehen. «

»In dich hineinsehen?«

»Ja. Mitten in mich hinein.« Ich konnte das Loch, das ihr Blick hinterlassen hatte, immer noch spüren. »Erinnert ihr euch noch daran, wie es war, als wir hierhergezogen sind? Als ich meine ganzen Freunde verloren hab?« Mein Selbstvertrauen, meine Coolness.

»Natürlich. Das war sehr hart für dich.«

»Für euch war es aber bestimmt genauso hart. Das Problem ist nur, dass ich mich wohl nie so richtig davon erholt hab und mir seitdem irgendwie wie ein Versager vorkomme. Und Jen hat das gesehen – ich bin zu schwach für sie.«

»Schwach?«, fragte Dad.

Ich fand ein besseres Wort: »Ängstlich.«

»Ängstlich? Das ist doch Unsinn, Hunter.« Mom schüttelte über einer Gabel Rührei den Kopf. »Wahrscheinlich müsst ihr euch nur mal in Ruhe darüber unterhalten. Dann findet ihr schon eine Lösung.«

»Und wenn nicht«, tröstete Dad mich, »hast du wenigstens nicht besonders viel Zeit mit ihr verschwendet.«

Mom verschluckte sich fast an ihrem Kaffee, aber ich schaffte es, ganz erwachsen darauf zu reagieren: »Danke, dass ihr versucht, mich aufzubauen. Aber mir wäre es lieber, wenn ihr jetzt damit aufhören würdet.«

Sie hörten auf. Und gingen wieder dazu über, die üblichen vorhersehbaren Dinge zu sagen und zu tun. Mit seinen Eltern zu frühstücken, hat immer etwas Beruhigendes: Sie folgen einem für Ehepaare typischen unveränderlichen Muster, als wären die Dinge seit jeher so gewesen und würden stets so bleiben. Sie sind keine Innovatoren. Nicht am Frühstückstisch. Sie sind allmorgendlich eine ganze Stunde lang Bewahrer, meine ganz persönliche Rock Steady Crew.

Aber nachdem ich zu Ende gefrühstückt hatte und wieder in meinem Zimmer war, gab es nicht viel mehr zu tun, als mich aufs Bett zu setzen und mir meine langen Zotteln zurückzuwünschen, um mich dahinter zu verstecken.

Die winzigen Bottle-Jersey-Teams verhöhnten mich von ihren Regalbrettern herab und so verordnete ich mir eine kleine Beschäftigungstherapie. Ich zog ein Trikot nach dem anderen von den leeren Wasserflaschen, gab ihre jeweiligen Beschreibungen plus Foto bei eBay ein und legte dann jedes Trikot unter sein eigenes, mit unbedeutenden und nutzlosen Fakten vollgestopftes dickes Buch, um es für den Versand zu glätten.

Es war traurig, die sorgfältig zusammengestellten Teams aufzulösen, aber auch ein Manager muss alle paar Jahre seine alten Spieler verkaufen und sich eine neue Mannschaft heranziehen. Außerdem würde ich, sofern die Auktionsgötter mir wohlgesonnen waren, bis zum Eintreffen meiner nächsten Kreditkartenabrechnung vielleicht den Mindestbetrag zusammenhaben.

Als mein Handy klingelte, schloss ich die Augen und atmete tief ein. Sie ist es nicht, wiederholte ich ein paarmal stumm, dann zwang ich mich, auf das Display zu schauen.

shugrrl. Mandy.

Ich hätte mich darüber freuen sollen, dass sie anrief, dass sie den Purpurnen entkommen war und schon wieder mit mir sprechen wollte. Aber der Anblick ihres Namens auf dem Display ließ mein Herz noch ein bisschen schwerer werden. Falls das jetzt jedes Mal so ging, wenn mein Handy klingelte und es nicht Jen war, dann konnte ich mich schon mal auf ein echt beschissenes Leben einrichten.

»Hi, Mandy.«

»Hey, Hunter. Ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten.«

»Schieß los.«

»Vorher möchte ich mich aber bei dir entschuldigen, weil ich dich letzten Freitag versetzt hab.«

Ich lachte, was mir wegen der Pflastersteine in meinem Bauch ziemlich wehtat. So lautete also die stille Übereinkunft: Kein Wort über die Spalter oder die Schuhe. Mandys Wochenende als Quasi-Entführungsopfer würde unser kleines unausgesprochenes Geheimnis bleiben.

»Schon in Ordnung, Mandy. War ja nicht deine Schuld. Hauptsache, dir geht es gut.«

»Ging mir nie besser. Ich steh kurz vor meiner Beförderung. «

Ich nickte und spürte einen schmerzhaften Stich – es war genauso gekommen, wie Jen es vorausgesagt hatte.

»Aber es rührt mich total, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast. Greg hat mir erzählt, dass du angerufen hast. Cassandra übrigens auch. Eigentlich haben alle mir erzählt, wie besorgt du um mich warst. Danke, Hunter. Ich hab vielleicht ein bisschen ungehalten gewirkt, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, aber ich werde es dir nicht vergessen, dass du nach mir gesucht hast.«

»Kein Problem, Mandy. Die Suche nach dir hat mir ein paar … interessante Abenteuer beschert.« Die Pflastersteine stürzten rumpelnd eine Etage tiefer.

»Hab schon davon gehört. Das ist der andere Grund, aus dem ich dich anrufe.« Sie zögerte.

»Worum geht’s?«

»Na ja, es sind da ein paar Probleme entstanden, die mit diesem Wochenende zusammenhängen, die Lage muss sich erst einmal wieder beruhigen. Der Klient möchte auf keinen Fall mit den Ereignissen in Verbindung gebracht werden, die sich auf einer ganz bestimmten Launchparty zugetragen haben. Einige einflussreiche Leute sind sehr verärgert und wir müssen natürlich die Unternehmensinteressen wahren.«

»Oh.« Mein Gehirn übersetzte den Subtext langsam, dafür aber umso deutlicher: Der Klient wollte nicht, dass die einflussreichen Purpurnen von seinem Deal mit den Spaltern erfuhren. Die einflussreichen Purpurnen waren nämlich stinksauer und würden es noch eine Weile bleiben. »Und was genau bedeutet das, Mandy?«

»Das bedeutet, dass ich dir keine Jobs mehr vermitteln kann. Zumindest nicht in nächster Zeit.«

»Aha.«

Jetzt wurde mir alles klar: Ich war das Bauernopfer. Die einzige Person, die die hoi aristoi in die Finger bekommen hatten, das einzige Bindeglied zu den Spaltern. Der Klient würde Distanz wahren.

Wie alle anderen.

»Tut mir wirklich leid, Hunter. Ich hab immer gern mit dir zusammengearbeitet.«

»Ich mit dir auch. Mach dir keinen Kopf deswegen.«

»Und hey, so was ist nicht von Dauer.«

»Ich weiß, Mandy. Nichts ist von Dauer.

»Das ist die richtige Einstellung.«

 

Fünf Minuten später – ich war gerade dabei, meine Regale nach weiteren versteigerbaren Objekten abzusuchen, um die zur Begleichung meiner Schulden nötige Summe zusammenzukriegen – klingelte das Handy erneut. Und wieder schloss ich die Augen, um nicht aufs Display zu schauen.

Sie ist es nicht, sie ist es nicht … Vielleicht würde zehnmal reichen.

Sie war es.

»Hi«, sagte ich (und es klang bar jeder Hoffnung).

»Komm in einer halben Stunde zu der Stelle im Park, wo wir uns das erste Mal getroffen haben. Schaffst du das?«

»Schaff ich.«