Kapitel
ZWANZIG
Tina Catalina empfing uns in Jogginghose und einem Schlafanzugoberteil, das mit japanischen Zeichentrickfiguren bedruckt war – mit schlecht gelaunten Pinguinen, freudestrahlenden Kraken und einem Kätzchen, das mit Vornamen auf ein weltweit gebräuchliches Begrüßungswort hört.
»Neue Frisur, Hunter?«
»Gut beobachtet. Du erinnerst dich doch bestimmt noch an Jen, oder?«
Tina blinzelte schlaftrunken. »Ach ja, von der Fokusgruppe gestern. Was du da gesagt hast, hat mir gut gefallen, Jen. Sehr cool.«
»Danke.«
Tina runzelte die Stirn. »Aber sag mal, deine Haare … waren die nicht irgendwie … länger?«
Jen fuhr sich reflexartig über ihren geschorenen Skalp. »Ich hatte Lust auf was Neues.«
»Verstehe.« Tina trat einen Schritt zurück und musterte interessiert meinen Smoking und Jens Prinzessinnenkleid. »Und nach dem gemeinsamen Friseurbesuch ging’s dann direkt zum Abschlussball? Gibt es die heutzutage überhaupt noch?«
»Eine Launchparty, um genau zu sein.« Ich nestelte an meinem zerrissenen Tausend-Dollar-Ärmel. »War ein ziemlich langer Tag.«
»Ist nicht zu übersehen. Und was hat es mit den knallroten Händen auf sich? Soll das so ein Retro-Punk-Ding sein?«
»Ein Retro-Punk-Ding, genau.«
»Ganz niedlich, irgendwie.«
Tina führte uns in ihre rosafarben gestrichene Küche, in der brutal grelle Lichtverhältnisse herrschten. Der Raum war mit winkenden Glückskatzen aus Porzellan dekoriert, überall standen Kochutensilien in Form von japanischen Zeichentrickfiguren herum, und die Platte des kleinen Küchentischs war herzförmig.
Tina schaltete gähnend eine Kaffeemaschine an, die die Form eines grinsenden Froschs hatte.
»Haben wir dich aus dem Bett geholt?«, fragte Jen.
»Nein, ich war wach. Wollte gerade frühstücken.«
»Du meinst zu Abend essen?«
»Nein, frühstücken. Jetlag, du weißt schon.«
»Tina ist ein Flugmeilen-Junkie«, erklärte ich. »Ihre innere Uhr tickt noch nach Tokioer Zeit.«
Tina nickte schläfrig und holte eine Packung Eier aus dem Kühlschrank. Wegen ihres Jobs flog sie alle paar Wochen nach Japan, wodurch sie ständig mit unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten jonglieren und zwischen japanischen und amerikanischen Zeitzonen hin- und herschalten musste. Sie strukturierte ihr Leben um den Jetlag herum. Das gleißende Licht in der Küche stammte von speziellen Tageslichtlampen, die ihrem Hirn vorgaukelten, die Sonne würde scheinen. Ein großes Diagramm an der Wand dokumentierte den komplizierten Verlauf ihrer Schlafenszeiten.
Es war ein aufreibendes Leben, aber das Cool Hunting in Japan zahlte sich aus. Tina war dafür berühmt, als Allererste eine neue Spezies von Handys entdeckt zu haben, die sich in Amerika erst jetzt langsam durchsetzte. Halb Telefon, halb elektronisches Haustier, musste man es füttern (indem man eine bestimmte Nummer eintippte), seine sozialen Kontakte pflegen (indem man regelmäßig mit anderen Haustier-Handy-Besitzern telefonierte) und bespaßen (indem man lustige kleine Handygames mit ihm spielte). Im Gegenzug rief es seinen Besitzer regelmäßig an und schnurrte ihm Liebesbotschaften ins Ohr. Der Suchtfaktor wurde außerdem noch dadurch erhöht, dass alle registrierten Besitzer automatisch an einem globalen Wettbewerb teilnahmen – die Rangliste wurde minütlich aktualisiert – und diejenigen mit dem höchsten Punktestand Freiminuten gewannen, mit denen sie ihrer Leidenschaft noch obsessiver frönen konnten. In Japan war das Ganze mithilfe einer Open-Source-Software von Usern entwickelt worden, aber hier in den Staaten hatten sich die großen Handyprovider die Rechte gesichert und Tina war prozentual am Umsatz beteiligt.
