Kapitel
ACHT
»Du musst die Schuhe ausziehen«, sagte ich zu Jen, als wir vor Lexas Tür standen.
»Okay.« Sie beugte sich vor und löste die Knoten in ihren Schnürsenkeln. »Hat das was mit Zen zu tun?«
»Nein, mit Sauberkeit.«
Lexa Legault saugte ihr Apartment jeden Tag mit einem kleinen Düsentriebwerk, bis sie so staubfrei war wie ein Biotech-Labor. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie ihre Gäste aufgefordert hätte, weiße Overalls und Masken anzuziehen, aber das hätte wahrscheinlich selbst sie übertrieben gefunden. Noch stellte Lexa (die Kurzform von Alexandra) keine eigenen Mikrochips her.
Allerdings schraubte sie ihre eigenen Rechner zusammen, die mit entblößtem Innenleben herumstanden und sich in einem Zustand permanenter Modifizierung befanden. In Lexas Wohnung galt Staub als extrem böse.
Obwohl Lexa uns über die Sprechanlage geöffnet hatte, ließ sie uns erst in die Wohnung, nachdem ich ihr per Klopfzeichen signalisiert hatte, dass wir unsere Schuhe ausgezogen hatten.
Sie trug blütenreine Khakis, ein enges rosa T-Shirt und ein Bluetooth-Headset im Ohr. Eine echte Nerd-Prinzessin mit allem, was dazugehört: dem schüchternen Lächeln, der dicken Hornbrille, den kurz geschnittenen Haaren, dem Elfengesicht und dem Modegeschmack einer japanischen Teenagerin. Sie sah aus wie diese Frauen, die Modedesigner mit ein paar lockeren Strichen aufs Papier werfen.
Nachdem ich Lexa kennengelernt hatte, litt ich mehrere Monate lang unter akuter Verliebtheit, bis sie mir in einem schrecklichen Moment sagte, sie fände mich so süß, weil ich sie an sie selbst erinnern würde, als sie noch jünger und noch nicht so wahnsinnig abgeklärt gewesen sei. Ich ließ mir damals natürlich nichts anmerken, aber – autsch.
»Hi, Hunter.« Sie umarmte mich, ließ mich los und guckte dann über meine Schulter. »Oh, hey …«
»Jen«, half ich.
»Ach ja.« Sie nickte bedächtig. »Was du gestern gesagt hast, fand ich ziemlich gut, Jen. Sehr cool.«
Das verlegene Lächeln, das über Jens Gesicht huschte, gefiel mir mit jedem Mal besser. »Danke.«
Kaum waren wir in die Wohnung geschlüpft, schloss Lexa rasch die Tür hinter uns, um eventuell aufgewirbelte Staubpartikel auszusperren.
Ich reichte ihr den Pappbecher mit Kaffee, den wir als Gastgeschenk mitgebracht hatten. Lexa sagte immer, ihr Gehirn sei eine Maschine, die Kaffee in Spezialeffekte umwandelte.
Jen sah sich in dem High-Tech-Palast um, und ihre Augen wurden immer größer, während sie sich an das Dämmerlicht gewöhnten. Obwohl durch die schweren Vorhänge kaum Licht in die Wohnung drang (Sonnenlicht war genauso böse wie Staub), funkelte alles um uns herum. Lexa hatte sich ausschließlich mit Edelstahl-Küchenmöbeln eingerichtet, deren glänzenden Oberflächen die roten und grünen LEDs der verschiedenen Geräte reflektierten, die gerade am Netz hingen und aufgeladen wurden: mehrere Handys, ein MP3-Player, drei Laptops und eine elektrische Zahnbürste, die neben der Küchenspüle stand. (Lexas Zähne blitzten trotz ihres Koffeinkonsums so strahlend sauber wie ihr Apartment.) Und natürlich standen mehrere Rechner herum, über deren ruhende Bildschirme bunte Lichtblasen schwebten, die sich wiederum im Metall der Möbel spiegelten. Jens WLAN-Armband blinkte begeistert. Als Lexa es bemerkte und anerkennend nickte, fühlte ich mich merkwürdigerweise persönlich geschmeichelt.
