Kapitel

NEUNUNDZWANZIG

Wenn englische Landadelige vorzeiten Jagen gingen, riefen sie aus voller Lunge: »Soho!« (Warum sie das taten, weiß ich nicht. Vielleicht war Soho Halalis Bruder …) Sehr viel später dann, als einige hübsche Jagdreviere in der näheren Umgebung Londons gerodet wurden und dort Geschäfte, Theater und Nachtklubs eröffneten, beschloss irgendein gewiefter Immobilienhai, diesen coolen neuen Stadtteil »Soho« zu nennen.

Noch einmal sehr viel später, als sich ein heruntergekommenes New Yorker Industriegebiet südlich der Houston Street zu einem Wohnviertel für die wohlhabendere Bevölkerung mauserte und sich dort jede Menge Geschäfte, Theater und Nachtklubs ansiedelten, war es wieder ein gewiefter Immobilienhai, der beschloss, diesen coolen neuen Stadtteil auf den Namen »SoHo« (= South of Houston Street) zu taufen.

Es dauerte nicht lange, bis diese Methode der Namensgebung Schule machte. Alles, was nördlich der Houston Street lag, wurde zu »NoHo«, alles, was im unteren, also im lower Teil vom Broadway lag, zu »LoBro«, und dann gibt es da auch noch »NOWHERESville«, kurz für: North Of Where Holland’s Entrance Removes Exhausted Suburbanites bzw. die Gegend um den Holland-Tunnel, in dem allabendlich erschöpfte Pendler Richtung Jersey verschwinden.

So viele gewiefte Immobilienhaie, so wenige Ebolaviren, möchte man da seufzen.

Heutzutage lautet der Jagdruf der coolen jungen Typen, die stylishe Läden, Theater und Nachtklubs aufspüren: »Dumbo!«, was für »Down Under Manhattan Bridge Overpass« steht, einen urbanen Landstrich mit baufälligen Fabrikgebäuden und brachliegenden Industrieflächen, das letzte Refugium des wahrhaft Coolen. Zumindest für diese Woche.

Hier eine kurze Anfahrtsbeschreibung:

Wir fuhren mit dem F-Train bis zur York Street, dem früheren Randbezirk und derzeitigen Szenegeheimtipp von Brooklyn. Es war ziemlich ruhig in unserem Abteil, bloß die üblichen mit Gitarrenkoffern und Laptops bewaffneten, tätowierten und gepiercten Gestalter/Texter/Künstler/Modedesigner, die gerade von der Arbeit kamen. Einen von ihnen erkannte ich sogar aus unserem Stammcafé wieder, wahrscheinlich ein Schriftsteller, der seinen ersten Roman schrieb, der in einem Café spielte.

Am Ziel angekommen, gingen Jen und ich die York Street hinauf. Zu unserer Linken überspannte die Manhattan Bridge den Fluss, und zum ersten Mal verspürte ich kein diffuses Unbehagen darüber, nicht mehr in Manhattan zu sein. Angesichts der Tatsache, dass abtrünnige Cool Hunter hinter dem Anti-Klienten standen, war es nicht verwunderlich, dass uns die Jagd nach ihnen hierher führte. Die meisten der hippen Leute aus der Bahn waren mit uns ausgestiegen und hatten sich eine Zigarette angesteckt und ihre Handys gezückt, während sie die alten Straßen entlangschlenderten und in restaurierten Fabrikgebäuden verschwanden. Ich hoffte inständig, dass dieses Viertel immer noch cool sein würde, wenn ich irgendwann von zu Hause auszog, aber so richtig glaubte ich nicht daran. Wahrscheinlich würde ich den Jagdruf »NewJerZo« schmettern, wenn es so weit war, dass ich mir ein eigenes Apartment leisten konnte.

Die York Street schlängelt sich Richtung Westen und führte uns zur Flushing Avenue und am Naval Shipyard vorbei, dem Firmensitz von Two-by-Two Productions.

