Kapitel
SIEBENUNDZWANZIG
Mit einer kleinen Schnecke anfangen und daraus ein riesiges Imperium erschaffen?
Klingt unmöglich, aber genau das ist den Phöniziern vor ungefähr viertausend Jahren gelungen. Ihr winziges Königreich lag eingekeilt zwischen dem Mittelmeer und einer riesigen Wüste: keine Goldminen, keine Olivenbäume und weit und breit keine einzige sich sanft im Wind wiegende Weizenähre. Das Einzige, woran es den Phöniziern nicht mangelte, war eine bestimmte Meeresschnecke, die einfach so am Strand herumlag. Diese Schnecken schmeckten zwar lecker, hatten aber einen großen Nachteil – aß man zu viele davon, bekam man rote Zähne.
Klar, dass die meisten Leute das ziemlich bescheuert fanden. Wahrscheinlich sagten sie so was wie: »Schön und gut, diese Schnecken schmecken echt nicht schlecht, aber wer will schon rote Zähne haben?«, dachten aber ansonsten nicht weiter darüber nach.
Bis eines Tages ein archaischer Innovator auf eine verrückte Idee kam:
Okay, stellt euch vor, ihr lebt im damaligen Ägypten, Griechenland oder Persien und seid reich. Ihr habt ohne Ende Gold, Olivenöl und Mehl. Aber eure feinen Gewänder werden ausschließlich in den folgenden Farbvarianten angeboten: Hellbeige, mittelbeige und dunkelbeige. Ihr kennt die Bibelverfilmungen: Alle rennen in gedeckten Erdfarben herum – etwas anderes gab es nicht, etwas anderes hätten die sich im Traum nicht vorstellen können.
So, und dann kommt da eines Tages eine Bootsladung Phönizier angeschippert – und die verkaufen purpurroten Stoff. Purpurrot!
Nichts wie ab ins tote Meer mit den beigen Fetzen!
Eine Weile lang ist Purpurrot der Renner, der größte Hype seit der Erfindung des Rads. Nachdem die Leute ihr Leben lang Tuniken in sechzehn unterschiedlichen Beigetönen getragen haben, stehen sie jetzt nach dem coolen neuen Stoff Schlange. Er ist wahnwitzig teuer – was zum einen an der großen Nachfrage liegt und zum anderen daran, dass man für eine Unze Farbstoff ungefähr zweihunderttausend dieser Schnecken zerquetschen muss – und schon bald schwimmen die Phönizier nur so im Geld (eigentlich schwimmen sie in Gold, Olivenöl und Weizen, aber das Bild ist klar, oder?).
Ein Handelsimperium ist geboren. Und was das Branding betrifft: Der Name »Phönizier« leitet sich vom altgriechischen Wort »phoinix« ab, was so viel wie »Purpur« heißt. Man ist, was man verkauft.
Irgendwann passiert etwas Interessantes. Die Machthabenden beschließen, dass Purpurrot schlicht zu cool ist, als dass jeder Dahergelaufene es tragen dürfen soll. Also belegen sie den purpurroten Stoff erst mit einer Steuer und verabschieden dann ein Gesetz, das es den hoi polloi verbietet, Purpurrot zu tragen (als würden die sich das überhaupt leisten können); und schließlich erheben sie das Tragen purpurroter Gewänder sogar zum alleinigen Vorrecht von Königinnen und Königen.
Im Laufe der Jahrhunderte verbreitet sich dieser Dresscode praktisch weltweit und brennt sich so tief ins kollektive Gedächtnis ein, dass Purpurrot sogar heute noch, viertausend Jahre später, als Farbe der Monarchen gilt. Und das alles nur, weil ein Innovator irgendwann um 600 bis 700 vor Christus auf die Idee gekommen ist, aus den zahnverfärbenden Schnecken etwas Cooles zu machen. Nicht übel.
Und warum erzähle ich euch das alles?
Ein paar Tage nach der Launchparty von Hoi Aristoi – als in New York Gerüchte über plötzlich rothaarige Blaublütler die Runde machten und eine beachtliche Anzahl der wohlhabendsten Mitglieder der Gesellschaft in die Hamptons verschwanden, um sich in nobler Abgeschiedenheit die Farbe herauswachsen zu lassen – ließ ein besorgtes Elternpaar den Inhalt einer halb leeren Flasche PooSham untersuchen. Es wurde festgestellt, dass das Shampoo Wasser enthielt, Natriumlaurylsulfate und eine unglaublich hohe, aber medizinisch völlig unbedenkliche Konzentration von biologisch reinem Purpurfarbstoff.
