Kapitel

ZEHN

Alles hat einen Anfang.

Eine simple Tatsache, die einem als Cool Hunter ziemlich schnell klar wird.

Es gibt nichts, das es immer schon gab. Hinter allem steht ein Innovator.

Jeder weiß, wer das Telefon und die Glühbirne erfunden hat, aber die bescheideneren Erfindungen werden anonym gemacht. Es gab ein erstes Papierflugzeug, eine erste abgeschnittene Jeans, eine erste Kette aus Büroklammern. Und wenn man noch weiter in der Zeit zurückreist, gab es einen ersten Rückenkratzer, ein erstes Geburtstagsgeschenk und ein erstes Erdloch, das zum Mülleimer erklärt wurde.

Sobald sich eine gute Idee erst einmal durchgesetzt hat, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass sie nicht schon immer existiert haben soll.

Nehmen wir zum Beispiel den Kriminalroman. Der allererste Krimi wurde von Edgar Allan Poe im Jahr 1841 geschrieben. (Spoiler-Warnung: Es war der Affe.) Im Laufe der darauffolgenden hundertneunundsechzig Jahre infizierte Poe mit seiner Erfindung die Schöpfer zahlloser Bücher, Filme, Theaterstücke, Computerspiele und TV-Serien. Und wie die meisten aggressiven Viren bildete auch der Charakter des Detektivs mit der Zeit alle nur vorstellbaren Mutationen aus: von kleinen alten Damen, die Verbrechen aufklärten, mittelalterlichen Mönchen, die Verbrechen aufklärten, und Katzen, die Verbrechen aufklärten, bis hin zu Verbrechern, die Verbrechen aufklärten.

Mein Vater hat jahrelang Krimis verschlungen (ich gehe mal davon aus, dass sie von Epidemiologen handelten, die Verbrechen aufklärten), bis er eines Tages ein Interview mit einem echten Kommissar der Kripo von Los Angeles las. Der Typ hatte über vierzig Jahre bei der Kriminalpolizei gearbeitet, und während dieser ganzen Zeit war ihm kein einziger Fall untergekommen, der von einem Amateurdetektiv aufgeklärt worden wäre.

Nicht ein einziger.

Eingedenk dieser Tatsache machten wir uns mit Mandys Handy auf den Weg zur nächsten Polizeidienststelle.

 

»Beziehung zur vermissten Person?«

»Äh, Arbeitskollegin. Also, sie verschafft mir meine Aufträge. «

»Und für wen arbeitest du, Hunter?«

»Für niemanden bestimmten. Ich bin … Berater. Schuhberater. Hauptsächlich Schuhe.«

Detective Machal Johnson musterte mich von oben bis unten. »Schuhberater? Lässt sich damit Geld verdienen?«

»Ich werde hauptsächlich in Form von Schuhen bezahlt.«

Eine Augenbraue wanderte langsam immer höher. »Okay. Schuhberater«, murmelte er und tippte schläfrig in seinen Computer. Ich hätte die Buchstaben schneller in mein Handy eingeben können (wenn ich noch eins gehabt hätte). Johnsons prähistorischer Computer war anscheinend genauso lahm wie sein Besitzer. Der Bildschirm war durch und durch grün – die Buchstaben sahen aus wie Glühwürmchen, die in Pfefferminz-Zahnpasta klebten. »Dann ist diese Mandy Jenkins also auch … Schuhberaterin?«

»Wilkins. Ja, ich schätze, das ist die korrekte Berufsbezeichnung. «

»Und wann, schätzt du, hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Gestern, gegen fünf.«

»Also vor weniger als vierundzwanzig Stunden?«

Jen stieß mich mit dem Ellbogen an, und Detective Johnson sah aus, als würde er gleich die Hände von der Tastatur nehmen, aber das ließ ich nicht zu. Wir hatten eine Stunde gebraucht, um uns an Beamten im Empfangsbereich, Metalldetektoren und einer Menge unbeeindruckter Gesichter vorbei bis zu ihm durchzukämpfen. Ich war nicht bereit, jetzt so schnell aufzugeben.

»Wir waren heute Morgen mit ihr verabredet«, sagte ich. »An der Ecke Lispenard und Church.«

Er seufzte, und seine Lippen formten stumm die Straßennamen, während er sie in die Maske eingab. »Irgendwelche Hinweise auf ein Verbrechen?«

»Ja. Wir haben ihr Handy gefunden.« Ich legte es auf den Schreibtisch.

