Kapitel

EINUNDZWANZIG

»Jen!«

Ich sprang von der Couch auf und warf dabei meine Schale mit der Reispampe um.

»Wow!«, sagte Tina. »Es hat tatsächlich funktioniert. Das hätte ich jetzt echt nicht gedacht!«

Jen hatte die Augen geschlossen, aber unter ihren Lidern zuckten die Augäpfel wie bei einem Albtraum unruhig hin und her.

»Jen? Kannst du mich hören?«

Sie stöhnte, dann tastete sie nach meinem Arm und hielt sich kraftlos daran fest. Ihre Lippen bewegten sich und ich beugte mich näher zu ihr herunter.

»Ich bin eine zapanische Jehnjährige«, murmelte sie.

»Was?«

»Eine japanische Zehnjährige, meine ich.«

Sie öffnete die Augen und blinzelte.

»Hi, Hunter. Mann, das war cool.«

»War es nicht!«, sagte ich.

Jen kicherte.

»Soll ich den Notarzt rufen?«, fragte Tina und griff nach ihrem Haustier-Handy. Es hatte rosa Plastikohren, die mir plötzlich mit absurder Deutlichkeit ins Auge sprangen. Musste am Adrenalin liegen, das in dem Moment durch meine Adern pumpte.

»Nein, mir geht’s gut.« Jen setzte sich mühsam auf und legte mir dabei haltsuchend einen Arm um die Schulter. Ihr Griff fühlte sich schwach und zittrig an.

»Bist du sicher?«

»Absolut. Mir geht’s sogar fantastisch.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Ich hab’s kapiert, Hunter. Ich weiß jetzt, wer dahintersteckt.«

»Aha?«

»Bring mich nach Hause. Ich erklär es dir dort.«

 

Tina war ziemlich erschüttert und der Schock hatte sie endgültig in die Tokioer Zeitzone zurückkatapultiert. An Schlaf würde für sie erst einmal nicht zu denken sein. Sie und Jen entschuldigten sich noch vier- oder fünfmal beieinander (»Tut mir echt leid, dass du meinetwegen einen Anfall hattest!« – »Tut mir echt leid, dass ich auf deinen Teppich gesabbert hab!«), dann verabschiedeten wir uns.

Wir gingen zu Fuß zu Jens Wohnung; sie lehnte sich schwer an mich und die dunkle Nacht um uns herum wirkte tröstlich real und verlässlich. Nach all den epileptische Anfälle auslösenden Blitzen kamen mir die sanft vorübergleitenden Autoscheinwerfer und das bedächtige Blinken der »Don’t Walk«-Zeichen so beruhigend vor wie ein Sonnenuntergang.

»Gott, war das peinlich.«

»Sei nicht albern. Das hätte jedem passieren können.«

»Ach ja? Du hast dich aber nicht sabbernd und zuckend auf dem Boden gewunden.«

»Ich hab auch nicht so nah drangesessen wie du. Und ich hab die Augen zugekniffen.«

»Du hast geschummelt!«

Ich hob entschuldigend die Schultern, als ich mich daran erinnerte, dass ich in dem Moment, als die Paka-Paka-Effekte einsetzten, tatsächlich weggeschaut hatte. »Vielleicht hat es ja auch was Gutes.«

»Was hat was Gutes?«

»Eine zapanische Jehnjährige zu sein. Tina hat doch gesagt, dass der Effekt bei Leuten, deren Gehirn noch nicht vollständig entwickelt ist, am stärksten ist.«

»Herzlichen Dank.«

»Nein, so hab ich’s nicht gemeint. Ich meinte, dass das vielleicht der Grund ist, warum du eine Innovatorin bist. Du nimmst deine Umgebung auf ganz andere Art wahr als die meisten anderen Menschen. Du bist wie ein Kind und vernetzt dein Gehirn ständig neu. Deswegen wirkt Paka Paka bei dir auch viel stärker.«

Sie blieb vor ihrer Haustür stehen und sah mich mit einem strahlenden Lächeln an.

»So was Cooles hat noch nie jemand über mich gesagt.«

»Na ja, ich …«

Sie küsste mich.

Ihre Hände, plötzlich gar nicht mehr zittrig und schwach, legten sich um meine Schultern, ihre Lippen drängten sich gegen meine. Ihre Zunge berührte kurz meine Zunge, bevor sie sich mir wieder entzog. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos erfassten uns, und Jen wandte den Kopf ab, als wäre sie auf einmal verlegen. Auf ihren Lippen lag aber immer noch ein kleines Lächeln.

»Erinnere mich daran, es dir wieder zu sagen«, sagte ich.

»Das werd ich.« Sie verschränkte die Hände hinter meinem Rücken und zog mich näher an sich heran.

Irgendwann später gingen wir rein.

