Kapitel
EINS
»Kann ich deinen Schuh fotografieren?«
»Hm?«
»Mir geht’s vor allem um die Schnürsenkel. Wie du sie gebunden hast, meine ich.«
» Äh. Ja klar, mach ruhig. Tipptopp, was?«
Ich nickte. Tipptopp war diese Woche das Wort für »cool«, so wie man früher geil oder fett gesagt hat. Und die Schnürsenkel dieses Mädchens waren sehr cool. Sie waren leuchtend rot und auf der einen Seite erst mehrmals durch die mittlere Öse und dann so durch die übrigen Ösen auf der anderen Seite gefädelt, dass eine Art Fächermuster entstanden war. Das Ganze erinnerte ein bisschen an die alte japanische Flagge, auf der die aufgehende Sonne noch Strahlen hat, nur eben auf der Seite liegend.
Ich schätzte sie auf siebzehn, also mein Alter. Graues Kapuzenshirt über Camo-Hose, die Haare so schwarz gefärbt, dass sie da, wo die durch die Bäume fallenden Sonnenstrahlen ihren Kopf trafen, bläulich schimmerten. Die Schuhe waren schwarze Laufschuhe, das Logo des Herstellers mit schwarzem Stoffmarker übermalt.
Eine Innovatorin, dachte ich. Eindeutig. Innovatoren sehen auf den ersten Blick oft wie Logo-Verächter aus, bis man dann näher kommt und das eine Detail bemerkt, auf das sie ihre ganze Energie konzentrieren. Meistens ist es nur ein einziges Element.
Schnürsenkel zum Beispiel.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und richtete es auf ihre Schuhe.
Ihre Augen weiteten sich und sie deutete ein anerkennendes Nicken an. Mein aktuelles Handy war das Produkt eines finnischen Unternehmens und wurde ziemlich oft mit diesem Nicken bedacht – einer fast unmerklichen Neigung des Kopfes, die signalisiert: Hey, das hab ich erst neulich in einer Zeitschrift gesehen. Das wollte ich mir bei Gelegenheit auch holen. Natürlich kann das Nicken auch heißen: Jetzt wo ich jemanden gesehen hab, der das Teil tatsächlich besitzt, muss ich es mir aber schleunigst zulegen.
Genau das war der Effekt, den sich das finnische Unternehmen erhofft hatte, als es mir sein neuestes Gerät kostenlos zur Verfügung stellte. Oder anders ausgedrückt: Ich erledigte gerade zwei Jobs gleichzeitig.
Das Handy signalisierte mir den erfolgreich durchgeführten Speichervorgang, indem es mit der Stimme des Vaters einer bekannten und ziemlich gestörten gelben Zeichentrickfamilie »Mhmmmmmm, Schokolade« sagte. Nachdem dieses Soundfile allerdings nicht mit dem Nicken bedacht wurde, machte ich mir sofort eine mentale Notiz, es zu ändern. Homer war anscheinend out.
Ich betrachtete das Foto auf dem Display und prüfte, ob es scharf genug war, um die Schnürung bei Bedarf nachbinden zu können.
»Danke.«
»Keine Ursache.« Ein Hauch von Argwohn mischte sich in ihre Stimme. Was wollte ich mit einem Foto von ihren Schnürsenkeln?
Einen Moment lang herrschte zwischen uns das unbehagliche Schweigen, das häufig folgt, wenn ich gerade irgendeinen Unbekannten auf der Straße gefragt habe, ob ich seine Schuhe fotografieren kann. Man sollte meinen, ich wäre mittlerweile daran gewöhnt.
Ich ließ meinen Blick über den Fluss schweifen. Die Schnürsenkel-Innovatorin war mir im East River Park über den Weg gelaufen – einem schmalen Streifen Rasen plus asphaltiertem Gehweg zwischen dem FDR-Drive und dem Wasser. Einer der wenigen Orte der Stadt, an dem man erkennen kann, dass Manhattan eine Insel ist.
Sie trug einen Basketball unterm Arm, wahrscheinlich hatte sie auf einem der unkrautüberwucherten Plätze unter der Manhattan Bridge Körbe geworfen. Ich war – wie gesagt – zum Arbeiten hier. Auf dem Wasser schipperte so langsam wie der Minutenzeiger einer Uhr ein riesiges Containerschiff an uns vorbei. Am gegenüberliegenden Flussufer lag Brooklyn und sah extrem postindustriell aus. Die Domino-Zuckerfabrik wartete geduldig darauf, in eine Kunstgalerie umgewandelt zu werden oder in Luxusapartments für Millionäre.
