Kapitel
DREIZEHN
»Das könnte jetzt gleich ein bisschen brennen«, warnte Jen.
Und wie es brannte. Natürlich brannte es.
Wasserstoffperoxyd ist eine extrem aggressive Säure. Man muss wissen, dass jedes Haar von einer Schuppenschicht geschützt ist, die Cuticula heißt und den sogenannten Cortex umhüllt, der die Pigmente enthält, die dem Haar seine Farbe verleihen. Das Wasserstoffperoxyd zerstört diese Schicht, damit die Pigmente sich lösen. Das geht schnell, ist aber eine ziemliche Sauerei. So ähnlich wie wenn man ein paar Aquarien zertrümmert, um die Fische zu befreien. Das ist auch der Grund dafür, dass bei Leuten, die sich die Haare erst blondieren und dann färben, während des Duschens immer ein bisschen Farbe in den Ausguss fließt. Das Glas ihres Aquariums ist beschädigt.
Das alles war mir zwar bekannt gewesen, aber eben nur theoretisch, weil ich mir meine Haare immer dunkler gefärbt und nie gebleicht hatte. (Ich hatte also quasi immer neue Fische ins Aquarium gesetzt, nie die alten befreit). Deswegen war ich nicht vorbereitet gewesen, als Jen mir das Blondiermittel, das die Konsistenz von Zahnpasta hatte, in die Haare schmierte.
»Das brennt total!«
»Hab ich doch gesagt.«
»Schon, aber … Ahhhh.«
Es fühlte sich an, als würden Tausende von Moskitos gleichzeitig an meinem Skalp saugen. Oder als wäre ich ein Glatzkopf, der um die Mittagszeit am Strand eingeschlafen ist.
»Wie fühlt es sich an?«
»So als … hätte mir jemand Säure auf den Kopf geschmiert. «
»Tut mir leid, aber ich musste die stärkste Konzentration verwenden. Wir wollen ja eine maximale Veränderung erzielen. Nächstes Mal tut es nicht mehr so weh, versprochen.«
»Nächstes Mal?«
»Ja. Nach dem ersten Blondieren ist die Kopfhaut viel unempfindlicher. «
»Unempfindlicher«, wiederholte ich mit dumpfer Stimme. »Toll. Ich fand ja immer schon, dass zu viel Gefühl nur stört.«
»Wer schön sein will, muss leiden.«
»Dann muss ich ja zum Niederknien schön werden.«
Sie wickelte Alufolie um meinen Kopf, sagte freundlich: »Darunter wird es jetzt ziemlich heiß, aber das soll so sein, das verstärkt die chemische Reaktion«, zog sich dann einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber.
Wir waren bei Jen in der Wohnung, genauer, in der Küche, die zwar klein, aber extrem professionell eingerichtet war. Von einem Deckengestell hingen Edelstahltöpfe und Pfannen, die leise in der Brise eines Abluftventilators schepperten, der schwer arbeitete, um den Gestank der Säure nach draußen zu pusten. Ein frisch gekauftes Nicht-Hunter-Partyoutfit hing zwischen den Töpfen, fein säuberlich in Plastikfolie verpackt, um sicherzustellen, dass mir die nächste Kreditkartenabrechnung nicht das Genick brach.
Jen wohnte hier mit ihrer älteren Schwester zusammen, die an ihrem Durchbruch als Patissière arbeitete. Auf vielen der geschwärzten Bleche ließen sich die Abdrücke von Keksen und Löffelbiskuits erahnen, und es gab eine ganze Batterie Siebe, mit denen Mehl in unsichtbaren Staub verwandelt werden konnte.
Die Küche war im Retrostyle eingerichtet oder vielleicht auch einfach nur alt. Der Stuhl, auf dem ich mich stumm leidend krümmte, war aus Chrom und Vinyl und passte zu der grün-gold gesprenkelten Resopalplatte des Küchentischs. Der Kühlschrank mit dem gigantischen Edelstahlgriff stammte original aus den Sechzigern.
Während die Säure allmählich meine Kopfhaut zersetzte, suchte ich verzweifelt nach Ablenkung.
»Wohnt deine Schwester schon lange hier?«
»Das war die erste Wohnung meiner Eltern. Wir haben hier alle zusammen gewohnt, bis ich zwölf war, aber sie haben sie auch nach dem Katastrophentag behalten.«
»Dem Katastrophentag?«
»Dem Tag, an dem wir nach New Jersey gezogen sind.«
Als ich versuchte, mir vorzustellen, wie eine ganze Familie hier Platz finden sollte, begann meine Kopfhaut klaustrophobisch zu prickeln. Abgesehen von der Küche gab es nur noch zwei winzige Räume mit Fenstern, die auf einen schmalen Lichtschacht hinausgingen. Das war die ganze Wohnung.