Eines musste man dem Anti-Klienten lassen: In Geschichte hatte er gut aufgepasst.

Vivienne de Winter war für niemanden zu sprechen.
Wir befanden uns in der Lobby eines eleganten Apartmentgebäudes auf der Fifth Avenue, in dem außer millionenschweren Spitzensportlern und Softwaremilliardären auch noch ein Musiker wohnte, der sich als Künstler so nennt, wie normalerweise die Söhne von Königen bezeichnet werden (und dessen größter Hit auch noch das Wort »purple« im Titel trägt. Na, klingelt da was?). Der Portier trug eine geschmackvolle purpurrote Uniform, die ganz hervorragend zum purpurroten Bezug der Klubsessel passte, die in der marmor- und goldgetäfelten Lobby standen. Was beweist, dass sich in den letzten viertausend Jahren nicht besonders viel verändert hat. Na ja, außer vielleicht, dass mittlerweile auch Bedienstete wieder Purpurrot tragen dürfen.
»Miss de Winter ist leider unpässlich«, teilte der Portier uns mit.
»Oh, das tut mir leid zu hören«, sagte ich. »Ähm, haben Sie sie heute zufällig schon gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat ihr Apartment noch nicht verlassen.«
»Könnten Sie ihr vielleicht trotzdem kurz Bescheid geben, dass wir hier sind?«, bat Jen.
»Es waren vorhin schon mal ein paar Freunde hier, aber sie sagte, dass sie ihr Apartment heute nicht verlassen wird.« Der Portier räusperte sich. »Genauer gesagt ließ Miss de Winter ausrichten, dass sie ihr Apartment für den Rest des Jahres nicht mehr verlassen wird. Nun ja, Sie wissen vielleicht, wie sie sein kann …«
Und ob ich das wusste. Falls Vivienne tatsächlich unter einer akuten PooSham-Verfärbung litt, konnte ich nur froh sein, keine Audienz zu bekommen.
»Tja dann, zu schade …« Ich wollte gerade höflich den Rückzug antreten, als ich hörte, wie Jen etwas in ihr Handy sagte. Der Portier und ich drehten uns fassungslos zu ihr um. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Jen sich Viviennes Telefonnummer von der Liste abgeschrieben hatte, und er hatte wahrscheinlich noch nie jemanden so mit Miss de Winter sprechen hören.
»Vivienne? Hey, hier ist Jen – wir haben uns vor zwei Tagen auf Mandys Coolnessprobe kennengelernt … Hunter und ich stehen unten in der Lobby und an deiner Stelle würde ich jetzt gut zuhören. Ich gehe mal davon aus, dass du dir heute Morgen die Haare gewaschen hast und jetzt ein kleines, ähm … purpurrotes Problem hast. Wenn du uns einen Moment deiner kostbaren Zeit schenken würdest, wären wir unter Umständen in der Lage, dir zu helfen. Aber falls wir lieber wieder gehen sollen …«
Keine Sekunde später erwachte die Gegensprechanlage hinter dem Empfang zum Leben und Viviennes Stimmte hallte dumpf durch die Lobby.
»Reginald? Würden Sie die beiden bitte nach oben schicken? «
Reginald blinzelte verblüfft, brauchte einen Moment, bis er sich so weit gesammelt hatte, dass er ihr antworten konnte, und deutete dann auf den Fahrstuhl.
»Zwanzigster Stock«, raunte er, ein aufrichtig bewunderndes Leuchten in den Augen.
Vivienne erwartete uns im Garten, genauer gesagt, auf ihrer riesigen, den Central Park überblickenden Dachterrasse, und war von Kopf bis Fuß in feinstes Frottee gehüllt. Ihre Haut wirkte gut durchfeuchtet, ihre Fingerkuppen waren aufgeweicht und schrumpelig – alles Indizien dafür, dass sie den Tag bereits mit ausgiebigem Duschen und Baden verbracht hatte –, und ihre Augen waren vom vielen Weinen verquollen. Gesicht, Hände und Unterarme und ein paar vorwitzig unter ihrem Handtuchturban hervorschauende Haarsträhnen leuchteten in kräftigem, königlichem Purpurrot.
