Kapitel
ZWÖLF
»Hingehen?«
»Wir haben keine andere Wahl, Hunter.«
Ich starrte sie entgeistert an.
»Denk doch mal nach. Die wissen jetzt, wie du heißt, und wenn sie sich noch ein bisschen mehr ins Zeug legen, finden sie mit Sicherheit noch viel mehr über dich raus.«
»Du weißt wirklich, wie man Menschen Mut zuspricht.« »Aber die Einladungskarten sind der Beweis dafür, dass sie noch gar nicht versucht haben, mehr über dich in Erfahrung zu bringen. Die wollen nämlich vor allem wissen, wie weit du gehen wirst, um sie zu finden.«
»Wovon redest du?«
Jen zog mich tiefer in die verlassene Lagerhalle hinein und zeigte in eine Ecke, in der meine noch nicht auf Nachtmodus justierten Augen kaum etwas erkennen konnten.
»Die haben den Umschlag genau an die Stelle geklebt, wo vorhin noch die Kartons standen, weil sie damit gerechnet haben, dass du zurückkommst, um nach Mandy zu suchen und dir die Schuhe noch mal anzusehen. Deswegen haben sie dir eine Nachricht hinterlassen, die übersetzt nichts anderes heißt als: ›Wenn du mehr wissen willst, dann komm heute Abend‹.«
»Womit ich denen auch gleich die Mühe ersparen würde, selbst nach mir zu suchen.«
Jen nickte. »Clever von ihnen. Und gut für uns. Es gibt keine bessere Möglichkeit, um herauszufinden, wer sie sind.«
»Es gibt keine bessere Möglichkeit, um bald als vermisst gemeldet zu werden – genau wie Mandy.«
Jen verschränkte die Arme und starrte an die Wand. »Stimmt. Das wäre natürlich scheiße. Das heißt, wir müssen uns was ausdenken, womit sie nicht rechnen.«
»Wie wär’s, wenn wir gar nicht erst hingehen? Ich wette, damit rechnen sie nicht.«
»Oder …« Jen sah mich nachdenklich an und strich mir eine meiner langen Haarsträhnen aus der Stirn. Als sie meine Wange berührte, spürte ich meinen eigenen Herzschlag unter ihren Fingerspitzen.
»Der Typ hat dich doch nur ein paar Sekunden gesehen«, sagte sie. »Meinst du, der würde dich wiedererkennen?«
Ich versuchte zu ignorieren, was Jens Berührung in meinem Inneren anrichtete. »Und ob ich das meine. Haben wir nicht eben erst gelernt, dass Menschen Maschinen sind, die Kaffee in Gesichtserkennung umwandeln?«
»Okay, aber es war verdammt dunkel hier drin.«
»Er hat uns auch oben im Sonnenlicht gesehen.«
»Aber da war er geblendet und du hattest noch nicht deinen neuen Haarschnitt.«
»Meinen neuen was?«
»Auf den Einladungen steht ›Dress for Success‹. Ich wette, in einem Smoking würdest du total anders aussehen.«
»Ich wette, mit eingeschlagener Fresse würde ich auch total anders aussehen.«
»Ach komm, Hunter. Hast du keine Lust auf ein kleines Vorher-Nachher-Spiel?« Jens Finger zogen die Konturen meiner Wangenknochen nach und drehten sanft meinen Kopf zur Seite, damit sie mein Profil sehen konnte. Sie musterte mich so eingehend, dass ich ihren Blick fast körperlich spürte. Als ich den Kopf wandte und ihr in die Augen sah, machte es ungefähr so: PANG!
»Kürzer und blond würde ich sagen«, murmelte sie und hielt meinen Blick fest. »Ich bin eine begnadete Haarfärberin, musst du wissen.«
Ich nickte so langsam, dass ihre Fingerspitzen über meine Wange strichen. Sie ließ die Hand sinken und betrachtete wieder meine Haare. Als wahre Innovatorin schnitt und färbte Jen sich die Haare sicher selbst. Ich stellte mir vor, wie sie mir mit diesen Fingerspitzen sanft meine eingeschäumte Kopfhaut massierte, und wusste, dass ich keine Gegenargumente mehr hatte.
»Was soll’s«, seufzte ich. »Wenn sie es wirklich drauf anlegen, finden sie mich früher oder später ja sowieso.«
Jen lächelte. »Und dann kann es nichts schaden, wenn du heiß aussiehst.«
»Was würdest du denn auf eine Party mit Dresscode normalerweise anziehen?«
»Auf gar keinen Fall eine Krawatte. Ich hab so ein Hemd mit Stehkragen. Das und ein schwarzes Jackett, würde ich sagen.«
»Okay, das klingt absolut nach dir. Und damit du nicht nach dir aussiehst, gehst du mit Fliege.«
»Mit was?«
»Ich glaub, die hängen dort drüben.«
Wir befanden uns in der Herrenabteilung eines bekannten Kaufhauses, das eine tragende Rolle bei der alljährlichen Thanksgiving-Parade spielt und in unzähligen Weihnachtsfilmen auftaucht. Nicht die Art von Geschäft, in dem Jen oder ich normalerweise einkaufen. Aber genau darum ging es, wie ich inzwischen begriffen hatte. Wir shoppten für den Nicht-Hunter.
Der Nicht-Hunter trug Fliege. Er trug gestärkte weiße Hemden und Smokingwesten aus schwarzer Seide. Der Nicht-Hunter schien nicht zu wissen, dass draußen Sommer war. Vermutlich bewegte er sich in einer klimatisierten Limousine von einem klimatisierten Ort zum nächsten. Er würde auf der Hoi-Aristoi-Party perfekt mit den anderen Gästen verschmelzen.