»Zu viert in dieser Wohnung? Deine Eltern haben sich bestimmt gefreut, als sie nach New Jersey gezogen sind.«
Jen machte ein Kotzgeräusch. »Klar. Meine Eltern schon. Aber ich nicht. Für die Leute in Jersey war ich mit meinen lila gefärbten Kiddie-Punk-Strähnen und den selbst genähten Klamotten der volle Freak.«
Ich dachte über meinen eigenen großen Umzug nach. »Na ja, wenigstens hast du nicht so weit weggewohnt, dass du deine alten Freunde nicht mehr besuchen konntest.«
Sie seufzte. »Ich hätte genauso gut am anderen Ende der Welt wohnen können. Als ich vierzehn war, hatte ich in Manhattan keinen einzigen Freund mehr. Die haben mich alle fallen lassen, als hätte ich mich durch den Umzug automatisch in eine Jerseytusse verwandelt oder so.«
»Autsch.«
Beim Reinkommen hatte ich einen kurzen Blick in Jens Zimmer geworfen. Typisch Innovatorin: Möbel vom Sperrmüll, ein Regal voller Notizbücher, ein Dutzend halb fertige Kunstprojekte aus Papier und Stoff, eine Wand, die mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Bildern zugepflastert war, eine, die sie mit einer Collage aus auf der Straße gefundenen Fotos tapeziert hatte, und eine, an der sie eine Pinnwand aufgehängt hatte, die wie ein Basketball-Spielfeld bemalt war und auf der Magneten mit Fotos von Spielern und Spielerinnen klebten. In der Höhle unter dem Hochbett stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem ein aufgeklappter Laptop in drahtloser Verbindung mit einem an der Wand befestigten WLAN-Router flimmerte. Das Chaos eines coolen Mädchen, das verzweifelt darum bemüht ist, verlorene Jahre wettzumachen.
»Wann bist du wieder hergezogen?«
»Letztes Jahr. Sobald sie es mir erlaubt haben. Aber es ist sauschwer, sich seine Coolness zurückzuholen, wenn man sie mal verloren hat. Das ist ungefähr so, als würde man sich extrem wohl mit sich selbst fühlen und zu irgendeinem perfekten Soundtrack im Kopf die Straße entlangschlendern und dann über ein Schlagloch stolpern, kennst du das? Im einen Moment ist man total cool und im nächsten … starren dich alle an und du bist plötzlich wieder in Jersey.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut es weh?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Vielleicht weil du so mit den Zähnen mahlst?«
»Wann hört es auf?«
Sie wog zwei unsichtbare Objekte in den Händen. »Kommt drauf an. Wir können es jederzeit rauswaschen. Aber jede Sekunde Schmerz wird dich blonder und weniger nach Hunter aussehen lassen, wenn du heute Abend den fiesen Typen gegenübertrittst. «
»Also tut es entweder jetzt mehr weh oder später.«
»So ungefähr.« Sie zog an dem riesigen Griff an der Kühlschranktür und holte einen Karton Milch heraus. Dann nahm sie eine Rührschüssel vom Metallregal und goss etwas von der Milch hinein. »Für später«, erklärte sie. »Wenn du es nicht mehr aushältst.«
»Milch?«
»Das neutralisiert die Säure. Du fühlst dich wahrscheinlich so, als hättest du ein Magengeschwür auf der Kopfhaut, oder?«
»Die Beschreibung ist ziemlich treffend.« Ich riss mich zusammen und starrte auf die zitternde weiße Oberfläche der Milch in der Schüssel. Blonder war besser, sicherer. Aber der Weg dorthin war lang und voller glühender Kohlen.
»Lenk mich noch ein bisschen ab«, bettelte ich.
»Bist du hier aufgewachsen?«
»Nein. Mit dreizehn aus Minnesota hergezogen.«
»Ach komm, genau das Gegenteil von mir. Wie war das für dich?«
Ich nagte an meiner Unterlippe. Eigentlich redete ich nicht gern über diese Erfahrung, aber über irgendwas musste ich ja reden. »Es hat mir die Augen geöffnet.«
»Wie meinst du das?«
Ein dünnes Säurerinnsal schlängelte sich langsam meinen Nacken herunter. Ich rieb es weg.
