Kapitel
SIEBZEHN
»Unsinn! Natürlich bist du es!«, kreischte Vivienne. Die Freunde, mit denen sie da war, drehten sich neugierig nach mir um und erwarteten wahrscheinlich irgendeinen Promi oder zumindest einen lang vermissten Cousin des de-Winter-Clans zu sehen.
»Äh … Hi, Vivienne.« Ich flüsterte es beinahe und dachte gleichzeitig: Nicht den Namen! Sag jetzt nicht noch mal den Namen!
»Mein Gott, Hunter! Du siehst ja vollkommen verändert aus!«
Der Glatzkopf stand so, dass er mir direkt ins Gesicht sah, als Vivienne meinen Namen brüllte.
»So verändert nun auch wieder nicht.« Sag jetzt bloß nichts über meine Haare!
»Und wie! Was ist das denn für eine neue Haarfarbe?«
Ich spürte den Blick des Glatzkopfes auf mir und konnte förmlich sehen, wie sein Hirn sich in Bewegung setzte und eins und eins zusammenzählte: Größe, Körperbau, Name (aktuell auf Platz zweiunddreißig der Beliebtheitsskala) … neue Haarfarbe.
»Du solltest dich öfter so stylen«, schnurrte Vivienne, und das Glitzern in ihrem Blick fügte den panischen Gedanken, die mir ohnehin schon durch den Kopf schossen, noch einen weiteren hinzu: War Vivienne Von-und-Zu womöglich gerade zu dem Schluss gekommen, dass sich hinter meiner Cool-Hunter-Tarnung ein echt süßer Typ verbarg, der in ihr Beuteschema passte?
Plötzlich runzelte sie die Stirn. »Nur das mit den roten Händen begreife ich nicht. Soll das so ein Retro-Punk-Ding sein, oder was?«
Es gibt Momente im Leben, in denen fällt einem nichts anderes ein, als zu sagen: »Ich muss gehen.«
Ich ignorierte ihren erstaunten Gesichtsausdruck, drehte mich um und ließ sie einfach stehen, während irgendein Anti-Hungertod-Autopilot in meinem Gehirn dafür sorgte, dass ich mir den Rest des Lachssandwiches in den Mund stopfte. Ich musste nicht noch einmal zurückschauen, während ich unter den glasigen Blicken der toten Tiere in den Saal mit den afrikanischen Säugetieren ging – ich wusste auch so, dass mein Schicksal besiegelt war.
Ich hegte nicht den leisesten Zweifel daran, dass der Glatzkopf mir folgte.
Mein Handy klingelte. Immer noch auf Autopilot gestellt, hob ich es ans Ohr.
»Ja?«
Es meldete sich eine tiefe Stimme, die mir einen kalten Schauder über den Rücken laufen ließ. »Hallo, Hunter. Hübsche neue Frisur.«
Während ich mich zwischen den Partygästen hindurchschlängelte, die in kleinen Grüppchen um die Elefantenherde standen, warf ich über die Schulter einen Blick zurück. Glatze schob sich ohne sichtbare Eile durch die Menge und war schon ziemlich dicht hinter mir.
»Wir würden uns gern mit dir unterhalten.«
»Äh … wie wär’s, wenn Sie mich einfach morgen noch mal anrufen?«
»Persönlich. Noch heute Abend.«
Ich beschloss, in die Offensive zu gehen, duckte mich aber sicherheitshalber hinter eine Schar Pinguine, die gerade ihre Kummerbunde miteinander verglichen. »Wo ist Mandy?«
»Mit der beschäftigen wir uns gerade, Hunter.« Er schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Hey, das sollte jetzt nicht wie eine Drohung klingen.«
»Genau so klang es aber.«
Im Weitergehen stieß ich mit einer Frau zusammen und hob entschuldigend meine purpurroten Hände, als sie mich wütend anfunkelte.
»’tschuldigung«, murmelte ich.
»Wofür?«, fragte die Stimme des Glatzköpfigen.
»Was? Ach so, nein, Sie meinte ich nicht.« Ich sah mich um.
Er war verschwunden.
Mein Blick huschte nervös zwischen den Gazellen, den Löwen und Gorillas hin und her, aber der Glatzkopf schien sich plötzlich in Luft aufgelöst zu haben.
»Hunter, es geht hier nicht um Mandy. Es geht um die Schuhe.«
Ich stellte mich mit dem Rücken vor eines der Dioramen und versuchte, alle Richtungen gleichzeitig im Blick zu behalten. Obwohl der Typ mir inmitten der Partygäste nichts antun konnte, legte ich trotzdem keinen Wert darauf, dass er mir zu nahe kam. Immerhin war er wie jemand vom Sicherheitsdienst angezogen, konnte mich also jederzeit packen und wegschleifen und so tun, als wäre ich ein betrunkener Gast, den er rausschmeißen musste.
»Was ist mit den Schuhen?«, fragte ich.
