Kapitel

DREIUNDDREISSIG

Sie ließen uns einfach dort zurück.

»Ich wünschte, wir könnten mit euch zusammenarbeiten, aber ihr seid einfach ein zu hoher Risikofaktor«, erklärte Mwadi und schwang sich in den Laderaum des Transporters.

»Aber wir haben sie doch nicht absichtlich auf eure Spur gebracht.« Jens Gesicht war rußgeschwärzt und tränenüberströmt. »Wir haben sie doch nur benutzt, um an euch ranzukommen. «

»Und am Ende haben sie den Spieß umgedreht und euch benutzt.«

»Beim nächsten Mal sind wir vorsichtiger, versprochen!«

Mwadi nickte. »Das rate ich euch auch. Die Purpurnen werden euch im Auge behalten. Ihr seid die einzige Verbindung zu uns, die sie kennen. Und genau das macht euch für unsere zukünftigen Projekte leider nutzlos.«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass wir uns auskennen.«

»Stimmt, und das wissen die Purpurnen jetzt auch. Wenn ihr weiter nach uns sucht, führt ihr sie geradewegs an meine Türschwelle.«

»Aber …«

»Vergiss einfach, dass es uns gibt, Jen James. Tu so, als wäre das alles nie passiert.« Mwadi lächelte. »Und wenn du schön brav bist, setz ich dich auf unsere Adressenliste.«

Sie stampfte mit dem Fuß einmal auf der Ladefläche auf, das dröhnende Echo der Rollerskates auf dem Metall hallte wie ein letzter hoheitlicher Gruß über den Hof, dann setzte der Transporter sich stotternd in Bewegung, fuhr in einem langsamen Bogen um den geschwärzten Berg aus verbrannter Pappe und Kunststoff herum und anschließend auf die schmale Straße hinaus.

Jen lief ihm ein paar Schritte hinterher, als hoffte sie, ihn noch aufhalten zu können, sagte aber kein Wort. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und lauschte wie erstarrt dem Tuckern des Transporters nach.

Als nichts mehr zu hören war, drehte sie sich um und betrachtete den Scheiterhaufen.

»Es muss noch irgendwas übrig geblieben sein.«

»Was soll übrig geblieben sein?«

»Ein Stofffetzen oder ein Stück Sohle.« Sie stellte sich an den Rand des rauchenden Haufens und wühlte mit der Spitze ihres Schuhs verbissen in den verkohlten Überresten. »Vielleicht finden wir eine von diesen Ösen oder wenigstens einen Schnürsenkel.«

Fast hätte ich gelächelt. Vor uns lag alles in Schutt und Asche und Jen kehrte zu ihren Wurzeln zurück: Schnürsenkel.

Sie sank auf die Knie, das Gesicht von dem nach geschmolzenem Plastik stinkenden Rauch weggedreht, und begann mit spitzen Fingern nach irgendetwas zu suchen, das unversehrt geblieben war.

»Jen …«

»Vielleicht finden wir ja sogar noch einen ganzen Schuh. Wenn ein Haus abbrennt, findet man doch auch immer noch irgendwelche Sachen, die das Feuer nicht …« Der Rest ihres Satzes ging in einem von der aufgewühlten Asche ausgelösten Hustenanfall unter. Nachdem sie wieder einigermaßen durchatmen konnte, wischte sie sich mit dem rußverschmierten Handrücken über die Nase und spuckte dann etwas Schwarzes aus.

»Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden, Jen?«

Sie schaute zu mir auf, als würde sie sich wundern, dass ich nicht auch neben ihr im Dreck kniete und mitsuchte.

»Was machst du da?«

»Wonach sieht es denn aus? Mein Gott, Hunter! Ich tue das, was wir schon die ganze Zeit tun. Ich suche die verdammten Schuhe.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe nach Mandy gesucht.«

Sie hob ihre geschwärzten Hände und ließ sie wieder sinken. »Wie sich herausgestellt hat, geht’s ihr blendend. Wahrscheinlich steht sie sogar kurz vor ihrer Beförderung. Und du willst jetzt einfach aufgeben? Nur weil Mwadi Wickersham es uns befohlen hat?«

Ich stellte mich seufzend an den Rand des verkohlten Haufens und spürte die Wärme der Asche unter meinen Schuhsohlen. Die Sonne war untergegangen, und die Glutreste waren das Einzige, das in der Dämmerung noch ein wenig Licht spendete. Ich kniete mich neben Jen.