»Komm schon, Hunter. Du schaffst das. Werde eins mit der Säure.«
»Ich werde eins mit der Säure!«
Sie lachte. »Erzähl mir einfach irgendwas.«
»Okay, ich sag dir was: In Fort Snelling war ich ziemlich beliebt, ich war gut in Sport, hatte einen Haufen Freunde und die Lehrer mochten mich. Ich hab mich für cool gehalten. Aber an meinem ersten Tag in New York war ich plötzlich der uncoolste Junge der Schule. Ich war falsch angezogen, hörte nur Mainstream und hatte keine Ahnung, dass es auch Leute gab, die anders drauf waren.«
»Autsch.«
»Nein, das hier ist Autsch.« Ich zeigte auf meinen Kopf. »Das andere war eher so als … als hätte mich jemand plötzlich ausradiert.«
»Klingt ganz schön heftig.«
»Das war’s auch.« Meine Stimme zitterte, was natürlich nur an der Säure auf meinem Kopf lag. »Aber als ich mich damit abgefunden hatte, dass ich dort keine Freunde finden würde, war der Druck auf einmal weg, verstehst du?«
Sie seufzte. »Ja, das versteh ich.«
»Ab da wurde es interessant. In Minnesota hat es im Grunde nur vier Cliquen gegeben: die Landeier, die Sportler, die Freaks und die Cheerleader. Und auf einmal war ich an einer Schule, an der es siebenundachtzig verschiedene Gruppierungen gab. Mir wurde klar, dass um mich herum eine total komplexe Kommunikation ablief, eine Milliarde codierte Botschaften, die Tag für Tag über Klamotten, Frisuren, Musik oder einen speziellen Slang übermittelt wurden. Irgendwann hab ich angefangen, die Leute ganz genau zu beobachten und ihre Codes zu entschlüsseln.«
Ich blinzelte und holte tief Luft. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er schmelzen.
»Und dann?«
Ich zuckte mit den Schultern, was den Schmerz interessanterweise an ganz andere Stellen meines Kopfes verlagerte. »Nachdem ich das ein Jahr lang beobachtet hab, wechselte ich in der Neunten auf die Highschool, wo ich mich dann selbst neu erfinden konnte.«
Jen schwieg. Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, so detailliert davon zu erzählen, und fragte mich, ob die Säure schon in mein Gehirn gesickert war und Löcher hineingefressen hatte.
»Oh Mann.« Sie griff nach meiner Hand. »Das klingt schrecklich.«
»Ja, es war echt scheiße.«
»Aber dadurch bist du zum Cool Hunter geworden, oder?«
Ich nickte, worauf ein zweites dünnes Säurerinnsal meinen Rücken hinablief. Meine Kopfhaut schwitzte, und aus den Poren quollen glühende Lavaströme, wie man sie öfter im Programm eines bekannten Fernsehsenders zu sehen bekommt, der sich auf Berichte über wilde Tiere, neuartige Flugkörper und eben Vulkane spezialisiert hat. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken.
»Ich hab angefangen, Leute auf der Straße zu fotografieren, um herauszufinden, was cool ist und was nicht und vor allem, warum. Das Ganze wurde zu so einer Art Manie – ich hab so eine Tendenz, mich in Sachen reinzusteigern –, und dann hab ich angefangen, Kommentare dazu aufzuschreiben. Daraus hat sich dann ein Blog entwickelt. Und vor ungefähr drei Jahren hat Mandy meine Website entdeckt und mir eine Mail geschrieben: ›Der Klient braucht dich‹.«
»Aaahh, ein Happy End.«
Ich versuchte, ihr zuzustimmen, aber in diesem Moment war das einzige Happy End, an das ich denken konnte, mein Kopf in einem Eimer voll Milch. Einer Wanne voll Milch. Einem Schwimmbecken voll Eiscreme.
»Deswegen hast du diese Frisur«, sagte Jen.