»Wir versuchen einen Deal auszuhandeln. Aber über die Sache muss noch absolutes Stillschweigen bewahrt werden.«
Wieder scannte ich erfolglos die Pinguinmenge nach ihm ab, spürte die kalte Scheibe des Dioramas im Rücken und fühlte mich in die Ecke gedrängt.
»Ach, und dafür muss ich zum Schweigen gebracht werden? «
»Du verstehst nicht, Hunter. Wir wollten, dass du heute Abend herkommst, damit du dir ein ungefähres Bild von dem machen kannst, was wir vorhaben. Hier geht es um wesentlich mehr als nur um Schuhe.«
»So viel hab ich mittlerweile auch schon kapiert.«
Ein Piepsen in meinem Ohr ließ mich zusammenzucken. Ich warf einen Blick aufs Display.
Jen.
»Äh, könnten Sie kurz dranbleiben. Ich bekomme gerade einen Anruf rein.«
»Hunter, leg nicht …«
Ich schaltete zu Jen. »Jen! Gut, dass du …«
»Geh nach links und dann immer geradeaus.«
»Wo bist du?«
»Mach schon! Er kommt direkt auf dich zu!«
Das Handy am Ohr, setzte ich mich in Bewegung, ging durch eine offene Tür und folgte dann einem Gang, an dessen Wänden riesige Fotos von der Antarktis hingen. Plötzlich stand ich in einem Saal mit Hütten, Stammestrachten, Waffen und Werkzeugen.
»Ich glaub, ich bin in Afrika.«
»Geh durch den Saal, dann rechts die Treppe rauf.«
Konnte sie mich sehen? Aber ich hatte keine Zeit, sie zu fragen, weil ich plötzlich vor einem Absperrseil aus Samt stand, mit dem das Ende der Partyzone markiert war.
Ich schaute mich suchend nach ihr um. Vielleicht war sie ja ganz in der Nähe.
»Jen?«, rief ich.
Aus einer Ecke blickte mir eine hochaufgerichtete Yoruba-Shamanin entgegen, die jedoch keinerlei Anstalten machte, sich als getarnte Jen zu erkennen zu geben. Dafür materialisierte sich der Glatzkopf wie aus dem Nichts und kam gemessenen Schritts und mit der leicht verärgerten Miene einer ignorierten Autoritätsperson zielstrebig auf mich zu.
Ich erstarrte und drehte mich schnell um. »Geh einfach immer weiter«, sagte Jen an meinem Ohr. »Ich hab hier einen Übersichtsplan des Museums vor mir und kann dir gleich sagen, wo du als Nächstes hingehen sollst.«
Ich duckte mich unter dem Seil hindurch, wandte mich nach rechts, rannte durch einen Raum voller ausgestopfter Vögel hinter Glas, bog wieder rechts ab und stand plötzlich vor einer breiten Marmortreppe.
Ohne noch einen Blick hinter mich zu werfen – ich wusste auch so, dass der Glatzkopf direkt hinter mir war –, rannte ich so schnell ich konnte das dunkle Treppenhaus hinunter. Jeder meiner lederbesohlten Schritte hallte von den marmorgetäfelten Wänden wider und klang, als würde jemand enttäuscht mit der Zunge schnalzen.
Ich hätte in diesem Moment alles für ein Paar Sneakers gegeben – oder für Klamotten ohne pieksende Plastikanhänger.
»Wohin jetzt?«, flüsterte ich ins Handy, als ich am Fuß der Treppe angekommen war.
»Wieder rechts. An den Affenskeletten vorbei.«
Ich flitzte in einen Saal, der den gesamten Verlauf der Evolution des Menschen wiedergab – vom faultierartigen, auf Bäumen lebenden Primaten bis hin zum faultierartigen homo fernbedienensius, der in seinem Wohnzimmer vor dem Fernseher fläzte. Inmitten der im Dunklen stehenden Ausstellungsstücke wurde mir plötzlich bewusst, wie allein ich war (von den anderen Affen mal abgesehen), und ich begann mich zu fragen, warum ich mich eigentlich aus der Schutz bietenden Partyzone herausbewegt hatte.
»Siehst du schon irgendwelche Meteoriten?«, fragte Jen.
»Meteoriten? Moment.«
Der nächste Flur mündete in einen geräumigen Saal, in dem Podeste mit zerklüfteten Felsbrocken standen.
»Ja, jetzt«, flüsterte ich. »Aber ehrlich gesagt, interessiere ich mich gerade nicht so für verglühte Gesteinsbrocken.«
»Ich versuche, dich von der Party wegzulotsen, damit wir abhauen können, ohne gesehen zu werden.«
»Aber genau dort wäre ich doch am sichersten gewesen!«
»Keine Party dauert ewig, Hunter.«
Plötzlich glaubte ich Schritte zu hören, die langsam und entschlossen die Marmortreppe herunterkamen. Ich fuhr herum und starrte mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit.