In einem die gesamte Länge einer Wand einnehmenden Edelstahlregal lagerten Speichererweiterungen, Laufwerke, externe Festplatten und diverse Kabel, die jeweils mit verschiedenfarbigen Stickern markiert waren. Auf dem obersten Regalbrett standen Dutzende von Elektrokaminen nebeneinander, in denen ein künstliches Feuer flackerte, das die Zimmerdecke in einen rosigen Schein tauchte.
Tja, der Grat zwischen cool und sonderbar ist manchmal hauchdünn. Ob man das eine oder das andere Etikett abbekommt, hängt letztlich von der Gesamtwirkung ab. Mich versetzte Lexas Wohnung – quasi ein Raum voller Kerzen, aber ohne Brandgefahr – jedes Mal in einen Zustand perfekter mentaler Gelassenheit. Man hatte das Gefühl, sich im Inneren eines riesigen meditierenden Kopfes zu befinden. Vielleicht also doch Zen.
Wenn man nicht den Stempel »sonderbar« aufgedrückt bekommen will, hilft es außerdem, richtig gut Geld zu verdienen. Und das tat Lexa. Sie hatte die berühmten Spezialeffekte wie das Zeitlupen-Kung-Fu und die Ballerorgien für die bereits erwähnte Sci-Fi-Trilogie mitentwickelt und war seitdem so gut im Geschäft, dass sie das Cool Hunting nur noch als Hobby betrieb, wenn man in ihrem Fall nicht sogar von einer Art Berufung sprechen konnte. Es war ihr erklärtes Lebensziel, die Hersteller von MP3-Playern, Handys und anderen elektronischen Geräten dazu zu bringen, sich den Gesetzen des einzig wahren guten Designs zu unterwerfen: klare Linien, ergonomische Knöpfe und sanft pulsierende LEDs.
»Du warst schon lang nicht mehr hier, Hunter«, stellte Lexa fest und warf Jen einen vielsagenden Seitenblick zu.
»Ja, na ja … der Sommer, du weißt schon.«
»Hast du die Mail bekommen, die ich dir in Sachen SHIFT geschickt hab?«
»Äh, ja, hab ich.«
Noch ein Einschub zum Thema sonderbar: Ein mit Lexa befreundeter Innovator hatte die Theorie entwickelt, Großbuchstaben würden bald ein Comeback erleben. Er war der Meinung, all die Cyberkids, die noch nie in ihrem Leben die Shift-Taste benutzt hatten (außer um bestimmte Sonderzeichen zu tippen), würden bald anfangen, Sätze wieder mit Großbuchstaben zu beginnen und vielleicht sogar ihre Vornamen und andere Eigennamen mit großen Anfangsbuchstaben zu schreiben. Lexa glaubte zwar nicht, dass diese Zeitenwende tatsächlich unmittelbar bevorstand, war aber entschlossen, alles zu tun, um diesen Prozess zu beschleunigen. Sie und ihre Freunde waren überzeugt davon, dass typographische Faulheit auf lange Sicht zur Zerstörung unserer Kultur führen würde. Jede Form von Schlamperei bedeutete in ihren Augen den Tod.
Auch wenn mir die Feinheiten dieser Theorie nicht ganz klar waren, hatte ich verstanden, dass das Konzept von SHIFT darin bestand, dass man nur genügend Trendsetter aktivieren musste, die anfingen, in ihren Mails, Blogs und Postings Großbuchstaben zu verwenden, damit die Herdentiere folgten.
»Du hast dich noch nicht als Follower eingetragen, oder?«
Ich räusperte mich. »Ich bin, was die SHIFT-Sache angeht, eher Agnostiker.«
»Willst du damit sagen, du zweifelst daran, dass Großbuchstaben überhaupt existieren?« Lexa neigte manchmal dazu, Aussagen allzu wörtlich zu nehmen.
