Kapitel

DREISSIG

Ich senkte meine Stimme und hauchte mehr, als dass ich flüsterte: »Leise!«

Leise bedeutete in diesem finsteren Labyrinth vor allem eins: langsam. Wir bewegten uns wie Tiefseetaucher durch das Dunkel, machten Zeitlupenschritte und streckten dabei tastend die Hände vor, um ja nirgends dagegenzustoßen. Der Lichtstreifen leuchtete immer heller, je näher wir der Tür kamen. Allmählich wurde die Struktur des rauen Betonbodens sichtbar, dessen Oberfläche im schummerigen Licht wie mit winzigen Mondkratern übersät aussah.

Weitere Türen begannen sich aus der Schwärze herauszuschälen. Hinter den meisten von ihnen war es dunkel, aber unter einigen schimmerte ebenfalls Licht hindurch. Gedämpfte Geräusche drangen durch die Wand, Ächzlaute und ein dumpfes Schaben, das sich anhörte, als würden schwere Gegenstände über den schartigen Boden gezogen werden. Ein paar Leitern verschwanden in der Dunkelheit über uns, wo entlang der Wände ein luftiger Laufsteg verlief, von dem aus man auf ein Stahlgerüst gelangte, an dem Filmscheinwerfer, Boxen und Sound Equipment befestigt waren.

Das Licht, das unter der Tür hindurchsickerte, die wir zuerst gesehen hatten, schien viel heller zu strahlen als das der anderen. Es leuchtete beinahe aggressiv durch die Ritzen im Türrahmen, und ich stellte mir vor, wie dahinter eine grelle Verhörlampe auf Mandy gerichtet war, die an einem nackten Holztisch saß.

Jetzt konnten wir endlich auch verstehen, was sie sagte. »Ich habe den Eindruck, ihr habt da etwas missverstanden!«

Die Antwort darauf war zu leise, als dass ich irgendetwas davon verstanden hätte, aber die Stimme klang eiskalt und bedrohlich.

Ich hörte, wie hinter der Tür ein Stuhl zurückgeschoben wurde, dann Schritte.

Jen versteckte sich hastig hinter einem schweren, großen Gegenstand und bedeutete mir hektisch, ihr zu folgen. Der Lichtstreifen verdunkelte sich, als sich jemand der Tür näherte.

Ich huschte mit panisch klopfendem Herzen zu Jen hinüber und duckte mich genau in dem Moment neben sie, in dem die Tür aufging und gleißendes Licht in das riesige Studio strömte. Cowboystiefel und ein paar rot-weiße Sneakers des Klienten kreuzten meine Sicht – Schurke Nr. 3 (mittlerweile auch bekannt unter dem Namen Futura Garamond) eskortierte Mandy quer über die graue Betonfläche.

Die Dunkelheit verschluckte die beiden, als die Tür wieder zuschwang, doch kurz darauf ging über unseren Köpfen eine Reihe von Studioscheinwerfern an, die alles in grelles Licht tauchten. Jen zog mich gerade noch rechtzeitig tiefer in den Schatten, als Futura – die Hand immer noch am Lichtschalter – in unsere Richtung schaute.

Ich schluckte und presste mich mit wild klopfendem Herzen an Jen. Hatte er meine Schritte gehört? Uns gesehen?

»Hallo?«, rief er.

Wir erstarrten zu Salzsäulen, bis er den Kopf schüttelte und Mandy zu einem anderen, etwa zehn Meter von uns entfernt liegenden Raum führte. Sie ging allein hinein, Garamond ließ die Tür hinter ihr ins Schloss fallen und rief: »Ich komme gleich wieder.« Er ging auf eine der Leitern zu und kletterte behände daran empor, wobei seine Cowboystiefel auf den Streben ein metallisches Echo durch den Raum schickten. Wir sahen durch das Gitter des Laufstegs, wie er direkt über uns hinwegmarschierte. Dann entfernten sich seine Schritte und wurden leiser.

Immer noch eng aneinandergepresst, verharrten Jen und ich noch einen Moment lang reglos in unserem Versteck. War er immer noch dort oben und schaute auf uns herunter? Wartete er nur darauf, dass wir uns zeigten? Oder führte der Steg in einen ganz anderen Teil des Gebäudes?

Nach langen Sekunden des Wartens flüsterte Jen: »Komm!«

Wir schlichen uns zu der Tür, hinter der Mandy verschwunden war, während ich immer wieder nervös zu den Scheinwerfern hochschaute. Ich fühlte mich in dem grellen Licht nackt, aber wir konnten nicht riskieren, sie auszuschalten, das hätte Garamond, egal wo er sich gerade befand, garantiert bemerkt.

Als wir die Tür erreicht hatten, legte Jen ganz vorsichtig die Hand um den Knauf und drehte ihn so behutsam wie das Zahlenschloss an einem Tresor.

Sie schüttelte den Kopf. Abgeschlossen.

Ich legte ein Ohr an das kalte Metall und hörte – nichts. Das musste der Raum sein, in dem sie Mandy zwischen den Verhören gefangen hielten. Worauf hatten sie es abgesehen? Wollten sie an geheime Marketingpläne gelangen? Von Mandy bestätigt bekommen, dass der Klient im Ausland Ausbeuterbetriebe unterstützte? Mehr über mich herausfinden?

Aber ganz egal, was der Anti-Klient von Mandy wollte – jetzt war definitiv der ideale Moment, sie zu befreien. Und zwar so schnell wie möglich. Futura Garamond hatte gesagt, er würde wiederkommen.