»Wo bist du überhaupt, Jen?«
»Zwei Stockwerke über dir. Ich stehe auf einer Galerie, von wo aus ich auf die Elefanten runterschauen kann. Du versteckst dich doch hoffentlich gerade, oder?«
Ich warf einen nervösen Blick in Richtung Affensaal, konnte aber niemanden sehen. Seit ich die Treppe heruntergekommen war, hatte ich nichts bemerkt, was darauf hindeutete, dass außer mir noch jemand hier war.
Sich zu verstecken konnte trotzdem nichts schaden.
In der Mitte des Saals stand ein Meteorit, der die Größe eines Mittelklassewagens hatte. Groß genug, um mich hinter ihn zu ducken. Vorsichtig spähte ich über den Felsbrocken hinweg auf den Durchgang zum Saal mit den Affenskeletten.
»Okay, bin versteckt.«
»Glaubst du, dass er dir gefolgt ist?«
»Mit Sicherheit«, flüsterte ich. »Aber er scheint es nicht eilig zu haben, mich zu finden. Vielleicht hat er Verstärkung gerufen und wartet, bis sie bei ihm ist.«
»Perfekt. Bleib einfach, wo du bist, okay? Solange sie mit dir beschäftigt sind, kann ich hier noch schnell ein paar Sachen auschecken.«
»Äh, Moment mal, Jen. Kann es sein, dass du mich als Ablenkungsmanöver missbrauchst?«
»Du läufst doch bestimmt viel schneller als er, oder?«
»Was soll das eigentlich? Warum willst du mich die ganze Zeit rennen sehen?«
»Ich muss los, Hunter. Ruf an, wenn du mich brauchst, okay? Und falls dir die Meteoriten langweilig werden – nebenan kannst du dir ein paar echt coole Edelsteine anschauen. Ich liebe dieses Museum.«
»Edelsteine.« Ich seufzte resigniert. »Kann’s kaum erwarten. «
»Aber wahrscheinlich wäre es besser, wenn du in deinem Versteck bleibst. Der Saal mit den Edelsteinen ist eine Sackgasse. «
»Heißt das, dass ich nur über den Weg wieder rauskomme, über den ich reingekommen bin?«
»Genau. Bleib in deinem Versteck. Bis später.«

Ich blieb in meinem Versteck, kauerte mich hinter den riesigen Festkörper kosmischen Ursprungs und starrte auf den Durchgang zum anderen Saal. Wenn ich nervös bin, hilft es mir immer, meinen Kopf mit sinnlosen Informationen zu füllen, weshalb ich zur Beruhigung die um mich herum angebrachten Infotafeln las.
Wie sich herausstellte, war der riesige Meteorit von dem Polarforscher Robert Peary nach New York gebracht worden. Er wog beeindruckende vierunddreißig Tonnen, was es zu einem ziemlich spannenden Unterfangen gemacht hatte, ihn auf dem Seeweg hierher zu transportieren. Abgesehen davon, dass er Pearys Schiff fast zum Kentern gebracht hätte, lenkte er die Kompassnadel so ab, dass der Steuermann nicht mehr wusste, in welche Richtung er fahren musste.
Ein Gefühl, dass ich sehr gut nachvollziehen konnte.
Ich stellte mir vor, wie der Glatzkopf einen Kompass aus der Tasche zog, der ihn direkt zu mir führte.
Merkwürdigerweise hatte es auch etwas Beruhigendes, so in der Dunkelheit zu kauern, und ich spürte, wie meine beim Betrachten der PooSham-Werbung im Planetarium durchgeschmorten Synapsen allmählich wieder ihre Funktion aufnahmen. Nachdem ich ein paar Minuten so dagesessen und nachgedacht hatte, fiel mir plötzlich etwas ein. Ich hatte schon öfter gelesen, dass in Japan während der Ausstrahlung einer bekannten Zeichentrickserie über bunte Kampfmonster angeblich mehrere Kinder epileptische Anfälle erlitten haben sollen, nachdem in einer bestimmten Folge eine Lichtbombe mit stroboskopartigen Blitzen explodiert war.
War diese Geschichte bloß eine dieser Großstadtlegenden oder stimmte sie tatsächlich? Die flackernden Lichtpünktchen am Ende des Werbespots hatten bei den Zuschauern im Planetarium zwar keine epileptischen Anfälle ausgelöst, aber sie hatten sie ganz offensichtlich verwirrt und durcheinandergebracht.
Aber wozu?
Ich wusste nur eins: PooSham war ein Pseudo-Produkt. Genau wie die Schuhe war es nur designt worden, um die natürliche Ordnung der Dinge zu stören und das heilige Band zwischen Marke und Konsumenten zu durchtrennen. Ich betrachtete meine purpurroten Hände und fragte mich, ob ich mir wohl jemals wieder, ohne zu zögern, Shampoo in die Haare einmassieren würde. Die Motive des Anti-Klienten waren unergründlich, aber allmählich begann ich die Umrisse eines größeren Plans zu erkennen.
Ein paar Minuten später erschien der Glatzkopf im Durchgang. Ich duckte mich und spähte seitlich an dem riesigen Weltraumfelsen vorbei. Seine Lederschuhe glänzten in der Dunkelheit.
Und er war nicht allein.