»Nein, das nicht. Ich hab sogar schon mit eigenen Augen welche gesehen. Ich weiß nur nicht, ob es notwendig ist, gleich eine Bürgerbewegung …«
»Wovon redet ihr eigentlich?«
Lexas Augen leuchteten, weil sie die Möglichkeit witterte, jemanden zu konvertieren. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass kein Mensch mehr Großbuchstaben benutzt? Alle schreiben nur noch einen einzigen kleingeschriebenen Buchstabensalat, bei dem keiner weiß, wo die Sätze anfangen und wo sie aufhören. «
»Und ob mir das aufgefallen ist. Eine ganz üble Marotte.«
Lexas zahnseidengereinigtes Lächeln überstrahlte den rosigen Schein des künstlichen Kaminfeuers. »Cool. Dann musst du unbedingt bei SHIFT mitmachen. Gibt mir mal deine Mailadresse. «
»Ähem, Lexa, darf ich kurz unterbrechen?«
Lexa hatte bereits ihr Handy aus der Gürteltasche gezogen, um Jens Kontaktdaten aufzunehmen.
»Wir sind nämlich wegen was Wichtigem hier.«
»Schon okay, Hunter.« Sie steckte das Gerät widerstrebend wieder weg. »Was gibt’s?«
»Mandy ist verschwunden.«
Lexa verschränkte die Arme vor der Brust. »Verschwunden? Definiere.«
»Wir waren eigentlich heute Vormittag in Chinatown mit ihr verabredet«, erzählte ich. »Aber sie ist nicht aufgetaucht.«
»Habt ihr schon versucht, sie anzurufen?«
»Haben wir – und dadurch haben wir das hier gefunden.« Ich hielt Mandys Handy hoch.
»Das ist ihres«, erklärte Jen. »Es lag in dem verlassenen Haus, vor dem wir auf sie gewartet haben.«
»Das klingt echt ein bisschen unheimlich«, gab Lexa zu.
»Mehr als nur ein bisschen«, sagte Jen. »Auf dem Handy ist ein Foto. Es ist total verschwommen, aber irgendwie beunruhigt es uns. Wir glauben, dass ihr was passiert sein könnte.«
Lexa streckte die Hand aus. »Darf ich mal?«
»Auf diese Frage hatten wir gehofft.«
Lexas superprofessionelle cinematografische Hardware anzuwerfen, um sich ein knapp handtellergroßes Digitalfoto anzuschauen, war in etwa so, als würde man in ein Space Shuttle steigen, um mal eben zum Imbiss an der nächsten Straßenecke zu düsen. Aber diese Unverhältnismäßigkeit zahlte sich aus.
Auf dem gigantischen Flachbildschirm wirkte Mandys letztes Foto noch hundertmal unheimlicher. Jetzt konnten wir endlich auch erkennen, worum es sich bei dem blendend weißen Streifen in der Ecke handelte. Es war der Spalt zwischen den Sperrholzbrettern, durch den Sonnenlicht hereinfiel. Das Foto war offensichtlich nur ein paar Schritte von der Stelle entfernt aufgenommen worden, wo wir das Handy gefunden hatten.
»Sieht aus, als hätte jemand das Vorhängeschloss abgemacht. « Jen beugte sich vor und zeichnete in dem weißen Lichtstreifen eine geschlängelte dunkle Linie nach – es war die Kette, die zwischen den Brettern baumelte und an deren Ende das geöffnete Vorhängeschloss hing. Der Spalt schien so breit zu sein, dass ein Mensch sich hindurchschieben konnte.
»Dann muss Mandy einen Schlüssel gehabt haben«, sagte ich.
Jen deutete auf den Bildschirm. »Aber als sie kam, war schon jemand anderes dort.«
Ich versuchte blinzelnd, den verschwommenen Fleck in der dunkelsten Ecke des Fotos zu identifizieren. Jetzt, wo ich ihn zu dieser Größe aufgeblasen sah, war ich mir nicht mehr sicher, ob es sich um ein Gesicht handelte. Wenn überhaupt, sah es aus wie die verpixelte Visage eines Mafia-Informanten.
»Was meinst du, Lexa? Könnte das ein Gesicht sein?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ja, vielleicht.«
»Kannst du nicht irgendwas machen, damit wir es etwas klarer sehen?«, fragte Jen.