Und hoffentlich würde der Nicht-Hunter allen Schlussfolgerungen, die man aufgrund des Handys über den echten Hunter ziehen konnte, ins Gesicht lachen. Um den Anti-Klienten zu verfolgen, würde ich mich in einen Anti-Hunter verwandeln.
Der echte Hunter warf im Vorbeigehen einen Blick auf eines der Preisschildchen. »Die Jacketts hier kosten tausend Dollar! «
»Stimmt, aber wir können die Sachen am Montag zurückgeben und bekommen unser Geld wieder. Modefotografen machen das immer so. Du hast doch eine Kreditkarte, oder?«
»Äh … ja.« Der Plan, die Sachen zurückzugeben, erschien mir zwar reichlich riskant, aber den meisten Innovatoren fehlt nun mal das Risiko-Einschätzungs-Gen. Jen schlenderte wie in einer Art Trance durch die Gänge, befühlte überteuerte Stoffe und sog gierig die Atmosphäre dieses Ladens ein, in dem sich die Brahmanen unter den New Yorkern ihre exklusive Einheitsuniform besorgen und damit ihre Zugehörigkeit zur obersten Kaste demonstrierten.
Als ihr Radar den Echoimpuls meiner zitternden Nerven erfasste, brachte sie das Karussell mit den bestürzend teuren Smokingfliegen, das sie gerade angestupst hatte, mit einer Handbewegung zum Stehen. »Entspann dich, Hunter. Offiziell steigt die Party erst in vier Stunden. Das heißt, dass uns mindestens noch fünf Stunden bleiben, weil vorher sowieso niemand dort aufkreuzt. Du hast also noch jede Menge Zeit, dich fein zu machen.«
»Und wann machst du dich fein, Jen?«
Sie stieß einen Seufzer aus und nickte. »Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Das Problem ist, dass wir zu leicht zu erkennen sind, wenn wir zu zweit dort auftauchen. Ich muss mir für meine Tarnung also noch irgendwas Gutes einfallen lassen.«
»Moment mal. Heißt das, dass wir gar nicht zusammen hingehen? «
»Hey, das ist doch nicht so schlimm.« Sie drehte sich um und zog ein zweireihiges Jackett vom Ständer, dessen kohlschwarzer grob gewebter Leinenstoff die Textur von handgeschöpftem Papier hatte und sämtliches Licht im Raum zu schlucken schien.
»Wow, cool.«
»Ja, du hast recht. Zu sehr du.« Sie hängte es wieder weg.
»Wir brauchen eher was Dezentes. Es darf nicht aussehen, als würdest du mit Gewalt versuchen, cool zu sein.«
»Wie bitte? Willst du damit etwa sagen, dass ich mit Gewalt versuche, cool zu sein?«
Jen drehte sich lachend zu mir um. »Du wendest genau das richtige Maß an Gewalt an.«
Während sie herumwirbelte und auf einen anderen Ständer mit Jacketts zusteuerte, dachte ich über das nach, was sie gesagt hatte. Ich blieb vor einem dreiteiligen Spiegel stehen und betrachtete mich mit wachsendem Unbehagen aus Blickwinkeln, aus denen ich mich nie zuvor gesehen hatte. Standen meine Ohren wirklich so ab? Das konnte unmöglich mein Profil sein, oder? Und wieso war mir hinten der Hemdzipfel rausgerutscht? Erst in diesem Moment wurde mir klar, was ich eigentlich anhatte. Wenn ich als Cool Hunter unterwegs bin, tarne ich mich normalerweise mit Kordhosen und Kapuzenshirts und werde unsichtbar. Aber heute Morgen war ich unbewusst in meine richtigen Sachen geschlüpft. Statt der neutralen Kordhose trug ich eine schmal geschnittene schwarze Stoffhose, statt des üblichen kaugummifarbenen Schlabber-T-Shirts ein hellgraues Trägershirt unter einem offenen schwarzen Hemd. Kein Wunder, dass meine Eltern die Zeichen irgendwie richtig gedeutet und meine Mutter zu der geradezu hellseherischen Behauptung verleitet worden war, Jen habe mich anscheinend mächtig beeindruckt.
Vielleicht war es für alle Welt offensichtlich. Vielleicht versuchte ich wirklich mit Gewalt cool zu sein.
»Ich glaub, ich hab das Richtige gefunden.« Der Spiegel reflektierte eine Collage multipler Jens aus den unterschiedlichsten Perspektiven. An ihrer ausgestreckten rechten Hand baumelten Kleiderbügel mit Smokingeinzelteilen. Als ich sie ihr abnahm, fühlte ich mich unwillkürlich in die Zeiten zurückversetzt, in denen meine Mutter mit mir einkaufen gegangen war und ich mich, was das Ergebnis ihrer Auswahl anbelangte, ähnlich unsicher gefühlt hatte.
»Meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn wir uns als Kellner verkleidet einschleichen würden oder so was in der Art?«
»Mhm, ja klar. Du hast wohl ein bisschen zu oft Mission Impossible geschaut, was?« (Das lasse ich mal so stehen, weil Jen garantiert die ursprüngliche Fernsehserie aus den Siebzigern meinte und nicht die Kinofilme.)
Sie fuhr mir mit einer Hand durch die Haare, betrachtete mich im Spiegel und lächelte. »Schau dich noch mal gut an, Hunter. Heute Abend wirst du dich nämlich nicht mehr wiedererkennen. «