Kapitel
FÜNF
»Hallo?« Ich hämmerte mit den Fäusten gegen die Bretter.
»MANDY!«
Wir warteten. Keine Antwort.
Um ganz sicherzugehen, rief ich noch einmal bei ihr an.
»Take a chance on me … «, dudelte es hinter den Graffiti und den Plakaten hervor.
»Okay«, sagte Jen. »Mandys Handy ist da drin.«
Keiner von uns stellte die naheliegendste Frage: Und wo ist dann Mandy? Ganz woanders? Ebenfalls da drin, aber bewusstlos? Oder war ihr etwas zugestoßen, das schlimmer war, als bewusstlos zu sein?
Jen entdeckte eine Stelle, an der zwei der Bretter wie eine Flügeltür mit einem an einer Kette hängenden dicken Vorhängeschloss gesichert waren, und zwängte sie so weit auseinander, wie die Kette es zuließ. Sie schirmte die Augen mit einer Hand ab und spähte durch den schmalen Spalt in den Raum.
»Bitte noch eine Zugabe, Maestro.«
Ich tippte auf Wahlwiederholung und die vier Skandinavier legten sich erneut ins Zeug. Aus irgendeinem Grund ging mir der Refrain heute noch mehr auf die Nerven als sonst.
»Da drin blinkt was. Das könnte ihr Handy sein«, sagte Jen. »Aber es ist zu dunkel, um was zu erkennen.«
Wir gingen ein paar Schritte zurück, stellten uns an die Bordsteinkante und blickten an dem baufälligen Gebäude hinauf. Die Fenster in den oberen Stockwerken waren zugemauert und starrten wie tote graue Augen auf uns herab. Oberhalb der Bretter, mit denen die Fenster verbarrikadiert waren, war Stacheldraht gespannt, in dessen Dornen die Überreste von Plastiktüten flatterten. Außerdem hatte sich ein halber Meter glänzendes Magnetband von einer Audiokassette im Draht verfangen, das sich in der leichten Brise kräuselte.
Eine Kassette? Das Gebäude musste schon seit Jahren unbewohnt sein, vielleicht seit Jahrzehnten.
»Da kommen wir nicht rein«, stellte ich fest und merkte erst in diesem Moment, dass ich ins Leere sprach.
Jen stand schon auf dem Treppenabsatz des Nachbarhauses und drückte wahllos auf Klingelknöpfe. Die Sprechanlage knisterte und eine undeutliche Stimme fragte etwas.
»Paketdienst«, sagte Jen laut und deutlich.
Der Summer ertönte. Sie drückte die Tür auf, stellte den Fuß dazwischen und winkte mich ungeduldig zu sich.
Ich schluckte. Das hat man davon, wenn man sich mit einer Innovatorin einlässt.
Aber ich bin – wie ich möglicherweise bereits erwähnt oder angedeutet habe – ein Trendsetter, und unser Lebensziel besteht nun mal darin, den Innovatoren zu folgen. Also stieg ich die Stufen hinauf und bekam die Haustür gerade noch zu fassen, bevor sie zufiel, nachdem Jen hindurchgeschlüpft war.
Im dritten Stock streckte ein Mann den Kopf zur Wohnungstür heraus und sah uns verschlafen entgegen.
»Der Typ vom Paketdienst ist hinter uns«, rief Jen ihm zu, als sie an ihm vorbei ins nächste Stockwerk hastete.
Auf dem Treppenabsatz zwischen der fünften und der sechsten Etage entdeckten wir den Zugang zum Dach, aber eine deckenhohe Gitterkonstruktion versperrte uns den Weg ins letzte Stockwerk. Eine übliche Vorsichtsmaßnahme, um zu verhindern, dass Einbrecher übers Dach ins Haus einstiegen. Die Tür ließ sich aus brandschutztechnischen Gründen zwar von innen öffnen, aber quer über dem Bügel pappte ein roter Aufkleber. WARNUNG: ALARMANLAGENGESICHERT
Nach dem steilen Aufstieg rang ich immer noch nach Atem und war erleichtert, dass wir hier nicht weiterkamen. Auch wenn Jen eine Innovatorin war, fand ich die Vorstellung, in ein verlassenes Gebäude einzubrechen, alles andere als cool. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass wir zur Polizei gehen sollten. Mandy war höchstwahrscheinlich überfallen worden und die Diebe hatten ihr Handy in das verlassene Gebäude geworfen.