Ich wollte lächeln und dann weitergehen, als sie sagte:
»Und was kann es noch?«
»Mein Handy?« Ich setzte automatisch dazu an, eine Liste der vielen Zusatzfeatures abzuspulen, zögerte dann aber. Das war der Teil meines Jobs, der mir keinen Spaß machte (weshalb ihr in diesem Text auch keine Markennamen finden werdet, falls es sich nur irgendwie vermeiden lässt). Also zuckte ich mit den Schultern und gab mir Mühe, mich nicht nach Handyverkäufer anzuhören. »Na ja, 20 Gigabyte Speicher, WLAN, Browser, Kamera mit 14-fach Zoom.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und bedachte das Handy wieder mit dem Nicken.
»Nur ein Digitalzoom, kein echter«, gab ich zu. Lügen gehörte nicht zu meinem Job.
»Und telefonieren kann man damit auch?«
»Klar, es …« Ich kapierte, dass sie mich verarschte. »Ja, man kann damit sogar telefonieren.«
Ihr Lächeln war sogar noch besser als ihre Schnürsenkel.
Als Alexander Graham Bell das Telefon erfand, stellte er sich vor, dass alle Menschen im ganzen Land durch einen riesigen Gemeinschaftsanschluss miteinander verbunden wären. Dass wir alle übers Telefon Konzerte hören oder vielleicht auch alle gleichzeitig den Hörer abheben und zusammen die Nationalhymne singen würden. Es kristallisierte sich allerdings ziemlich bald heraus, dass die Leute lieber Zweiergespräche führten.
Die ersten Vorläufer unserer Computer wurden entwickelt, um Marine-Manöver durchzuführen und Geheimcodes zu entschlüsseln. Auch das Internet wurde ursprünglich vom Verteidigungsministerium eingerichtet, um im Falle eines Atomkriegs eine störungsfreie Kommunikation zu ermöglichen. Aber was ist? Die meisten Leute nutzen das Netz, um zu mailen und zu chatten. Zweiergespräche eben.
Das Muster ist klar, oder?
»Ich heiße übrigens Hunter«, sagte ich und lächelte.
»Jen.«
Ich nickte wissend. »Jennifer war in den Siebzigern die Nummer eins auf der Beliebtheitsskala der Mädchennamen und stand in den Achtzigern immer noch auf Platz zwei.«
»Aha.«
»Oh, äh … tut mir leid.« Manchmal langweilen sich die in meinem Gehirn gesammelten Fakten und beschließen, in meinem Mund spazieren zu gehen. Das kommt meistens nicht so gut.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon okay. Es wimmelt nur so von Jennifers. Ich hab schon daran gedacht, meinen Namen zu ändern.«
»In den Neunzigern fiel Jennifer dann auf den vierzehnten Platz ab, wahrscheinlich war der Name einfach zu abgelutscht.« Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, dass ich das laut gesagt hatte. »Dabei finde ich ihn echt schön.«
Puh, gerade noch mal die Kurve gekriegt.
»Ich auch, aber er fängt an zu langweilen, verstehst du? Immer derselbe alte Name …«
»Zeit für ein Rebranding.« Ich nickte. »Klar. Machen alle.«
Sie lachte, und ich stellte fest, dass wir uns unmerklich in Bewegung gesetzt hatten und nebeneinander herschlenderten. Es war Donnerstag und der Park war ziemlich leer. Außer uns waren hauptsächlich Jogger und Hundebesitzer unterwegs, und am Ufer saßen zwei alte Männer, die im Fluss zu angeln versuchten. Wir duckten uns unter ihren in der Sommersonne flirrenden Angelschnüren hindurch. Hinter dem Metallgeländer schwappte der durch ein kleines Motorboot aufgewühlte Fluss gegen den Beton der Uferbefestigung.
»Und wo steht Hunter so?«, fragte sie. »Namensmäßig meine ich.«
»Interessiert dich das echt?« Ich überprüfte ihr Lächeln nach Anzeichen von Hohn und Spott. Nicht jeder kann meine Leidenschaft für das Ranking der beliebtesten Vornamen nachvollziehen.
»Na klar.«
»Okay, an Jennifer kommt er nicht ran, aber er macht sich. Bei meiner Geburt war Hunter noch nicht einmal unter den Top Vierhundert, inzwischen hat er sich einen stabilen zweiunddreißigsten Platz erkämpft.«
»Wow. Dann warst du deiner Zeit also voraus.«
»Könnte man sagen.« Ich warf ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Hatte sie mich womöglich schon durchschaut?
Jen prellte den Basketball einmal fest vor sich auf den Asphalt, und er flog mit einem sirrenden Echo in die Höhe, bevor sie ihn mit ihren langen Fingern auffing. Sie betrachtete einen Moment lang die Nähte und ließ ihn dann vor ihren grünen Augen wie einen Globus um die eigene Achse kreiseln.