Abgesehen vom finanziellen Aspekt war Tina verrückt nach allem, was niedlich und kulleräugig war, also nach allem, worauf die Japaner quasi das Monopol hatten.
Ihr Reiskocher, der rosa war und wie ein Häschen aussah, sagte mit hoher Piepsstimme etwas auf Japanisch. Wahrscheinlich, dass der Reis gar war.
»Auch was?«, fragte Tina.
»Ich hab schon auf der Party gegessen«, lehnte Jen ab.
»Und ich sterbe vor Hunger«, sagte ich – obwohl Tina unter Essen gefriergetrocknete Kaiserschoten und extrem salzige Algenküchlein verstand, aber ich stand kurz vor einer Ohnmacht durch Unterzuckerung.
Sie verteilte sparsam Reis in zwei Schalen.
»Also, was liegt an, Hunter-chan? Irgendwelche Haustier-Handys in der Schule entdeckt?«
»Es ist Sommer, Tina. Bei uns in Amerika geht man im Sommer nicht in die Schule. Man hat Ferien.«
»Ach ja, richtig.«
»Sag mal, hast du vielleicht was von Mandy gehört?«
»Seit dem Treffen gestern?« Tina zuckte mit den Achseln. »Nein. Warum?«
»Sie ist verschwunden.«
Tina stellte eine Schale vor mich hin und setzte sich. Ich schaute auf meine Mahlzeit hinunter – aus dem Reisbett starrte mir ein rohes Ei entgegen.
»Verschwunden?« Tina goss Sojasoße über ihr rohes Ei, verrührte das Ganze zu einer braunen Pampe und streute noch eine Prise Cayennepfeffer darüber. Ungeachtet dessen, dass mir bei diesem Anblick schlecht wurde, knurrte mein Magen.
»Sie wollte sich mit uns in der Stadt treffen«, erklärte Jen. »Aber als wir zum Treffpunkt kamen, war sie nicht da. Wir haben nur noch ihr Handy gefunden.«
»Oje, das arme Ding«, gurrte Tina und meinte das Telefon. Sie sah aus, als hätte ich gerade von einem am Straßenrand ausgesetzten Welpen erzählt.
»Mandy ist wie vom Erdboden verschluckt, aber in der Zwischenzeit sind ein paar sehr seltsame Sachen passiert«, fügte ich hinzu. »Bei einer könntest du uns behilflich sein. Wir waren heute Abend auf einer Party, da wurde ein ziemlich komischer Spot gezeigt, von dem wir Kopfschmerzen bekommen haben.«
»Wie bitte?«
»Na ja, die haben da Werbung für so ein Shampoo gemacht … das in Wirklichkeit ein purpurrotes Färbemittel ist.« Ich hob meine Retro-Punk-Hand. »Ich meine …«
»Was er meint, ist das hier«, kam Jen mir zu Hilfe und richtete ihre PooSham-Kamera direkt auf Tina. Ich hatte kaum Zeit, die Augen zuzukneifen, als das mir mittlerweile vertraute Flackern auch schon wie ein Presslufthammer durch die Augenlider drang.
Als ich sie wieder aufklappte, lag auf Tinas Gesicht derselbe verwirrte Ausdruck wie auf dem des PooSham-Spot-Publikums.
»Puh. Das war vielleicht schräg.«
»Ja, das fanden die Leute auf der Party auch«, sagte ich. »Mich erinnert das Ganze an so eine Geschichte, die ich mal über eine japanische Zeichentrickserie gehört hab. Die soll angeblich irgendwelche Anfälle ausgelöst haben, weißt du was darüber?«
»Das ist keine Geschichte, Hunter«, sagte Tina, die immer noch leicht benommen aussah. »Das ist die achtunddreißigste Folge.«
»Ihr habt es so gewollt«, warnte Tina uns. »Gebt also bitte nicht mir die Schuld, falls ihr es nicht überleben solltet.«
Jen und ich sahen uns an. Wir waren in Tinas Wohnzimmer umgezogen, wo tatsächlich noch ein Videorekorder stand und ich feststellte, dass Reis mit rohem Ei und Sojasoße ziemlich lecker schmeckt. Zumindest wenn man am Verhungern war. Laut Tina aßen das japanische Kinder jeden Morgen zum Frühstück – also nach Tokioer Zeit ungefähr genau jetzt. Vielleicht erlebte ich ja gerade eine Art transpazifische Bewusstseinsverschmelzung.