»Was denn aufgeben?«

»Die Suche.«

»Wonach? Die Schuhe sind weg.«

Sie gab keine Antwort, schüttelte nur starrsinnig und wütend den Kopf wie eine Zwölfjährige, die gezwungen wird, nach New Jersey zu ziehen. Als wäre ich ein Idiot, wenn ich glaubte, sie könne die Antwort so leicht in Worte fassen. Wo doch nichts so schwer zu finden war wie das, wonach sie suchte: verlorene Coolness.

»Vielleicht ist es besser so, Jen«, tröstete ich sie.

»Besser?«

»Willst du wirklich für diese Typen arbeiten? Die großen Pläne der Spalter verwirklichen? Jede Minute deines Lebens mit nichts anderem beschäftigt sein, als die Welt zu verändern? «

Sie starrte mich mit zornfunkelndem Blick an. »Ja, genau das will ich.«

»Meinst du das ernst?«

»Das hab ich schon immer gewollt.« Sie stocherte wieder in der Asche herum und wirbelte eine Wolke aus schwarzen Rußpartikeln auf, die mich dazu zwang, mich abzuwenden und die Augen zuzukneifen. »Was willst du denn, Hunter? Dich weiter dafür bezahlen lassen, dir Werbespots anzuschauen? In Fokusgruppen abhängen und darüber diskutieren, ob Stulpen wieder in Mode kommen? Nach coolen neuen Schnürsenkeln jagen? Immer nur beobachten, statt einzugreifen und etwas zu tun

»Ich beobachte nicht nur.«

»Nein, du machst Fotos und verkaufst sie, du entwickelst Theorien und liest eine Menge. Aber du tust nichts.«

Ich sah sie mit großen Augen an.

»Ich tue nichts?« Ich war mir ziemlich sicher, dass ich einiges getan hatte. Zumindest in den letzten zwei Tagen. Seit ich sie kennengelernt hatte.

»Ja genau. Du beobachtest bloß. Du analysierst. Du folgst. Das ist es, was du an der Pyramide am liebsten magst: sie dir von außen ansehen. Aber du hast Angst, etwas in ihrem Inneren zu verändern.«

Ich schluckte – der Rauchgeschmack in meinem Mund erinnerte mich an verbrannten Toast – und sagte nichts. Was denn auch? Sie hatte ja recht. Ich war ihr bis hierher gefolgt. Wo ich längst aufgegeben hätte, war sie stur immer weitergegangen. Ich hatte mich an sie drangehängt und auf der Jagd nach dem Unheimlichen, dem Erschreckenden von ihrem Mut profitiert – so wie Cool Hunter es schon immer getan hatten.

Und am Ende hatte ich noch nicht einmal das hingekriegt, was ich eigentlich am besten konnte: die Augen aufzuhalten und genau zu beobachten. Ich hatte nicht gemerkt, dass wir verfolgt wurden, und zugelassen, dass eine Bande dämlicher Purpurner Jen für ihre Zwecke benutzt und sie mit nichts als einem Haufen Asche zurückgelassen hatte.

Ich dachte daran, wie ich Mandy das Foto von Jens Schnürsenkeln gemailt hatte – schon bei unserer allerersten Begegnung hatte ich sie verraten und verkauft. Ich war nichts als ein Betrüger. Immer noch der gleiche uncoole Typ, der ich gewesen war, als wir damals von Minnesota hergezogen waren.

Ich hatte es nicht verdient, bei den Spaltern mitzumachen oder Jens Freund zu sein.

»Okay. In Zukunft werde ich dir nicht mehr im Weg stehen. « Ich stand auf.

»Hunter …«

»Nein. Ich will dir auf keinen Fall mehr im Weg stehen, hörst du?« Noch nie hatte meine Stimme so schroff geklungen oder der Kloß in meinem Magen sich so schwer angefühlt.

Ich ging davon, und noch bevor ich die Straße erreicht hatte, hörte ich, wie sie sich wieder an die Arbeit machte und weiter den Aschehaufen durchwühlte.