Als ich im Naturkundemuseum zwischen den Meteoriten gekauert war, hatte ich alte Fotos von der Werft gesehen. Der riesige Brocken Weltraumeisen hatte vor ungefähr einem Jahrhundert ein paar Jahre hier verbracht, während man überlegte, was man mit dem vierunddreißig Tonnen schweren extraterrestrischen Souvenir überhaupt anstellen sollte. Ich fragte mich, ob er die Kompassnadeln vorbeiziehender Schiffe umgelenkt hatte und ob diese Ecke von Brooklyn womöglich einer jener mystischen Orte der Erde war, wo sich immer die seltsamsten Dinge ereigneten. Immerhin war der Stadtteil nach einem fliegenden Elefanten benannt.

Heutzutage gibt es auf der Werft weder Meteoriten noch Schiffe. Die gewaltigen Konstruktionshallen beherbergen jetzt Filmstudios, alle möglichen Agenturen und gigantische Freiflächen, wo die riesigen Kulissen für Broadway-Musicals gebaut werden.

»Wozu der Anti-Klient wohl so viel Platz braucht?«, sagte Jen, als wir an den Hallen vorbeigingen.

»Beängstigende Frage. Da drin könnte man alles Mögliche verstecken. Eine Luftschiffflotte, eine Heuschreckenzucht, um eine landesweite Plage auszulösen … ein Einfamilienhaus mitsamt Garten.«

»Sag du mir noch mal, meine Synapsen würden seltsame Gedanken hervorbringen.«

Wir fragten in einem Pförtnerhäuschen nach den Büroräumen von Two-by-Two Productions. Der diensthabende Wachmann löste unwillig den Blick von seinem winzigen Fernseher und musterte uns von oben bis unten.

»Veranstalten die wieder ein Casting?«

»Äh … ja, genau.«

»Dachte, die würden Montag ausziehen.«

»Dabei bleibt es auch«, behauptete Jen und nickte. »Aber sie meinten, dass sie uns jetzt gleich sehen wollen.«

»Na schön.« Er nahm einen kopierten Lageplan der Werft von einem Stapel auf seinem Tisch, kritzelte ein rotes X darauf und hielt ihn uns hin, während sein Blick zum Fernseher zurückdriftete.

Draußen machte Jen ihrem Unmut Luft. »Casting? Sehen wir vielleicht wie beschissene Schauspieler aus?« (Die meisten Innovatoren haben nichts für Schauspieler übrig, die per se Nachahmer sind.)

»Du hast da drin jedenfalls eine ziemlich gute Vorstellung abgeliefert.«

Sie warf mir einen finsteren Blick zu.

»Kann doch sein, dass sie einen Werbespot für den Schuh drehen.«

»Okay, da würde ich wahrscheinlich sogar mitmachen. Aber die Vorstellung, dass der Typ da drin wirklich geglaubt hat, wir wären von einer Castingagentur geschickt worden …« Sie schüttelte sich.

Da Samstag war, befanden sich kaum Menschen auf dem Werftgelände, und nach den engen, fast klaustrophobischen Straßen Manhattans machte uns der viele Platz um uns herum ganz benommen. Wir gingen unter gigantischen verrosteten Eisenbogen hindurch, deren Farbe abblätterte, überquerten eingeebnete Eisenbahnschienen, die sich wie schwulstige Narben durch den Asphalt zogen, und kamen an leer stehenden Werfthallen und Wellblech-Hangars mit röhrenden Klimaanlagen vorbei.

»Da ist es«, sagte ich.

Der Name Two-by-Two Productions war mit Schablone auf eine riesige Schiebetür gesprayt, die in ein altes Backsteingebäude führte, in dem man ein ganzes Schlachtschiff hätte verstecken können.

Ich spürte, wie meine Kopfhaut zu kribbeln begann: Das war jetzt der Moment, in dem Jen bestimmt gleich wieder die Führung übernehmen und uns auf komplizierte, gefährliche und möglicherweise illegale Weise Einlass verschaffen würde.

Aber wozu sich dem Schicksal widersetzen? Es hätte sowieso nichts gebracht.

