Kapitel
VIERZEHN
Ich war nervös, als ich nach Hause kam und die Tür aufschloss.
Warum? Nun, aus diversen Gründen. Erstens: An den Kleiderbügeln, die ich in der Hand hielt, hingen Klamotten im Wert von zweitausend Dollar – eine falsche Bewegung und ich würde mir die Warenrückgabe gegen Erstattung des vollen Kaufpreises in die frisch gebleichten Haare schmieren können. Zweitens: Ich wurde vom geheimnisvollen Anti-Klienten verfolgt, der möglicherweise schon meine Adresse herausbekommen hatte. Drittens: Ich hatte eine neue Haarfarbe. Jede spiegelnde Oberfläche, an der ich auf dem Weg von Jen nach Hause vorbeigekommen war, hatte mich kurz zusammenzucken lassen. Der wasserstoffblonde Fremde, der mir entgegengeblickt hatte, schien genauso perplex über die ganze Situation wie ich.
»Hallo?«, rief ich.
Und viertens waren da natürlich meine Eltern, die ausflippen würden, wenn sie sahen, dass meine Haare kurz geschnitten und blond gefärbt waren. Nicht, dass sie etwas dagegen haben würden, vielleicht gefiel es ihnen sogar, aber sie würden viele Fragen stellen. Und wenn sie herausfanden, dass Jen – über die sie bestimmt schon verschwörerisch als meine neue Freundin tuschelten – das getan hatte …
Mir schauderte.
»Hallo?«
Keine Antwort. Keine Geräusche außer den Sirenen der unten auf der Straße vorbeifahrenden Kranken- und Streifenwagen, dem durch die Rohre rauschenden Wasser und dem leisen Summen der Klimaanlage unserer Nachbarn. Ich zog die Tür hinter mir zu und entschied, dass mir fürs Erste wahrscheinlich keine Gefahr drohte. Das Apartmenthaus, in dem wir wohnen, ist über hundert Jahre alt. Da es aus dickem Sandstein gebaut ist, bleibt es sogar im Sommer kühl und man fühlt sich zu jeder Tages- und Nachtzeit vollkommen sicher.
Abgesehen davon spielen Splatterfilme aus gutem Grund immer in Kleinstädten oder irgendwo auf dem Land und nicht in New York City. Die Wohnungen hier haben massive metallverkleidete Türen, Sicherheitsschlösser und Gitter vor den Fenstern. Man sieht sofort, wenn jemand eingebrochen ist. Nicht nötig, unter dem Bett nachzuschauen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. In zwei Stunden musste ich auf der Party sein. Jen würde früher und getrennt von mir hingehen, um unsere Anonymität zu wahren. Sie hatte mir nicht einmal gesagt, wie ihre Tarnung aussehen würde. Ich hatte den Verdacht, dass sie es selbst noch nicht wusste.
Nachdem ich den Anzug in mein Zimmer gehängt hatte, ging ich ins Bad, wo ich mich ausgiebig im Spiegel betrachtete und erstaunt feststellte, dass der wasserstoffblonde Fremde jede meiner Bewegungen nachahmte.
Ich habe bereits erwähnt, dass die meisten Innovatoren sich die Haare selbst schneiden. Das bedeutet natürlich nicht automatisch, dass sie auch jemand anderem die Haare schneiden können, aber Jen hatte gute Arbeit geleistet und meinem von der Säure nahezu weiß gebleichten Schopf einen strengen Kurzhaarschnitt verpasst. Die nach wie vor dunklen Augenbrauen standen in starkem Kontrast zu meiner hellen Haut und unterstrichen damit jede Regung meines Gesichts. Ich sah ein bisschen aus wie ein Gangster aus einem französischen Krimi aus den Neunzigern, aber definitiv wie ein selbstbewusster Gangster. Vielleicht hatte Jen recht und ich hatte mich tatsächlich die ganze Zeit über hinter meinen langen Zotteln versteckt.
Merkwürdig, dass ich jetzt, wo man zum ersten Mal mein ganzes Gesicht sah, maskiert war. Es war ein seltsam surreales Gefühl, diesen wasserstoffblonden Fremden im Spiegel zu sehen. Wenn ich mich selbst schon nicht wiedererkannte, wie sollte mich dann jemand anderes erkennen?