»Aber du willst natürlich auch nicht, dass dein Name zu beliebt wird, oder?«
»Nein, das wäre gruselig«, sagte ich. »Man denke nur an die Britney-Epidemie Mitte der Neunziger.«
Jen schüttelte sich und genau in dem Moment meldete sich – wie aufs Stichwort – mein Handy mit der Titelmelodie von einer bekannten Mystery Serie.
»Siehst du?« Ich hielt es in die Höhe. »Man kann sogar angerufen werden.«
»Beeindruckend.«
Auf dem Display las ich shugrrl und das bedeutete Arbeit.
»Hey, Mandy.«
»Hunter? Bist du gerade schwer beschäftigt?«
»Äh, eigentlich nicht. Nein.«
»Kannst du zu einer Coolnessprobe vorbeikommen? Wir haben hier so eine Art Notfall.«
»Jetzt sofort?«
»Ja. Der Klient will am Wochenende einen Spot schalten, ist aber noch nicht ganz überzeugt.«
Mandy Wilkins nannte ihren Arbeitgeber immer nur »Den Klienten«, obwohl sie schon seit zwei Jahren für das Unternehmen arbeitete. Es handelte sich um einen bekannten Sportartikelhersteller, der nach einer griechischen Göttin mit vier Buchstaben benannt ist.
»Ich versuche zusammenzutrommeln, wen ich kann«, sagte sie. »Der Klient will in ein paar Stunden eine endgültige Entscheidung treffen.«
»Was gibt’s dafür?«
»Offiziell nur ein Paar Treter.«
»Ich hab schon zu viele«, sagte ich. Bestimmt einen Koffer voll – und da waren die, die ich verschenkt hatte, noch nicht mal mitgerechnet.
»Und wenn ich noch fünfzig Dollar drauflege? Aus meiner eigenen Tasche? Ich brauche dich, Hunter.«
»Okay, Mandy. Geht klar.« Ich sah zu Jen rüber, die geistesabwesend auf ihrem eigenen Handy herumdrückte und irgendwie ein bisschen frustriert wirkte, vielleicht weil es schon so alt war (mindestens sechs Monate). Ich traf spontan eine Entscheidung.
»Kann ich noch jemanden mitbringen?«
»Äh … klar. Je mehr wir sind, desto besser. Aber ist derjenige auch … du weißt schon?«
Jen hob plötzlich den Kopf, sah mich an und verengte die Augen. Sie hatte wohl gemerkt, dass über sie geredet wurde. Die Sonne ließ ihre Haare noch bläulicher schimmern. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ein paar dünne Strähnen purpurrot gefärbt hatte, die unter der schwarzen Haarschicht verborgen lagen und nur aufblitzten, wenn der Wind ihre Haare zauste.
»Ja. Auf jeden Fall.«
»Was für eine Probe?«
»Eine Coolnessprobe«, wiederholte ich. »Aber so nennen das bloß Mandy und ich. Offiziell heißt so eine Veranstaltung ›Fokusgruppe‹.«
»Und worauf liegt der Fokus?«
Ich nannte ihr den Namen des Klienten, der nicht mit dem Nicken quittiert wurde.
»Ich weiß schon«, seufzte ich. »Aber du kriegst dafür ein Paar Schuhe geschenkt und fünfzig Dollar.« Als ich das sagte, fragte ich mich, ob Mandy für Jen auch Geld springen lassen würde. Na ja, wenn nicht, konnte Jen meinen Fünfziger haben. Ich hatte sowieso nicht mit der Kohle gerechnet.
Aber warum wollte ich sie eigentlich dabeihaben? Normalerweise reagieren wir in meiner Branche eigentlich eher empfindlich auf potenzielle Konkurrenten. Das ist ähnlich wie in der Politik, wo auch zu viele Leute um zu wenige Posten rangeln und jeder, der den Job noch nie gemacht hat, sich einbildet, er wäre besser als alle anderen.
Jen zögerte. »Das hört sich irgendwie komisch an.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist bloß ein Job. Du wirst dafür bezahlt, dass du deine Meinung sagst.«
»Und wir schauen uns Schuhe an?«
»Wir schauen uns einen Werbespot an. Eine Minute Kino für fünfzig Dollar.«
Sie blickte in die Strömung des Flusses und beriet sich zwei Sekunden lang mit sich selbst. Ich wusste, was ihr durch den Kopf ging. Beuten die mich aus? Verkaufe ich meine Seele? Ist das nicht totaler Beschiss? Ein Trick? Wer interessiert sich überhaupt für das, was ich denke?
Alles Gedanken, die ich mir selbst schon gemacht hatte.
Sie zuckte mit den Schultern. »Hey. Fünfzig Dollar.«
Ich atmete aus und merkte erst in diesem Moment, dass ich die Luft angehalten hatte. »Genau so sehe ich das auch.«