»Und wie kommen wir jetzt da rein?«, fragte ich.

»Vielleicht so?« Jen zog an der mächtigen Klinke und die Tür glitt widerstandslos zur Seite. »Das hätten wir schon mal.«

»Aber das bedeutet, dass …«

Jen nickte und hielt mir ihr hektisch blinkendes WLAN-Armband unter die Nase. Sie drückte mit dem Nagel ihres Zeigefingers auf einen winzigen Knopf, um die blinkenden LEDs auszuschalten, und flüsterte: »Es bedeutet, dass sie hier sind und wahrscheinlich für den Umzug packen. Und das bedeutet wiederum, dass wir so leise wie möglich sein müssen.«

 

Im Inneren des Gebäudes war es stockfinster.

Eingehüllt in die lichtlose Stille, schlichen wir uns an formlosen Umrissen vorbei. Plötzlich stieß Jen gegen irgendetwas, das mit einem scheußlichen Scheppern über den Betonboden schrappte. Wir verfielen in Schockstarre, bis das Geräusch verhallt war. Dem Echo nach zu urteilen, befanden wir uns in einer riesigen Halle.

Als meine Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, kamen mir die schemenhaften Umrisse um mich herum merkwürdig vertraut vor, so als wäre ich schon einmal hier gewesen. Ich bemühte mich, Formen aus dem Dunkel herauszulösen, und identifizierte sie als Tische – Tische mit hochgestellten Stühlen.

Ich zupfte Jen am Ärmel, damit sie stehen blieb.

»Wie sieht das hier für dich aus?«, flüsterte ich.

»Keine Ahnung. Wie ein geschlossenes Restaurant?«

»Oder wie eine Kulisse, die wie ein Restaurant aussehen soll. Zum Beispiel so wie das in dem PooSham-Spot.« Ich strich über einen der Stühle und versuchte mich an den Film zu erinnern. »Das, wo der Typ Fasta al Porno und Wuscheln in Meisweinsoße bestellt.«

Sie blickte sich um. »Bist du sicher?«

»Nein.« Ich blinzelte in die Dunkelheit und schälte weitere Formen aus ihr heraus. »Sind das da hinten alte Theatersessel? «

»Wie kommst du darauf?«

»Weil in dem Spot auch eine Szene in einem Theater spielt.«

»Warum sollten sie denn im Studio ein Theater nachbauen?« Jen schüttelte den Kopf. »Wir sind hier in New York, der Theaterhauptstadt schlechthin, da hätten sie ja wohl an einem Originalschauplatz drehen können.«

»Hm.« Ich ging zu den Sesseln rüber. Es waren nur fünf Reihen mit jeweils etwa zehn Sesseln, vor denen ein roter Samtvorhang hing. Aber Jen hatte recht. In einer Stadt, in der es so viele Theater gab, von Restaurants gar nicht zu reden, wäre es verrückt gewesen, einen Haufen Geld für ein aufwendiges Filmset auszugeben. »Vielleicht wollten sie nichts dem Zufall überlassen und alles im absolut Geheimen vorbereiten.«

»Vielleicht sind sie auch einfach nur bescheuert«, raunte Jen.

»Was das angeht, bin ich mir ziemlich sicher …«

»Scht!« Jen erstarrte. Dann neigte sie den Kopf und deutete nach links in die Dunkelheit.

Ich hörte eine Stimme durch die finstere Weite hallen.

»Ist das nicht …?«, flüsterte Jen.

Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der die Stimme kam, und lauschte angestrengt. Auf der anderen Seite des Raumes war ein hauchdünner Lichtstreifen zu erkennen, Licht, das unter einer geschlossenen Tür hervorschimmerte und sich kurz verdunkelte, als jemand auf der anderen Seite vorbeiging. Die Stimme redete immer weiter, und obwohl aus der Entfernung kein Wort zu verstehen war, kannte ich den scharfen Tonfall nur zu gut.

Es war der Ton, in dem Mandy Wilkins immer redete, wenn sie echt sauer war.