Kapitel

FÜNFUNDDREISSIG

»Kann ich deinen Schuh fotografieren?«

Sie ließ ihren Feldstecher sinken, drehte sich zu mir um und lächelte.

»Die hier sind aber patentiert.«

Ich schaute auf ihre Füße: Sie hatte neue Schnürsenkel. Diesmal waren sie dunkelgrün, wie ein Hexagon um die Zunge gefädelt und in der Mitte geknotet. Das Muster sah aus wie ein Katzenauge, nur auf der Seite liegend. Ansonsten steckte sie in ihrer üblichen Logoverächterkluft, bis auf eine neue in der Sonne glänzende Jacke, die aus schwarzer Seide war, ärmellos und eine Spur zu groß.

»Keine Angst. Mein Interesse ist rein privater Natur«, sagte ich.

»Ich weiß. Mandy hat mich angerufen.« Sie senkte den Blick. »Dann bist du am Ende also doch gefeuert worden. Hat nur ein bisschen länger gedauert, als wir dachten.«

»Ich werd’s überleben.«

»Es tut mir leid, Hunter.«

Deswegen hatte sie also angerufen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Das war ein Mitleids-Date.

Meine Lippen öffneten sich, aber es kam nichts heraus. Ich hätte ihr gern erzählt, was mir über die Spalter klar geworden war, aber was ich loswerden wollte, war so groß, dass es nicht in meinen Mund gepasst hätte. Jen wartete einen Moment, dann hob sie den Feldstecher wieder an die Augen.

»Was schaust du dir an?«, schaffte ich zu sagen.

»Das Ufer von Brooklyn.«

Ich drehte mich um und blickte über den Fluss, wo zwischen den Industriegebäuden, den sich windenden Schnellstraßen und zerfallenen Docks ein Teil des Naval Shipyards auszumachen war.

Natürlich. Jen gab niemals auf.

»›Wir treffen uns in der Fabrik‹?«, zitierte ich fragend den Satz, den Mwadi Wickersham gesagt hatte, kurz nachdem die hoi aristoi – purpurrot gefärbt und rot vor Wut – im Studio aufgetaucht waren. Die Spalter hatten vorgehabt, am Montag ihr Quartier zu wechseln, aber in Anbetracht eines drohenden Vergeltungsschlags seitens der mächtigen Purpurnen stellte sich die Frage, ob sie nicht einen Tag früher als geplant umziehen würden.

»Du glaubst also, dass sie in Brooklyn bleiben?«

»Ja. Mein Gefühl sagt mir, dass ihr Platz in Dumbo ist.«

»Soll derzeit ja auch die coolste Ecke sein.« Wir standen Schulter an Schulter. »Schon irgendwas Interessantes entdeckt? «, fragte ich.

»Meinst du, dass dir jemand gefolgt ist?«

»Glaub nicht. Ich bin durch Stuyvesant Town gegangen und dann am Fluss entlang wieder hier runter. Auf der Strecke gibt es nicht so viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.«

»Gut gemacht.«

»Roger.«

Sie grinste und reichte mir den Feldstecher.

Er war schwer und tarnfarben. Einen kurzen Moment lang berührten sich unsere Fingerspitzen.

Das gegenüberliegende Ufer kam in all seinen Einzelheiten auf mich zugerast und jedes Zittern meiner Hände wuchs sich zu einem Erdbeben aus. Ich festigte meinen Griff, während ich einen Radfahrer beobachtete, der die Brooklyn Promenade entlangfuhr.

»Wonach suche ich eigentlich?«

»Nach der Domino-Zuckerfabrik.«

Die Sicht verschwamm vor meinen Augen, als ich die Verfolgung des Radfahrers aufgab und das Fernglas weiter nach rechts schweifen ließ, wo die vertraute fleckige Fabrikfassade meinen Blick kreuzte. Ich schwenkte wieder ein Stück zurück, bis ich den unbeleuchteten, in riesigen Neonlettern angebrachten Schriftzug und die schräg zwischen zwei Fabrikgebäuden verlaufende Zuckerrutsche gefunden hatte. Und dann sah ich es: ein kleines, leer stehendes Grundstück zwischen der Fabrik und dem Fluss.

»Mehrere gemietete Transporter«, raunte ich. Ein paar Gestalten huschten zwischen den Transportern und einem offenen Ladedock hin und her. »Jen, hast du eigentlich jemals versucht herauszukriegen, wer den Transporter gemietet hatte, den wir vor dem verlassenen Gebäude gesehen haben? Du hast dir doch das Kennzeichen notiert …«

»Stimmt, aber leider hab ich keine Ahnung, wie man so was rausfindet.«

»Ich auch nicht. Aber … hast du schon mal Möbelpacker gesehen, die ganz in Schwarz gekleidet sind? Mitten im Sommer? «

»Noch nie. Und hast du gesehen, wie sie die Laster geparkt haben? Ganz nah an die Mauer gequetscht, sodass man sie von der Straße aus nicht sehen kann.«

Ich ließ den Feldstecher sinken – die Transporter verwandelten sich in gelbe Reiskörner und die Gestalten in winzige Eisenspäne, die wie von einem unsichtbaren Magneten bewegt wurden. »Sie rechnen nicht damit, dass jemand sie von Manhattan aus beobachten könnte.«

»Der Feldstecher hat mich vierzehnhundert gekostet. Ein Militärrelikt aus der ehemaligen Sowjetunion. Aber der Typ meinte, dass ich ihn bis morgen wieder zurückbringen kann, wenn er mir nicht gefällt.«

»Großer Gott, Jen.« Vorsichtig reichte ich ihr den Feldstecher zurück.