Sie sah richtig gut aus. Ihre Haut hatte die Farbe gleichmäßig angenommen und stand jetzt in einem fantastischen Kontrast zu ihren blauen Augen. Vivienne verdankte ihren Coolnessfaktor einem Moderatorinnenjob bei einem bekannten Musiksender – nach dem bewährten Schema: nett anzusehende VJane interviewt angesagte Bands und Solokünstler. Ihre Gesichtszüge waren so aristokratisch wie ihr soziales Netzwerk, und obwohl mir ihr Style immer zu mainstreamig gewesen war, verlieh ihr der purpurrote Teint jetzt eine gewisse avantgardistische Szenetauglichkeit.
»Warum siehst du so normal aus, Hunter?«, rief sie empört, als Jen und ich auf die sonnenbeschienene Terrasse traten. Ich hörte, wie sich das Hausmädchen, das uns durch das riesige, mehrere Etagen umfassende Apartment hierhergeführt hatte, eilig zurückzog.
»Was meinst du mit normal?«, fragte ich.
»Nicht rot!«
Ich hob meine Hände, die immer noch von meiner kurzen, aber intensiven Erfahrung mit PooSham zeugten.
»Ach ja, stimmt …« Sie runzelte die purpurrote Stirn, als müsste sie sich durch einen alkoholbedingten Gedächtnisnebel kämpfen, um sich an den gestrigen Abend zu erinnern. »Ich hab dich auf der Party gefragt, was mit deinen Händen passiert ist.«
»Genau«, bestätigte ich und fragte mich, worauf sie eigentlich hinauswollte.
»Hunter! Du hattest diesen Albtraum schon an den Händen, als wir uns gestern Abend gesehen haben. Warum hast du mich nicht gewarnt?«
Ich öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an und klappte ihn wieder zu. Gute Frage. Vermutlich hatte ich mir zu viele Sorgen darum gemacht, genau wie Mandy in Geiselhaft genommen zu werden, als dass ich Zeit gehabt hätte, eine Horde Blaublütler vor purpurroten Skalps zu bewahren (offen gestanden hatte ich noch nicht einmal ansatzweise darüber nachgedacht, jemanden zu warnen).
»Na ja, weißt du, das war alles ein bisschen kompliziert gestern Abend, und …«
»Wir waren quasi undercover auf der Party«, kam Jen mir zu Hilfe. »Wir haben versucht, herauszufinden, wer hinter dem Ganzen steckt.«
»Undercover?« Vivienne zog eine purpurrote Augenbraue nach oben. »Verdammt noch mal, wovon redest du? Und wer bist du überhaupt?«
»Wir haben uns neulich …«
»Ich weiß, dass wir uns neulich auf der Coolnessprobe begegnet sind, aber woher kommst du? Und warum passieren, seit du aufgetaucht bist, auf einmal lauter seltsame Dinge?«
Viviennes mit purpurroter Empörung hervorgestoßene Worte ließen mich aufhorchen. Seit ich Jen kannte, passierten tatsächlich ständig seltsame Dinge – der Gedanke war mir selbst auch schon ein paarmal gekommen. Aber in einem Moment vollkommener geistiger Klarheit begriff ich, dass all diese seltsamen Dinge auch passiert wären – nur eben ganz weit von meiner kleinen Welt entfernt –, wenn ich Jen nicht getroffen hätte. Ich wäre nie auf die Launchparty gegangen oder in die Agenturräume von Movable Hype eingebrochen. Und hätte Jen auf der Coolnessprobe nicht die Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation erwähnt, hätte Mandy sich nie mit uns vor dem verlassenen Gebäude verabredet. Vielleicht wäre sie an jenem Vormittag noch nicht einmal selbst dorthin gegangen und wäre jetzt immer noch hier, würde Coolnessproben organisieren und Fotos von Typen in Flatcaps machen, anstatt … nicht hier zu sein.
Aber Jen war nicht schuld an Viviennes purpurrotem Antlitz. Die Launchparty für Hoi Aristoi war monatelang geplant worden. Jen war kein Unglücksbote, der all das heraufbeschworen hatte; sie war eher ein Kompass, der mich mit untrüglicher Sicherheit mitten hinein ins Zentrum des Chaos geführt hatte. Oder so ähnlich.