Lexa verschränkte die Arme vor der Brust. »Klarer sehen? Definiere.«
»Na ja, dass es mehr wie ein Gesicht aussieht. Wie in den Krimis, wo FBI-Agenten Bilder am Computer bearbeiten.«
Lexa seufzte. »Lasst mich mal eins klarstellen, Leute. Was man in diesen Filmen sieht, ist kompletter Nonsens. Man kann ein verschwommenes Digitalfoto nicht klarer machen, als es ist. Es besteht nun mal aus einer bestimmten Anzahl von Pixeln und mehr Information ist da nicht rauszuholen. Außerdem arbeiten Gehirne bei der Gesichtserkennung viel zuverlässiger als jeder Computer.«
»Ja, aber könntest du unseren Gehirnen nicht ein bisschen auf die Sprünge helfen?«, fragte ich.
»Hört zu, ich hab Meereswellen, aufeinanderprallende Autos und wirbelnde Asteroiden im Computer nachgebaut. Ich hab entzündete Ekzeme von den Händen irgendwelcher Filmstars wegretuschiert, ich hab es regnen und schneien lassen und sogar nachträglich dafür gesorgt, dass Rauch aus dem Mund einer Schauspielerin kam, die sich weigerte, eine angezündete Zigarette zwischen die Lippen zu stecken. Aber soll ich euch mal sagen, was am Allerschwierigsten zu animieren ist?«
»Menschliche Gesichter«, riet Jen mutig.
»So ist es.«
»Weil die Mimik durch Hunderte winzig kleiner Muskeln erzeugt wird?«
Lexa schüttelte den Kopf. »Menschliche Gesichter sind gar nicht mal besonders ausdrucksstark. Affen haben mehr Gesichtsmuskeln, Hunde größere Augen und Katzen decken mit minimalen Bewegungen der Schnurrhaare ein breites emotionales Spektrum ab. Bei uns bewegen sich ja nicht mal die Ohren. Nein, das was es so schwer macht, sind die Zuschauer. Wir verbringen unser gesamtes Leben damit, zu lernen, den Gesichtsausdruck anderer Menschen zu deuten. Wir erkennen noch aus hundert Metern Entfernung durch eine Nebelbank, dass jemand wütend ist. Unsere Gehirne sind Maschinen, die Kaffee in Gesichtsanalysen umwandeln. Trinkt einen Schluck und probiert es aus.«
Ich nahm einen lauwarmen Schluck aus meinem Pappbecher und betrachtete noch einmal das Foto. Es war ein Gesicht, entschied ich, und es begann vage vertraut auszusehen.
»Gerade fällt mir ein, dass es vielleicht doch etwas gibt, das helfen könnte.« Statt nach der Maus zu greifen, wie ich es erwartet hätte, stand Lexa auf, ging zur Küchenzeile und nahm eine lange, schmale Schachtel aus einer der Schubladen. Erst als sie etwas herauszog und abriss, erkannte ich, dass es ein Stück Pergamentpapier war, mit dem man normalerweise Sandwiches einpackt. Sie kam zurück und hielt das halbdurchsichtige Papier an den Bildschirm. »Erzählt niemandem, dass ich euch das gesagt habe, aber manchmal sieht man verschwommen klarer.«
Jen und ich hielten die Luft an. Durch das halbtransparente Papier sahen wir tatsächlich ein Gesicht.
Und es gehörte ganz eindeutig dem Mann, der in der Dunkelheit hinter uns hergerannt war. Die einzelnen Farbflecken bildeten auf einmal ein zusammenhängendes Ganzes, das als seine Glatze, seine vorspringende Stirn und seine kindlichen Lippen zu erkennen war. Lexa hatte recht: Durch das Pergamentpapier hindurch konnten wir den verschwommenen Gesichtsausdruck mühelos deuten. Der Mann wirkte wild entschlossen und sehr abgebrüht.
Und er hatte sich auf Mandy gestürzt, so wie er sich auf uns gestürzt hatte.
Es war, als wäre er durch den Bildschirm ins Zimmer getreten. Einen Moment lang saßen wir alle wie gelähmt da, bis auf einmal ein schwedischer Popsong losplärrte:
Take a chance on me …
Mandys Handy blinkte. Lexa griff danach und schaute auf das Display. »Das ist ja komisch.«
»Wer ist es?«, fragte ich.
Lexa hob eine Augenbraue.
»Du, Hunter.«