»Wie bitte?«
»Ich hab mich gefragt, warum du deine Haare vorne so lang wachsen lässt. Irgendwie kam es mir komisch vor, dass du ein Cool Hunter bist und dein Gesicht hinter diesen Zotteln versteckst. «
Sie streckte die Hand aus und wischte einen Lavastrom von meiner Stirn, der mir sonst mein linkes Auge weggeätzt hätte. »Aber jetzt weiß ich, warum. Als du aus Minnesota hergezogen bist, hast du auf einen Schlag dein ganzes Selbstvertrauen verloren. Du musstest dein Gesicht verstecken. Und einen Teil von dir versteckst du immer noch.«
Ich räusperte mich. »Du findest, dass meine langen Haare von einem Mangel an Selbstvertrauen zeugen?«
»Na ja, ich könnte mir vorstellen, dass du immer noch Angst hast, eines Tages plötzlich wieder uncool zu sein.«
Ich spürte, wie ich rot wurde. Plötzlich empfand ich die Küche als extrem heiß, extrem klein und extrem eng. Ich wusste nicht, ob ich genervt war oder verlegen oder ob es an der Säure auf meinem Kopf lag. Ich wollte mir die Kopfhaut wegreißen, den riesigen Mückenstich aufkratzen, aus dem mein Gehirn zu bestehen schien. Das Wasserstoffperoxyd sickerte eindeutig durch meine Poren.
Jen lächelte und beugte sich so weit vor, dass ihr Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war. Sie spitzte die Lippen, und einen irren Moment lang dachte ich, sie würde mich küssen, und meine Wut löste sich in Überraschung auf.
Stattdessen blies sie mich nur ganz sanft an, eine zarte Brise, die mein Gesicht kühlte und mich am ganzen Körper erschauern ließ.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich kümmere mich darum. Deinen Haaren hat bald das letzte Stündlein geschlagen.«
Weil ich diese Nähe nicht aushielt, lachte ich und drehte mich weg.
Sie wartete, bis ich sie wieder ansah. »Ich weiß, wie es sich anfühlt, Hunter. Ich hab meine Coolness auch schon verloren. «
»Aber nicht wirklich. Die waren bloß zu beschränkt, um zu begreifen, wie cool du warst.«
»Doch. Ich hab alles versucht, aber ich konnte ihren Code einfach nicht knacken. Die Mädchen aus meiner alten Klasse halten mich wahrscheinlich immer noch für eine Spinnerin, die Gedichte schreibt.«
»Puh! Böse Altlasten.« Ich versuchte zu lächeln. Aber ich hatte die Erinnerung an mein erstes Jahr in New York selbst noch nicht verarbeitet. Sie war immer da, lag mir wie ein kalter, schwerer Klumpen im Magen. Ich spürte jetzt noch, wie der Klumpen mit jedem Schritt, den ich mich morgens der Schule genähert hatte, immer schwerer geworden war. Und die Erinnerung daran, wie entsetzlich allein ich mich gefühlt hatte, ließ ihn sofort wieder anschwellen.
Ich holte tief Luft und zwang mich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren, in der ich cool war. Okay, von brennender Säure zerfressen, von gnadenlosen Schurken gehetzt und meines Handys beraubt, aber nichtsdestoweniger cool … oder?
»Und dabei hab ich immer gedacht, um den Kopf gewickelte Alufolie könnte verhindern, dass einem andere Leute in den Kopf schauen und die Gedanken lesen«, sagte ich.
Jen grinste, wurde aber sofort wieder ernst. »Das hat nichts mit Gedankenlesen zu tun. Es ist dasselbe, von dem du gerade gesprochen hast. Es geht um Codes. Ich lese nur andere als du.«
»Du meinst, du nutzt deine Superkräfte für die gute Seite der Macht?«
»Statt für einen gigantischen Global Player, der Turnschuhe für die Massen herstellt? Kann sein.« Jen stand auf, tauchte einen Waschlappen in die Schüssel mit der Milch, hielt ihn mir triefend vor die geweiteten Augen und trat dann hinter mich. »Dann pass mal auf, was ich mit meinen Superkräften noch so alles kann.«
Ich spürte, wie sie die Alufolie wegnahm und mir etwas Kühles und angenehm Schweres auf den Kopf legte, das die Säure in etwas Wohltuendes verwandelte und meiner Qual endlich ein Ende setzte.
»Ahhh … «, stöhnte ich.
Immer noch flossen dünne Säurerinnsale meinen Hals hinunter, die ebenso brannten wie die Flammen des Unmuts darüber, dass sie in mir gelesen hatte wie in einem Buch. Ich fühle mich nämlich wesentlich wohler, solange ich derjenige bin, der die Codes entschlüsselt. Niemanden sieht sich gern alte Fotos von sich selbst an.
Aber als ich in den Spiegel schaute, gefiel mir, was ich sah.
Ohne Schweiß kein Preis.