Eine Dusche später zog ich mich an.
Um den Smoking zurückgeben zu können und meine zweitausend Dollar auch wirklich wiederzubekommen, beschloss ich, die Preisschildchen dranzulassen. Diese Entscheidung sollte sich später noch als schmerzhafter Fehler erweisen, aber anfangs spürte ich sie überhaupt nicht. Alles passte wie angegossen und saß so perfekt, wie man es von einem gut geschnittenen, hochpreisigen Anzug erwarten durfte. Die schwarze Hose hatte eine klassische Bügelfalte, die Manschetten des strahlend weißen Smokinghemds wurden von Manschettenknöpfen aus Onyx gehalten, mit Argyle-Karo gemusterte Hosenträger strafften meine Schultern. Jedes Teil fühlte sich an wie eine zweite Haut, verwandelte mich noch ein Stückchen mehr in den Nicht-Hunter und verstärkte nicht nur meine Zuversicht, dass ich heute Abend nicht wiederzuerkennen sein würde, sondern auch das großartige Gefühl, dass ich verdammt gut aussah.
Ein Gefühl, das anhielt, bis ich zu der Fliege griff, die sofort dafür sorgte, dass mein Selbstbewusstsein zu Staub zerbröselte, denn natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie man so ein Ding band.
Das an den Enden wie stilisierte Fischschwanzflossen aussehende Band aus schwarz glänzendem Stoff hing schlaff und leblos um meinen Hals und bot keinerlei Anhaltspunkte dafür, wie man es in eine Fliege verwandelte. Ich wusste theoretisch zwar viel über Halsbekleidung für Männer, hatte aber kaum persönliche Erfahrungen. Querbinder oder Langbinder – wie die Fliege beziehungsweise Krawatte in Fachkreisen genannt werden – waren nun mal kein integraler Bestandteil der Welt der Jeans, T-Shirts, Skater-Labels und neuesten Sneakers, in der ich mich bewegte. Kurz: In Sachen Smokingfliege war ich so unbeleckt, als wäre ich gerade eben erst aus Minnesota hergezogen.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass mir exakt dreißig Minuten Zeit blieben, um das Geheimnis dieser im Laufe von fünfhundert Jahren immer wieder verfeinerten Halsbekleidungstechnik zu ergründen. Nicht zum ersten Mal verfluchte ich die Kleine Eiszeit …
Wenn ihr das nächste Mal gezwungen werdet, euch ein Stück Stoff quer oder lang um den Hals zu binden, gebt ruhig der Sonne die Schuld daran.
Wie jeder Bürohengst oder Zögling einer Privatschule weiß, sind Krawatten im Grunde nichts anderes als eine Uniformierung – die meisten Menschen tragen sie, weil sie es müssen, nicht weil sie es wollen. Daher wird es niemanden überraschen, dass die früheste bekannte Halsbekleidung an Männern gefunden wurde, die keine andere Wahl hatten – nämlich an den Terrakottastatuen chinesischer Soldaten aus dem Jahre 210 v. Chr. Etwa vier Jahrhunderte später begannen auch die römischen Soldaten Krawatten zu tragen (offenbar waren Nudeln nicht das Einzige, das die Italiener von den Chinesen übernommen haben – Produktpiraterie mal umgekehrt). Trotzdem blieb es lange dabei, dass nur diejenigen Männer Krawatten trugen, die mehr oder weniger dazu gezwungen wurden – bis es dann vor ungefähr fünfhundert Jahren auf einmal ungemütlich kalt wurde auf unserem Planeten.
Die Sonne fuhr ihre Aktivität herunter und begann, immer weniger Hitze abzustrahlen. Langsam, aber sicher senkte sich die Kleine Eiszeit über die Welt und das hatte ernsthafte Konsequenzen. In Frankreich verschluckten Gletscher ganze Städte, in Holland wurde Schlittschuhlaufen zum Volkssport und sämtliche Wikinger in Grönland erfroren. Ja, richtig gelesen. Die Wikinger haben die Winter damals nicht überlebt. So kalt war es.
Die Folge? Alle Leute fingen plötzlich an, Schals zu tragen – und zwar drinnen wie draußen.