Jen klopfte pantomimisch an die Tür und sah mich fragend an.

Ich schüttelte hastig den Kopf. Wenn Mandy fragte, wer da sei, würden wir sofort auffliegen. Ihre durchdringende Stimme war berühmt dafür, unaufmerksame Fokusgruppenteilnehmer in Nullkommanichts wieder zur Ordnung rufen zu können.

Ich tat so, als würde ich die Tür einschlagen, und Jen nickte zustimmend. Uns würde nichts anderes übrig bleiben, als sie mit Gewalt zu öffnen.

Leider hatten wir vergessen, einen Rammbock mitzubringen. Die grau lackierte Metalltür sah extrem massiv aus. Wenn wir dagegentraten, würde der Lärm Futura und die anderen sofort auf uns aufmerksam machen. Wir mussten es also schaffen, sie mit einem einzigen wohlgezielten Schlag aufzubrechen, Mandy rauszuholen und aus dem Studio zu rennen.

Ich schaute mich nach einem Gegenstand um, mit dem wir die Tür einschlagen konnten, und entdeckte in einer Ecke einen Feuerlöscher.

Als ich darauf zugehen wollte, stellte Jen sich mir in den Weg, schüttelte den Kopf und zeigte stumm auf die Stelle, wo wir uns versteckt hatten.

Erst jetzt im Scheinwerferlicht erkannte ich, wohinter wir uns geduckt hatten. Es war ein Dolly, ein schwerer, vierrädriger Wagen für Kamerafahrten. An seiner Vorderseite befand sich ein kranartiger Schwenkarm, an dem die Kamera befestigt wurde.

Ich lächelte. Da stand er, unser Rammbock.

Wir schlichen zu dem Dolly zurück und schoben ihn zögernd an, worauf er auf seinen Gummirädern – geschaffen für ruckelfreie, weiche Kamerafahrten – geschmeidig über den Betonboden glitt.

Jen und ich grinsten uns an. Perfekt.

Wir positionierten ihn so, dass der Kamerakran genau auf die Mitte der Tür zeigte.

»Eins … zwei … drei … «, flüsterte Jen, und wir stemmten uns mit unserem ganzen Gewicht gegen den Wagen, der rasch an Fahrt aufnahm und beinahe lautlos über den Boden schnurrte.

Ungefähr fünf Sekunden vor dem Aufprall ging die Tür auf und Mandy starrte uns aus einem kleinen, grell erleuchteten Raum verdutzt entgegen. Ich kam schlitternd zum Stehen, aber unser Rammbock raste unaufhaltsam auf sein Ziel zu.

»W-Was zum … «, stammelte Mandy, während der Dolly auf sie zuraste. In letzter Sekunde griff sie geistesgegenwärtig nach der Tür und zog sie mit einem Knall zu.

Als der Dolly gegen das Metall krachte, hörte sich das an wie ein Auto, das mit voller Geschwindigkeit in eine Mülltonne brettert. Die Tür wurde nach innen gedrückt und schloss sich um den Kameraschwenkarm wie ein Magen um eine Faust.

»Mandy!« Ich hechtete nach vorne.

Jen und ich zogen den Dolly mit aller Kraft zurück, wodurch die Tür aus ihren Angeln gerissen wurde und vor uns zu Boden knallte.

In dem kleinen Raum starrte Mandy schockiert auf uns herunter. Ich sah, dass sie auf einer Kloschüssel stand, auf die sie sich geflüchtet hatte – sie war nur auf der Toilette gewesen. Aus den Rohren in der Wand hinter ihr drang immer noch das Rauschen der Spülung.

»Bist du verletzt?«, rief ich.

»Hunter? Was zum Teufel machst du …?«

»Später!«, keuchte ich und zog sie vom Klo runter. Jen war schon Richtung Ausgang gerannt, raus aus dem Scheinwerferlicht und hinein in die schützende Dunkelheit. Ich zerrte die sprachlose Mandy hinter mir her und stieß mir die Schienbeine an im Dunkeln nicht erkennbaren Hindernissen, während wir auf die große Schiebetür zustürmten.

Hinter mir wurden hektische Geräusche laut, Türen schwangen auf und Licht flutete durch das Studio. Wenn wir es nur bis zum Wachmann im Pförtnerhäuschen schafften oder wenigstens bis nach draußen ins Sonnenlicht …

»Hunter!« Mandy kugelte mir fast den Arm aus, weil sie sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten lehnte, um mich daran zu hindern, wegzurennen.

»Lauf! Na los, lauf schon!«, brüllte ich und versuchte sie vorwärts zu ziehen, aber sie stemmte die Fersen in den Boden und brachte mich zum Stehen.

Ich drehte mich irritiert zu ihr um.

»Was machst du da?«, rief sie.

»Dich retten!«

Sie sah mich eine endlose Sekunde lang an, dann schüttelte sie seufzend den Kopf. »Oh Hunter, du bist echt so was von vorgestern.«

Und dann explodierte plötzlich alles um uns herum. Eine Armada an Scheinwerfern flammte auf und traf uns aus allen Richtungen.

»Ach du Scheiße!«, hörte ich Jen fluchen.

Blind wie ein Maulwurf schirmte ich meine Augen vor dem blendend weißen Licht ab, dann hörte ich Schritte und das Geräusch von Skaterrollen, die viel zu schnell näher kamen.

Ganz genau: Ach du Scheiße.