»Falls wir es nicht überleben sollten?«, hakte Jen nach.
»Na ja, so richtig gestorben ist natürlich niemand. Aber insgesamt mussten etwa sechshundert Kinder ins Krankenhaus eingeliefert werden.«
»Weil sie ferngesehen haben?«, fragte Jen. »Hört sich nicht besonders glaubwürdig an.«
»Ist aber genau so passiert, und zwar am 16. Dezember 1997 – ein Datum, das als Tag der Schande in die Geschichte einging, um es mal mit Roosevelts Worten von 1941 zu sagen. Das Ansehen japanischer Animes hat damals ganz schön gelitten, das kann ich euch sagen.«
»Und du hast dir die Folge tatsächlich angeschaut?«, fragte ich. »Freiwillig?«
»Klar. Schon allein aus persönlichem Interesse. Außerdem war nur einer von zwanzig Zuschauern davon betroffen, und zwar hauptsächlich Kinder. Wenn ich mich richtig erinnere, lag das Durchschnittsalter bei zehn Jahren. Ich glaub also nicht, dass wir zur Risikogruppe gehören.«
Ich fühlte mich gleich ein bisschen besser.
»Aber es war eine Zeichentrickserie für Kinder«, hielt Jen dagegen. »Vielleicht waren Erwachsenen nur deswegen nicht betroffen, weil sich kaum welche die Sendung angeguckt haben. «
Ich fühlte mich gleich ein bisschen weniger besser und wünschte mir meine schützenden Zotteln zurück.
»Die Wissenschaftler, die das Phänomen danach untersucht haben, sind anderer Meinung«, sagte Tina. »Nachdem am Nachmittag die ersten Kinder ins Krankenhaus eingeliefert wurden, wurde der entsprechende Ausschnitt abends landesweit in den Nachrichten ausgestrahlt.«
»Die haben ihn ein zweites Mal gezeigt?«, fragte Jen fassungslos.
»Riesenstory, Riesenquote. Jedenfalls waren es wieder hauptsächlich Kinder, die ins Krankenhaus gebracht werden mussten, obwohl die Nachrichten von Menschen aller Altersgruppen geschaut werden. Man geht davon aus, dass Kinder deswegen verstärkt davon betroffen sind, weil sich ihr Gehirn und ihr Nervensystem noch in der Entwicklung befinden.«
»Aber auf der Hoi Aristoi-Party waren keine Kinder«, sagte Jen. »Und es hatte auch niemand einen richtigen Anfall. Die Leute haben bloß angefangen, lustiges Zeug zu reden und sich ziemlich danebenzubenehmen.«
»Hm«, machte Tina. »Klingt, als hätte man auf eurer Party eine abgewandelte Form der Paka-Paka-Technik eingesetzt.«
»Der was?«
»Japanische Animatoren arbeiten häufig mit vielfarbigen Stroboskopeffekten«, erklärte Tina. »Sie haben sogar einen Namen dafür: paka paka. Folge achtunddreißig war schlicht und ergreifend ein Unfall: Die Macher haben rein zufällig die exakte Blitzfrequenz erwischt, die bei Kindern krankenhausreife epileptische Anfälle auslöst. Beabsichtigt war das jedenfalls nicht.«
Jen nickte. »Aber vielleicht haben die Veranstalter der Party Paka-Paka vorher getestet und es ganz bewusst eingesetzt. Vielleicht haben sie herausgefunden, mit welcher Blitzfrequenz es auch bei Jugendlichen und Erwachsenen funktioniert.«
»Sodass alle betroffen sind?« Tina runzelte skeptisch die Stirn.
»Ein reizender Gedanke«, sagte ich.
»Was hat das Ganze eigentlich mit Mandy zu tun?«, wollte Tina wissen.
Jen und ich schauten uns an.
»Das wissen wir nicht«, gab ich zu.