Natürlich war es unvermeidlich, dass irgendein Innovator den Kleine-Eiszeit-Kleidungscode irgendwann langweilig fand und ein bisschen herumzuexperimentieren begann. Er fing an, einen Schal zu tragen, der schmaler war als die der anderen, und dachte sich verschiedene Arten aus, ihn zu binden. Der Trend setzte sich durch, weil die Leute wahrscheinlich froh waren, während der langen Winter etwas zu tun zu haben. Unterschiedlich gebundene Schals wurden zum letzten Schrei. Die Krawatte, die Halsbinde und der Steinkerque wurden erfunden und zu komplizierten Knoten geschlungen. Das »Neckclothitania«, eine satirische Abhandlung über die Krawattenmode aus dem 19. Jahrhundert, listet sage und schreibe zweiundsiebzig verschiedene Arten auf, eine Krawatte zu binden.
Zu meinem und unser aller Glück nahm die Sonne irgendwann ihren Dienst wieder auf und alles wurde wieder wärmer und einfacher.
Heutzutage gibt es immer mehr glückliche Männer, die nur noch zu Hochzeiten, Beerdigungen und Bewerbungsgesprächen Krawatten umbinden müssen. Der Windsor, der halbe Windsor und der Four-in-Hand zählen zu den letzten überlebenden Knoten, und im Grunde existieren nur noch drei Formen der Halsbekleidung: die normale Krawatte, die schmalen string ties der Cowboys und die Fliege. Da die globale Erderwärmung immer weiter zunimmt, besteht Hoffnung, dass es nicht mehr lange dauert, bis auch sie aussterben.
Bis dieser ersehnte Tag herandämmert, gibt es zum Glück das Internet, wo der moderne Mensch auf alle drängenden Probleme des Lebens eine Antwort erhält. Theoretisch jedenfalls – sprich, wenn ihm die Technik keinen Strich durch die Rechnung macht. Aber nachdem mich mein Browser mit der Nachricht »Zurzeit besteht keine Verbindung zum Internet oder einigen Netzwerkressourcen« in eine kurzfristige Krise gestürzt hatte, fiel mir ein, dass es ja auch noch die gute alte Auskunftsstelle der New York Public Library gibt, wo man anrufen kann und auf alle Fragen zuverlässig und schnell eine Antwort bekommt.

»Hallo? Ich bräuchte eine Erklärung, wie man eine Fliege bindet. «
»Verstehe. Wir haben eine ganze Reihe von Büchern über Stil und Etikette hier. Da steht so etwas normalerweise drin.«
»Um ehrlich zu sein, habe ich keine Zeit, mir ein Buch auszuleihen. Ich müsste es jetzt sofort wissen.« Ich warf einen Blick auf die Uhr in der Küche. »Ich muss in sechsundzwanzig Minuten los.«
»Äh, einen Moment bitte.«
Während die Bibliothekarin loszog, um die »Neckclothitania« oder – wie ich hoffte – eine Ausgabe von »Fliegenbinden für Dummies« zu holen, ging ich schon mal ins Badezimmer und stellte mich vor dem Spiegel in Positur.
Ich klemmte das Telefon zwischen Kinn und Schulter und wappnete mich innerlich für den bevorstehenden Kampf.
Mein Tipp: Versucht bloß nicht, das Folgende zu Hause nachzumachen.
»Okay, Sir. Post oder Vanderbilt?«
»Entschuldigung?«
»Was ist Ihnen lieber – Emily Posts Buch über Stil und Etikette oder das von Amy Vanderbilt?«
»Dann nehme ich das von Emily Post.«
»Gut. Im Grunde genommen ist es dasselbe, als würden Sie ihren Schuh binden.«
»Aber um den Hals.«
»Genau. Legen Sie sich die Fliege als Erstes so um den Hals, dass beide Enden locker herabhängen, das eine Ende sollte dabei ein paar Zentimeter länger sein als das andere. Ich werde es das ›lange Ende‹ nennen.«
»Okay.«
Bis dahin kam ich gut klar.