 

Als Jen die Wohnungstür aufschloss, erwartete uns in der Küche ihre Schwester. Sie saß am Tisch und hatte ein Sieb in der Hand. Nach allen Seiten stoben wütende weiße Mehlwölkchen auf. Die Ärmel ihres Yale-Sweatshirts waren hochgekrempelt, ihre Unterarme bis zu den Ellbogen von feinem weißem Staub überzogen; sie hatte die Haare zurückgebunden und trug eine Jogginghose. Als sie uns in unserer Abendgarderobe musterte, spiegelte sich in ihrem Blick der vermutlich schon lange gärenden Unmut eines Mädchens wider, das einen Fulltimejob hat und mit einer jüngeren Schwester zusammenlebt, die nicht arbeitet.

»Hi, Emily.«

»Hab ich gesagt, dass du dir mein Kleid ausleihen kannst?«

Jen seufzte und ließ meine Hand los. »Nein, deswegen hab ich dir ja auch den Zettel geschrieben.«

»Alles okay, Jen? Du siehst scheiße aus.«

»Danke, dass du’s erwähnst. Es war eine lange Nacht.«

Emily betrachtete mit hochgezogenen Brauen meinen zerrissenen Ärmel und Jens kurz geschorene Haare.

»Sind wir mal wieder auf dem Kurzhaartrip? Wo warst du überhaupt?«

»Auf einer Party.«

»Bist du betrunken?«

»Nein, nur hundemüde. Hunter, das ist Emily – meine Mutter

»Ihr Kindermädchen. Nett, dich kennenzulernen, Hunter.«

»Hi.«

Jen zog mich in Richtung ihres Zimmers. »Bis später, Emily.«

Emilys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und denk dran: Big sister is watching you

 

»Tut mir leid wegen meiner Schwester«, entschuldigte sich Jen. »Sie kann es nicht leiden, wenn ich einfach so an ihren Kleiderschrank gehe. Ich mach es trotzdem ständig.«

Ich schaute nervös zur Tür und rechnete damit, dass sie jeden Moment aufgerissen werden könnte. Emilys Stoppuhr zählte meinen Countdown in Jens Zimmer herunter, da machte ich mir nichts vor, und ich fragte mich, wie lange ich überhaupt hierbleiben durfte. Mir klopfte immer noch das Herz von unserem Kuss vor der Haustür.

Jen folgte meinem Blick. »Keine Sorge. Morgen erklär ich ihr alles.«

»Was denn? Dass du ihr Abschlussballkleid gebraucht hast, um einen Entführungsfall aufzuklären?«

»Hm. Vielleicht kauf ich ihr als Wiedergutmachung einfach ein Crêpeeisen oder so was.«

»Das hat sie doch schon.« In meinem Kopf drehte sich alles, und plötzlich spürte ich, wie erschöpft ich war.

Jen seufzte. »Ich glaub, sie erträgt es nicht, dass ich überhaupt hier bin. Das heißt, eigentlich hat sie nichts dagegen, mit mir zusammenzuwohnen, aber es nervt sie, dass ich schon mit sechzehn nach New York zurückdurfte. Ihr haben sie es erst mit achtzehn erlaubt, deswegen hält sie mich für das verwöhnte Küken der Familie.«

Ich zog eine Augenbraue hoch.

Sie schluckte. »Du meinst, sie hat recht?«

Ich zuckte mit den Schultern. Wer so risikofreudig war wie Jen, war definitiv das verwöhnte Küken der Familie. Irgendjemand hatte in den letzten siebzehn Jahren sehr viel Zeit und Mühe darauf verwendet, sie immer wieder aufs Pferd zurückzuhieven, wenn sie runtergefallen war. Wahrscheinlich ihre ältere Schwester.

Ich schaute wieder zur Tür. »Vielleicht sollte ich auch mal langsam nach Hause gehen.«

»Ja, vielleicht.« Jen ließ sich aufs Bett fallen. »Aber erst muss ich dir noch von der Erkenntnis erzählen, die ich während meines spastischen Trips hatte.«

»Hast du Gott gesehen?«

»Nein, nur Pikachu. Aber plötzlich ist mir etwas klar geworden, etwas, das wir die ganze Zeit übersehen haben.«

»Und das wäre?«

»Wir wissen zwar nicht, wer hinter dem Anti-Kunden steckt, aber klar ist, dass er echt Ahnung hat. Vor allem in ganz bestimmten Bereichen: WLAN, Animes, Launchpartys, cooles Design, die neuesten Magazine und Corporate Branding.«

»Stimmt, was das angeht, ist er absolut fit.«

»Und nach wem klingt das für dich?«

Ich saß einen Moment lang grübelnd da, zwang mein Gehirn, trotz Erschöpfung und Paka-Paka-Kopfschmerz seine Arbeit aufzunehmen, und versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen. Modernste Technologien, die allercoolsten Schuhe, die besten Party-Goody-Bags, geheime Methoden zur Bewusstseinsveränderung aus der japanischen Popkultur …

Und plötzlich wusste ich es. Es traf mich nicht wie das Flackern der primärfarbenen Stroboskopeffekte, sondern wie ein guter alter Hunter’scher Gedankenblitz.