»Diejenigen, die es wissen, haben uns zu dieser Party eingeladen«, setzte Jen hinzu. »Aber wir haben keine Ahnung, wer sie sind oder was sie vorhaben, außer dass sie es anscheinend darauf anlegen, völliges Chaos in den Köpfen der Leute anzurichten. «
Tina wedelte mit der Fernbedienung. »Genau wie Folge achtunddreißig. Also was ist, wollt ihr sie jetzt sehen oder nicht?«
Jen nickte. »Ich sterbe vor Neugier.«
»Treffende Wortwahl«, murmelte ich.
Tina schaltete den Fernseher ein. »Ihr dürft nur nicht zu nah rangehen. Je näher man davorsitzt, desto krasser die Wirkung, heißt es.«
Ich griff nach meiner Reispampe und eilte zur Couch zurück. Jen blieb sitzen, wo sie war – bereit, die Welle zu reiten. Wie schon gesagt: Den meisten Innovatoren fehlt das Risiko-Einschätzungs-Gen.
Vielleicht war es aber auch einfach nur gesunde Skepsis. Dass einem Fernsehen ernstlich gefährlich werden könnte, war irgendwie nur schwer nachvollziehbar – etwa so, als würde man herausfinden, dass ein früherer Babysitter ein Serienkiller war.
»Okay«, sagte Tina. »Dann mal los. Das ist Folge achtunddreißig, auch bekannt als ›Computer Warrior Polygon‹.«
Der Bildschirm erwachte mit dem typischen »Kopie einer Kopie einer Raubkopie«-Flimmern zum Leben.
Ich hoffte, dass die niedrige Auflösung uns einen zusätzlichen Schutzschild verschaffen würde.
Eine Überschrift wurde eingeblendet:
Warnung: NICHT für Kinder geeignet.
Kann epileptische Anfälle auslösen.
Ich lehnte mich so weit es ging auf der Couch zurück.
Der Zeichentrickfilm startete in klassischer Anime-Tradition: Eine Horde schrillstimmiger bunter Wesen – als Handelsmarke bekannte, sich ständig weiterentwickelnde Kampfmonster, die auch als Spielzeugfiguren oder Sammelkarten erhältlich sind – kreischte auf Japanisch durcheinander. Keine Einstellung dauerte länger als eine halbe Sekunde.
»Ich hab schon einen Anfall«, verkündete ich über den Lärm hinweg.
Tina spulte vor, was nicht wirklich half.
Nach ein, zwei im Hyperantrieb verbrachten Minuten fuhr sie das Chaos wieder auf Normalgeschwindigkeit herunter. »Also, was bisher geschah: Pikachu, Ash und Misty sind in einem Computer. Ein Antivirusprogramm versucht sie auszulöschen, indem es Raketen auf sie abschießt.«
»Benutzen Antivirusprogramme öfter Raketen?«, fragte Jen.
»Das ist eine Metapher.«
»Ah«, sagte Jen. »Wie Tron, nur auf zu vielen Frappuccinos.« (Ich war so davon beeindruckt, dass sie diesen Meilenstein in der Geschichte der computeranimierten Filme kannte, dass ich das Product-Placement hier ausnahmsweise mal durchgehen lasse.)
Inmitten der rasant aufeinanderfolgenden Bildsequenzen entdeckte ich tatsächlich abgeschossene Raketen. Dann stürmte Pikachu, der gelbe, mausartige Protagonist der Serie, nach vorne, stieß einen jaulenden Schlachtruf aus und schoss einen seiner Donnerblitze ab.
»Und los geht’s«, raunte Tina.
Ich kniff die Augen zusammen und hoffte, dass Jen ebenfalls ihren natürlichen Sichtschutz aktivierte. Als Pikachus Blitz in die Raketen fuhr, begann der Bildschirm stakkatoartig rot und blau aufzuflackern und infernalische Farbzuckungen gegen die weißen Wände des Wohnzimmers zu werfen. Das Ganze dauerte sechs lange Sekunden, dann war es vorbei.
Leichte Kopfschmerzen, mehr nicht. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus.
»Das waren dieselben Farben wie bei dem PooSham-Spot«, stellte ich fest.
Tina nickte. »Rot wirkt am heftigsten.«
»Aber so heftig wie auf der Party war es nicht. Was meinst du, Jen?«
Sie antwortete nicht. Ihre grünen Augen waren auf die sich immer noch hektisch aneinanderreihenden Bildsequenzen der Zeichentrickserie gerichtet. Fand sie die Story wirklich so faszinierend?
»Jen?«
Sie sackte nach vorne und kippte zur Seite weg.