Sie lehnte sich ans Geländer und schaute selbst wieder hindurch. Dass der Riemen des Feldstechers statt um ihren Hals über dem Wasser baumelte, schien sie nicht weiter zu beunruhigen. »Der Klient muss für die Schuhe ordentlich was hingeblättert haben. Wie ich gehört hab, werden die alten Fabrikgebäude in Eigentumswohnungen umgewandelt – Kostenpunkt eine Million, der atemberaubende Blick auf Manhattan ist inklusive.«

»Ich tippe mal, dass sie sich Gewerberäume gemietet haben, in denen sie ein Filmstudio oder zumindest einen Schneideraum und wer weiß was sonst noch einrichten. Die betreiben die Spaltung jetzt wohl auf industriellem Niveau.

Sie lächelte. »Du meinst wohl postindustriell.«

»Postapokalyptisch.«

»Noch nicht. Aber gib ihnen noch ein bisschen Zeit.«

Wir standen eine Weile schweigend nebeneinander. Jen beobachtete aufmerksam, was auf der anderen Seite des Ufers vor sich ging, und ich freute mich einfach nur, hier zu sein – zu analysieren, wie sich das Brooklyner Hafenviertel über die Jahre verändert hatte, zuzusehen, wie der Wind durch Jens kurze Haare zauste, und das Gefühl zu genießen, neben ihr zu stehen, auch wenn das das Äußerste an Nähe war, das ich in Zukunft von ihr zu erwarten hatte.

»Wie gefällt dir eigentlich dein Jackett?«, sagte sie.

»Mein was?« Und dann dämmerte es mir. Ich streckte die Hand aus und berührte den schwarzen, mit winzigen grauen französischen Lilien gemusterten Seidenstoff. Es war das Futter meines Tausend-Dollar-Desasters, das sie einfach nach außen gedreht hatte. Den scheußlichen Riss hatte sie zusammen mit den Ärmeln abgeschnitten und die Säume neu vernäht, sodass der elegante Schnitt des Jacketts auch in seiner auf links gedrehten Ausführung vollkommen erhalten geblieben war.

»Wahnsinn.«

»Zieh mal an.« Sie streifte das Jackett ab.

Es passte immer noch wie angegossen, genau wie vor zwei Abenden. Sogar beinahe ein bisschen besser, wie das manchmal der Fall ist, wenn etwas von innen nach außen gestülpt wird. Und dieses neue Jackett – überraschend ärmellos, aus japanischer Seide und absolut Fliegen-inkompatibel – verkörperte nicht den Nicht-Hunter, sondern mich. »Ein Traum.«

»Freut mich, dass es dir gefällt. Ich hab die ganze Nacht drangesessen.«

Ihre Hände fuhren über die Seitennähte, strichen über die Brusttaschen (ursprünglich innen, jetzt außen) und prüften den Sitz an den Schultern. Dann glitten sie um meine Taille.

»Tut mir total leid, Hunter.«

Ich atmete langsam aus und schaute in ihre grünen Augen. Erleichterung durchflutete mich, als hätte ich irgendeine schreckliche Prüfung hinter mich gebracht. »Mir auch.«

Sie wandte den Blick ab. »Du hast dich nicht wie ein Arsch benommen.«

»Und du hast nur die Wahrheit gesagt. Die kam vielleicht ein bisschen arschig rüber, aber du hattest recht. Ich beobachte zu viel und ich denke zu viel nach.«

»Stimmt, aber beides machst du auf eine echt coole Art. Und ich mag den ganzen Kram, den du im Kopf mit dir rumschleppst. «

»Ja, aber du willst wirklich was verändern, Jen – und zwar nicht nur, wie Leute ihre Schuhe binden.«

»Du auch.« Sie wandte den Kopf ab und blickte über den Fluss. »Als du gestern so getan hast, als wären die Spalter eigentlich gar nicht so toll, da hast du doch bloß versucht, mich zu trösten.«

»Nicht unbedingt.« Ich holte tief Luft. Obwohl ich mich gestern Nacht immer wieder ausgiebig in Selbstmitleid gesuhlt hatte, hatte ich zwischendurch auch ein paar klare Momente gehabt, in denen ich gründlich nachgedacht hatte. »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich von den Spaltern halten soll, Jen. Ich finde, dass sie sich für ihre Aktion eine ziemlich einfache Zielscheibe ausgesucht haben. Und diese Paka-Paka-Geschichte war richtig riskant. Ich meine, stell dir mal vor, jemand hätte dabei einen schweren Schaden davongetragen, dann wäre die Sache ziemlich schnell nicht mehr witzig gewesen, sondern verdammt bitter.«