Aber wo war sie?
»Weißt du, was das Gute an Alarmanlagen ist?« Jen legte ihren Zeigefinger an die Tür.
Meine Erleichterung schwand. »An denen gibt es was Gutes?«
»Klar.« Sie drückte die Tür auf, und das Treppenhaus wurde von einem so ohrenbetäubenden Heulen erfüllt, dass es vermutlich in ganz Chinatown zu hören war. »Sie hören nach einer Weile von selbst wieder auf!«, überbrüllte sie den Alarm und schob sich durch die Tür.
Ich hielt mir die Ohren zu, guckte die Treppe hinunter und stellte mir vor, wie aus allen Türen genervte Hausbewohner stürzten. Dann folgte ich ihr.
Das Dach war geteert und mit Silberfarbe gestrichen, damit die Sommerhitze die Mieter im obersten Stockwerk nicht bei lebendigem Leibe grillte. Wir liefen mit großen Schritten auf den Rand zu, während die Alarmanlage hinter uns so wütend schrillte wie ein gigantischer Teekessel.
Das Nachbarhaus, in das wir einbrechen wollten (ich korrigiere: in das Jen einbrechen wollte — ich war bloß Mitläufer), war etwas niedriger. Ich schätzte, knappe zwei Meter. Jen setzte sich an die Dachkante, sprang und landete mit einem Knall, der sich ziemlich schmerzhaft anhörte, auf dem verwitterten Teerdach.
Ich kletterte vorsichtig hinunter, klammerte mich an der Dachkante fest und ließ mich aus so geringer Höhe wie möglich fallen, was nicht hieß, dass ich mir nicht trotzdem den Knöchel verstauchte.
Ich verzog das Gesicht und humpelte Jen hinterher. Daran war nur der Klient schuld. Hunderte von Turnschuhen und kein einziges Paar darunter, das sich für urbane Hauseinbrüche eignete.
Die Tür, die in das verlassene Gebäude führte, hing wie eine ausgekugelte Schulter nur noch an einer Angel und knirschte metallisch, als Jen sie aufstieß. Dahinter gähnte ein dunkles Treppenhaus, das nach Staub, altem Müll und etwas widerlich Süßem roch, das mich an den Geruch der verwesten Ratte erinnerte, die wir bei uns zu Hause mal gefunden hatten.
Jen warf mir über die Schulter einen Blick zu und schien zum allerersten Mal zu zögern.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber in diesem Moment verstummte der Alarm im Nachbarhaus, und die plötzliche Stille traf uns wie ein Hammerschlag.
Durch das Klingeln in meinen Ohren bildete ich mir ein, vom Nachbardach eine wütende Stimme zu hören.
»Los«, flüsterte ich.
Und wir betraten die Dunkelheit.
Wenn ich durch New York schlendere, frage ich mich oft, was wohl hinter all den Fenstern vor sich geht. Besonders hinter den Fensterhöhlen.
Ich bin schon auf Partys in äußerlich komplett heruntergekommenen Häusern gewesen, die von umtriebigen Hausbesetzern instand gesetzt worden waren. Und jeder weiß, dass Cracksüchtige und Obdachlose in verlassenen Gebäuden hinter den blinden und zugemauerten Fenstern eine unsichtbare Wirklichkeit bewohnen. Es geht sogar das Gerücht, Chinatown hätte eine Geheimregierung und ein uraltes, auf ungeschriebenen Gesetzen und gesellschaftlichen Verpflichtungen beruhendes Rechtssystem, das aus der alten Heimat mitgebracht worden sei. Ich hatte mir immer vorgestellt, diese Regierung würde aus einem der heruntergekommenen Gebäude heraus operieren, dass dort Bürgerversammlungen und Prozesse stattfanden und Bestrafungsaktionen durchgeführt wurden. Hinter diesen leeren, gesichtslosen Fenstern konnte alles Mögliche passieren.
Aber ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages selbst einen Blick dahinter werfen würde.
Die von der Sonne aufgeheizte Luft war schwer zu atmen. Als wir uns nach unten vortasteten, wirbelten in den nur spärlich hereinfallenden Lichtstrahlen Staubwolken auf und Jens Turnschuhe hinterließen deutliche Fußabdrücke auf den schmutzigen Stufen, was mich erleichterte. Vielleicht kam ja nie jemand hierher. Vielleicht standen manche Häuser einfach … leer.