Er griff danach und drehte es hin und her. »Das ist alles. Keine Handtasche? Keinen Geldbeutel?«

»Nur das Handy.«

»Wo?«

»Da, wo wir verabredet waren. Es lag in einem leer stehenden Gebäude.«

Er legte das Handy wieder auf den Tisch. »Ihr wart in einem leer stehenden Gebäude verabredet?«

»Nein, davor. Aber das Handy lag in dem Gebäude. Und es ist ein Foto drauf.«

»Was? Auf dem Gebäude?«

»Nein, auf dem Handy.«

Der Detective setzte eine Lesebrille auf, die ihn schlagartig um Jahre altern ließ, und betrachtete das Foto auf dem Display. »Aha. Und was ist das für ein Foto?«

»Ein Gesicht im Dunkeln. Wir haben den Mann auch selbst gesehen.«

»Welchen Mann?«

»Den Mann vom Foto.«

»Da ist ein Mann auf dem Foto?«

»Man muss Pergamentpapier drüberlegen, damit man es erkennen kann.«

»Er ist hinter uns hergerannt«, ergänzte Jen.

Detective Johnson hob den Kopf, seine Augen huschten ein paarmal zwischen uns beiden hin und her – ein Außerirdischer, der einem Tennismatch zusieht und versucht, die Regeln zu begreifen. »Habt ihr versucht, eure Freundin anzurufen?«

»Das ging nicht. Das da ist ihr Handy.«

»In ihrem Büro? Zu Hause?«

»Ja, natürlich. Wir haben es auch bei ihrer Mitbewohnerin versucht. Aber es ging überall immer nur der Anrufbeantworter dran.«

»Okay.« Detective Johnson schob seine Brille höher, nahm die Hände von der Tastatur und lehnte sich in seinem gepolsterten Bürostuhl zurück. »Ich verstehe, dass ihr euch um eure Freundin Sorgen macht, aber ihr müsst wissen, dass sich in neunundneunzig Prozent aller Fälle herausstellt, dass die vermissten Personen gar nicht verschwunden sind. Ihnen ist irgendetwas Wichtiges dazwischengekommen, ihre U-Bahn steckt in einem Tunnel fest oder sie sind ein paar Tage weggefahren und haben vergessen, Bescheid zu sagen. Bei volljährigen Personen warten wir, wenn es keinen Hinweis auf ein Gewaltverbrechen gibt, grundsätzlich vierundzwanzig Stunden ab, bevor wir die Vermisstenmeldung aufnehmen. «

Ich spürte, wie Jen neben mir unruhig wurde. Wahrscheinlich brannte sie darauf, diesen Sesselpupserverein so schnell wie möglich zu verlassen und in ihre neue Rolle als Verbrechen aufklärende Innovatorin zu schlüpfen.

»Du hast zwar ihr Handy gefunden, von dem du dir ganz sicher bist, dass es ihr gehört …«, ich nickte gehorsam, »… aber das ist noch lange kein Beweis dafür, dass ein Verbrechen stattgefunden hat. Im Moment ist es nichts weiter als ein verloren gegangenes Handy. Eure Freundin gilt erst als vermisst, wenn die Frist von vierundzwanzig Stunden verstrichen und sie immer noch nicht aufgetaucht ist. In diesem Fall soll ihre Mitbewohnerin, ein Verwandter oder ein anderer Erwachsener mich anrufen, okay? Ich behalte die Informationen, die du mir gegeben hast, hier im System.«

Ich merkte an seinem Tonfall, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren. »Okay. Danke.«

»Du kannst das Handy hierlassen oder deiner Freundin eine Menge Papierkram ersparen, indem du es so lange für sie aufbewahrst, bis sie wieder aufgetaucht ist …« Er hielt mir das Handy hin und machte deutlich, wem der Papierkram erspart werden sollte.

»Klar«, sagte Jen sofort. »Wir heben es so lange für sie auf. Kein Problem.«

Mit einem zufriedenen Nicken gab Detective Machal Johnson mir das Handy zurück und setzte dann eine seltsam feierliche Miene auf.

»Imponiert mir, wenn junge Leute sich für das Wohl ihrer Mitbürger einsetzen.«