Ich beschloss, mir später den Kopf darüber zu zerbrechen. »Wie Jen schon gesagt hat, waren wir undercover auf der Party. Mandy ist seit gestern verschwunden und wir sind auf der Suche nach ihr.«
»Mandy?« Vivienne hob die Bloody Mary – der klassische Katerkiller –, die auf dem Tischchen neben ihrem Klubsessel stand, an die Lippen und leerte das Glas in einem Zug. Selbst purpurrot sah Vivienne ein bisschen grün um die Nase aus, was wahrscheinlich einem Zuviel an Noble Savage geschuldet war. »Was hat sie denn damit zu tun?«
»Das wissen wir selbst noch nicht so genau. Das heißt, eigentlich haben wir keine Ahnung«, präzisierte ich.
Vivienne verdrehte die Augen. »Na, dann ist der Fall bei euch ja in den besten Händen, ihr Doppelnullagenten.«
»Die Sache ist ein bisschen kompliziert. Aber wir sind den Leuten, die hinter der PooSham-Aktion stecken, schon ziemlich dicht auf den Fersen. Wir bräuchten bloß noch ein paar Informationen von dir.«
Vivienne schluchzte auf. »Du hast mich ahnungslos im Blitzlichtgewitter stehen gelassen, Hunter. Dabei musst du da schon gewusst haben, dass es ein Färbemittel war.«
»Äh, ja, muss ich wohl. Aber ich hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung, was überhaupt los war. Diese ganzen bunten Kamerablitze haben mich total kirre gemacht.«
»Eine Frage, Vivienne«, schaltete Jen sich ein. »Als du aus der Dusche gestiegen bist und dich im Spiegel gesehen hast, hast du dich da sofort ans Telefon gehängt, um alle deine Freunde zu warnen?«
»Ich …«, setzte Vivienne an und schwieg dann verwirrt. »Vielleicht nicht sofort, aber das war heute Morgen. Hunter hat schon gestern Abend auf der Party gewusst, dass mit dem Zeug irgendwas faul ist.«
»Und wo genau liegt jetzt dein Problem …?«, hakte Jen nach.
Viviennes purpurroter Teint nahm vorübergehend eine noch sattere Färbung an. »Mein Problem? MEIN PROBLEM? Wenn du so rot wärst wie ich, würdest du wissen, wo mein verdammtes Problem liegt, und dich nicht über mich lustig machen.«
»Ich will mich doch nicht über dich …«, begann Jen, hob dann aber entschuldigend die Hände. »Wobei du schon zugeben musst, dass die ganze Sache nicht ganz unlustig ist.«
Vivienne seufzte genervt. »Dann habt ihr jetzt ja euren Spaß gehabt. Hunter – ich glaube, es ist besser, wenn ihr beide jetzt geht.« Sie betätigte mit spitzem Zeigefinger einen Knopf an einer kleinen, kabellosen Gegensprechanlage, die neben ihrem leeren Bloody-Mary-Glas stand, worauf entfernt ein Klingelton durch die unendlichen Weiten des Apartments hallte.
»Hör zu, Vivienne«, versuchte ich es noch einmal. »Es tut mir leid, dass ich dich nicht vor dem PooSham-Shampoo gewarnt habe, aber wir können die Leute finden, die dir das angetan haben.«
Sie starrte mich finster an. »Das nützt mir jetzt auch nichts mehr.«
»Aber wenn wir sie finden«, sagte Jen, »finden wir vielleicht auch das Gegenmittel.«
Das Hausmädchen kehrte zurück und verharrte schweigend in der Terrassentür, während Vivienne die Augen zusammenkniff und Jen mit Blicken durchbohrte.
»Gegenmittel?«
Jen zuckte mit den Schultern. »Etwas, womit sich die Farbe rauswaschen lässt.«
»Noch eine Bloody«, orderte Vivienne und klimperte, den Blick nach wie vor auf Jen geheftet, mit dem Eis in ihrem leeren Glas. Das Hausmädchen löste sich augenblicklich in Luft auf.
Nachdem sie einen Moment lang nachgedacht hatte, fragte Vivienne: »Was braucht ihr?«
»Sämtliche Namen der Leute, die für die Abonnentenliste von Hoi Aristoi bezahlt haben«, sagte ich.
»Die Adressenliste? In Ordnung, dazu muss ich ein paar Anrufe machen.« Sie beugte sich vor, zog den Strohhalm aus ihrem leeren Glas und zeigte damit drohend auf mich wie mit einem Dolch. »Aber dieses Mal hältst du mich besser auf dem Laufenden, Hunter. Oder du wachst eines Morgens mit etwas Schlimmerem als roten Haaren auf.«