Mit jedem Stockwerk wurde es dunkler.
Nach drei Etagen blieb Jen stehen. Wir warteten, bis unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und lauschten in die Stille hinein. Ich hatte von der Alarmanlage immer noch ein Summen in den Ohren, aber soweit ich es beurteilen konnte, war uns niemand gefolgt.
Wer wäre auch so verrückt gewesen?
»Hast du ein Feuerzeug?«, fragte Jen leise.
»Nein, was Besseres.« Ich stellte mein Handy auf Kamerafunktion und schaltete die Fotoleuchte ein, wobei ich darauf achtete, mich nicht selbst zu blenden. Das Licht durchschnitt die tiefschwarze Dunkelheit wie der Strahl einer kleinen Taschenlampe. Sehr praktisch, wenn man nachts beim Heimkommen nicht gleich das Schlüsselloch findet.
»Gibt es eigentlich auch irgendwas, was dein Wunderhandy nicht kann?«
»Es kann nichts gegen wahnsinnige Cracksüchtige ausrichten«, sagte ich, »oder gegen Soldaten der chinesischen Geheimregierung. «
»Der chinesischen was?«
»Erklär ich dir später.« Wir setzten unseren Weg nach unten fort, wobei das bläuliche Licht des Handys unseren tanzenden Schatten eine geisterhafte Blässe verlieh.
Als wir das Erdgeschoss erreichten, schaltete ich die Fotoleuchte aus. Die Sonnenstrahlen fielen wie Scheinwerfer durch die Ritzen zwischen den Brettern und unsere Augen gewöhnten sich bald an das Dämmerlicht. Das gesamte Geschoss war ein einziger großer Raum mit hoher Decke, der nur durch ein paar massive, viereckige Säulen unterteilt war. Da, wo einmal Schaufenster gewesen waren, versperrten jetzt rohe Holzlatten den Blick nach draußen.
»Irgendjemand war vor Kurzem hier«, sagte Jen.
»Wie kommst du darauf?«
Sie schabte mit der Schuhspitze über den Betonboden.
»Kein Staub.«
Sie hatte recht. Im Sonnenlicht waren kein flirrenden Staubpartikel zu sehen. Der Boden musste erst kürzlich gefegt worden sein. Ich scrollte durch die Nummernliste in meinem Handy und rief noch einmal bei Mandy an. Ein paar Sekunden später ertönte in einer entfernten Ecke des Raums der vertraute Refrain des mehrfach mit Platin ausgezeichneten Hits. Als wir zögernd darauf zugingen, bemerkte ich, dass an der Wand, vor der das blinkende Handy lag, Dutzende Reihen von weißen Kartons aufgestapelt waren. Irgendjemand nutzte das Gebäude offensichtlich als Lager.
Jen kniete sich hin, hob das Handy auf und sah sich nach allen Seiten um.
»Sonst scheint nichts von ihr hier zu sein. Hat Mandy normalerweise eine Tasche dabei?«
»Nein, bloß ihr Klemmbrett. Aber würden die Diebe das behalten, wenn sie überfallen worden wäre?«
»Vielleicht haben sie ihr Handy nur hier reingeworfen, damit sie nicht die Polizei rufen konnte?«
»Vielleicht …« Ich beendete den Satz nicht.
Meine Hand streckte sich wie von selbst nach den aufgestapelten Kartons aus, als folge sie einem natürlichen Instinkt. Der Anblick der etwa dreizehn Zentimeter hohen Schachteln war mir so vertraut, dass ich im ersten Moment gar nicht erkannt hatte, worum es sich handelte.
Schuhkartons.
Ich nahm einen von dem Stapel, hob den Deckel ab, atmete den Geruch nach Neuwagen ein, den Synthetikmaterial immer verströmt, hörte das Knistern von Papier und ertastete Kunststoff, Gummi und Schnur. Vorsichtig nahm ich die Schuhe heraus und stellte sie an einer von Sonnenstrahlen beschienenen Stelle auf den Boden.
Jen stieß einen leisen Pfiff aus, während ich einen Schritt zurücktrat und wie geblendet blinzelte. Das Design, das Obermaterial, die Schnürsenkel, die Zunge, das Profil der Sohle … Keiner von uns sagte ein Wort, aber wir wussten beide sofort:
Es waren die coolsten Schuhe, die wir jemals gesehen hatten.