Jen dachte einen Moment lang nach und zuckte dann mit den Achseln. »Vielleicht. Aber das beweist doch nur, dass sie unsere Hilfe brauchen. Deine analytischen Fähigkeiten und die riesige Datenbank an unnötigem Wissen in deinem Kopf. Und meine, äh, unkonventionelle Art zu denken oder wie immer man das nennen will. Wir könnten richtig nützlich für sie sein. Außerdem sind sie einfach cool.«

»Ich hab nie das Gegenteil behauptet.« Ich dachte an meinen ersten Schultag in New York zurück, als mir klar geworden war, wie tief ich in der Pyramidenhierarchie gestürzt war. Von einem Moment zum anderen gehörte ich plötzlich zu den Uncoolen und jeder konnte es mir sofort ansehen. Umgekehrt wusste ich instinktiv, wer zu den coolen Kids gehörte. Sie waren wie funkelnde Rasierklingen – so scharf, dass es wehtat, sie anzuschauen. Seitdem erkannte ich die Coolen, egal wie jung oder alt sie waren.

Aber seit diesem Tag habe ich ihnen auch nie mehr wirklich über den Weg getraut.

Warum vertraute ich dann Jen? Diesem Mädchen, das vor knapp zwölf Stunden wegen eines … eines Haufens verbrannter Schuhe mit mir Schluss gemacht hatte. Die mich gehasst hatte, weil ich nicht geblieben war, um ihr bei der Suche zu helfen, und nicht gemerkt hatte, wie groß ihre Angst war, durch diese verpasste Chance mit den Spaltern ihre Coolness wieder zu verlieren, so wie sie sie schon einmal verloren hatte.

Wobei man schon ziemlich verrückt sein musste, um das zu glauben, aber so war Jen nun mal.

Wenigstens hasste sie mich nicht mehr.

»Vielleicht wären sie mit unserer Hilfe sogar noch cooler, Hunter.«

Ich sah sie an und lachte, aber gleichzeitig wusste ich, dass ich ihr helfen würde, die Spalter zu finden. Weil Jen glaubte, dass sie sie brauchte, und weil ich Jen brauchte. »Klar, könnte sein.«

Sie schaute zur Fabrik hinüber und zog kurz die Schultern hoch. »Ich hab ein Geschenk für dich.«

»Noch eins?«, sagte ich.

»Das Jackett war ja kein Geschenk. Das hast du schließlich selbst gekauft und bezahlt.«

Ich zuckte kurz zusammen. »Bezahlt leider noch nicht.«

Sie lächelte, verstaute den Feldstecher in ihrem Rucksack (nicht ohne ihn – wie ich erleichtert zur Kenntnis nahm – zuvor in sein dick gepolstertes Etui aus Sowjetzeiten zurückzustecken) und zog dann eine Papiertüte heraus. Noch bevor sie sie geöffnet hatte, nahm ich den Geruch von verbranntem Plastik wahr.

»Ich hab dir gesagt, dass ich noch einen finden würde. Und wenn du nicht abgehauen wärst, hätte ich nicht volle zwei Stunden dafür gebraucht.« Sie wickelte ihn vorsichtig aus, während sie sprach. »Nur einen einzigen, er lag ganz zuunterst in dem Haufen.«

Mir fiel die Kinnlade runter.

Er war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben – das Obermaterial schimmerte noch immer silbrig wie Metall, die Schnürsenkel glitten durch meine Finger, als wären sie aus reiner Seide, und die dünnen Speichen in den Ösen schienen zu rotieren, als ich die Schuhsohle zusammenbog.

Ich hatte fast vergessen, wie gut er war.

»Riecht noch ganz schön verbrannt«, sagte Jen. »Aber ich hab eine Duftsohle reingelegt und er stinkt schon ein bisschen weniger.«

»Ist mir egal, wie er riecht.«

Mir wurde klar, dass ich ihn genau so gebraucht hatte wie sie. Jen war sehr empfänglich für äußere Reize. Ihr Gehirn war einzigartig, eine kurze Paka-Paka-Attacke reichte, um es sofort wieder in das einer Zehnjährigen zu verwandeln, und es fürchtete weder dreißig Meter tiefe Lichtschächte noch eine heimliche Revolution. Aber ich selbst hatte mich seit einer Ewigkeit nicht mehr so gefühlt – so als könnte ich fliegen oder wenigstens einen Ball mühelos von der Freiwurflinie aus im Korb versenken; so als würde der Mörtel in meinem Kopf bröckeln und sich auflösen. Ich drückte den Schuh fest an mich.

»Und? Hältst du die Spalter immer noch für wahnsinnig gefährlich?«, fragte Jen.

Ich schluckte, blickte über den Fluss hinweg zu den Feinden von all dem hinüber, was mir immer am Herzen gelegen hatte, und bedachte sie mit dem Nicken.

»Sie haben auch ihre guten Seiten.«