»Das klingt nach jemandem von uns.«

»Kluger Hunter. Die wissen über genau die gleichen Dinge Bescheid wie du und deine coolen Kollegen, nur dass sie dieses Wissen für eine Art Guerilla-Marketingkrieg benutzen.«

»Du meinst …«

»Genau. Irgendwo in dieser Stadt läuft ein Cool Hunter Amok.« Sie nahm meine Hand. »Und es ist an uns, ihn aufzuhalten und die Welt vor dem Untergang zu retten.«

»Was?«

»Sorry, den Spruch musste ich jetzt einfach bringen.« Sie grinste.

Dann schloss sie seufzend die Augen, sank ins Kissen zurück und schlief von einer Sekunde zur anderen ein – eine Skinhead-Märchenprinzessin im scharlachroten Ballkleid.

Ich setzte mich noch einen Moment lang neben sie auf die Bettkante, um sicherzugehen, dass kein epileptisches Beben ihre Augen oder Hände erschütterte. Aber ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig und sie schlief so tief und fest wie eine erschöpfte Zehnjährige. Schließlich gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn und atmete mit geschlossenen Augen den Vanilleduft ihrer Haare ein.

Als ich aufstand, zitterten meine Knie. Ich ging in die Küche, wo Emily immer noch am Tisch saß und Mehl siebte.

»Ich bin dann mal weg. War nett, dich kennenzulernen, Emily.«

Sie legte das Sieb beiseite und seufzte. »Tut mir leid, wenn ich vorhin ein bisschen genervt war. Manchmal hab ich es einfach satt, ihre Mom zu spielen.«

Ich bekam eine Ahnung davon, wie es war, eine Innovatorin zur Schwester zu haben: Ständig stellte sie irgendwelche verrückten Sachen an, bekam die ganze Aufmerksamkeit (sowohl positive als auch negative), klaute einem erst das Spielzeug und später dann die Klamotten und war am Ende auch noch viel cooler als man selbst. Das konnte schon ganz schön nervig sein.

Meine Freundschaft mit Jen hatte mich heute knappe tausend Dollar gekostet, mein Achselzucken war also voller Mitgefühl. »Kein Problem.«

Emily deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Zimmertür. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«

Ich nickte. »Sie ist nur total durch. War eine ziemlich abgefahrene Party.«

»So viel hab ich schon mitbekommen.« Ihr Blick blieb an meinen purpurfarbenen Händen hängen, aber sie sagte nichts.

Ich schob sie in die Hosentaschen. »Jedenfalls brauchst du dir keine Sorgen um sie zu machen. Spätestens morgen ist sie wieder topfit.«

»Das hoffe ich, Hunter. Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Äh, war nett, dich kennenzulernen.«

»Das sagtest du bereits.«

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Auf dem Nachhauseweg packte mich diese seltsame Euphorie, die einen manchmal überkommt, wenn man zu Tode erschöpft ist. Meine Lippen, nein, mein ganzer Körper kribbelte – von dem Kuss, dem Gratis-Noble-Savage und der schlichten Erkenntnis, dass ich Jen – ungeachtet meiner purpurroten Hände, des Anti-Kunden oder ihrer älteren Schwester – morgen wiedersehen würde. Sie mochte mich. Sie mochte mich.

Ich hatte sogar mein Handy wieder. Kaum hatte ich das gedacht, sah ich plötzlich wieder die »Ruf mich an«-Geste der Frau auf der Museumstreppe vor meinem inneren Auge.

Aber wie sollte ich das anstellen, ohne ihre Nummer zu haben? Ich zog mein Handy heraus.

Mir fiel ein, dass der Glatzkopf mich angerufen hatte, als ich mich hinter dem Meteoriten versteckt hatte, also prüfte ich die Liste der eingegangenen Anrufe. Seiner war zwar mit Datum und Uhrzeit angegeben, aber die Nummer war unterdrückt.

Vielleicht hatten sie irgendetwas auf der SIM-Karte gespeichert, während sie das Handy gehabt hatten. Ich scrollte durch meine Namensliste und suchte nach Neueinträgen.

Als ich bei Mandys Namen angekommen war, hielt ich inne. Natürlich! Sie hatten ja jetzt ihr Handy. Wenn ich sie aufspüren wollte, um Mandy aufzuspüren, brauchte ich sie bloß anzurufen.

Mein Daumen schwebte unschlüssig über der Anruftaste, aber ich war zu erschöpft. Ich fühlte mich so dünnhäutig wie ein Kaugummi, den jemand zwischen Zähnen und Fingern in die Länge gezogen hat, bis er kurz vor dem Zerreißen steht. Allein der Gedanke an eine weitere Begegnung mit dem Anti-Kunden ließ mich beinahe in epileptische Zuckungen ausbrechen.

Also folgte ich zum ungefähr zwanzigsten Mal an diesem Tag Jens Beispiel und ging nach Hause und ins Bett.