»Kreuzen Sie jetzt das lange Ende über das kurze und führen Sie es dahinter, ziehen Sie den Knoten dann so fest, dass er locker um Ihren Hals liegt. Es ist einfacher, wenn Sie sich vorstellen, Sie würden einen Schuh binden.«
»Äh …« Die geniale Komplexität von Jens Schnürsenkeln tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ich verdrängte jeden Gedanken an Schuhe aus meinem Kopf. »Okay. Hab ich.«
»Falten Sie das längere Ende nach oben links. Achten Sie dabei darauf, dass das nicht gefaltete Ende vorne über dem Knoten hängt. So weit alles klar?«
»Ähem, ja.«
»Jetzt ziehen Sie die Schleifenenden nach vorn und drücken sie vorsichtig zusammen. Formen Sie hinten eine Öffnung und drehen Sie sie nach rechts, sodass die Öffnung nach vorne zeigt. Konnten Sie mir folgen?«
»Nnn… ja.«
»Mit dem linken Daumen beziehungsweise Zeigefinger drücken Sie den mittleren Teil des losen Endes von links nach rechts durch die Schlaufe, dabei müssen Sie darauf achten, dass das andere Ende nicht wieder herausrutscht. Halten Sie die Rückschleife mit der rechten Hand fest.«
»…?«
»Haben Sie den mittleren Teil durch die Schlaufe gezogen?«, hakte sie nach.
»Sekunde, wie viele Schlaufen müsste ich jetzt haben?«
Sie schwieg einen Moment, in dem sie wahrscheinlich die Schlaufen zählte. »Zwei, plus die, die um Ihren Hals liegt. Jetzt können Sie den Knoten enger machen, um der Schleife Halt zu geben, indem Sie an beiden Enden ziehen.«
»Ich glaube, ich …«
»Emily Post schreibt, dass eine selbst gebundene Fliege der persönlichen Individualität Ausdruck verleiht und daher keinesfalls zu perfekt gebunden sein sollte.«
»Oh. Ich wünschte, Sie hätten mir das vorher gesagt. Es könnte sein, dass wir noch mal ganz von vorne anfangen müssen. «
»Nun, vielleicht ist es auch nicht so schlimm, wenn sie perfekt aussieht.«
»Ja, aber nicht diese Art von perfekt, glauben Sie mir.«
»Also gut.« Papier raschelte. »Legen Sie sich die Fliege als Erstes so um den Hals, dass beide Enden locker herabhängen, das eine Ende sollte dabei länger sein als das andere. Ich werde es das ›lange Ende‹ nennen …«
Und dann folgten die siebzehn anstrengendsten Minuten meines Lebens, die ich von nun an nur noch die »Fliegenhölle« nennen werde. Trotzdem war das Ding irgendwann gebunden – allerdings, wie ich vermute, weniger aufgrund meiner Anstrengungen als aus eigenem Willen – und wies darüber hinaus einen Grad an Unperfektion auf, der ganz dezent meine Individualität unterstrich.
Im Grunde war ich fertig und hätte gehen können, aber plötzlich wurde mir in meinem Post-Fliegebinde-Erschöpfungszustand klar, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Ob der Anti-Klient meine Verkleidung heute Abend durchschauen und mich verschleppen würde oder nicht – mit einem derart niedrigen Blutzuckerspiegel würde ich nicht weit kommen.
Als ich in die Küche ging und gerade den Kühlschrank öffnen wollte, erstarrte meine Hand mitten in der Bewegung. Auf dem Kühlschrank stand der Anrufbeantworter meiner Eltern und blinkte rot. Ich verfluchte mich dafür, nicht früher auf die Idee gekommen zu sein, ihn abzuhören. Normalerweise rief mich niemand auf dem Festnetz an, aber nachdem ich mein Handy verloren hatte, konnte es gut sein, dass jemand versucht hatte, mich über die Nummer meiner Eltern zu erreichen.
Als ich auf den Knopf drückte, verkündete mir die Stimme meiner Mutter in gut gelauntem Plauderton folgende Nachricht:
»Hoffentlich hörst du den AB ab, Hunter. Ich habe gute Neuigkeiten. Gerade hat ein Mann angerufen und mir gesagt, dass er dein Handy gefunden hat. Ich wusste gar nicht, dass du es verloren hattest. Er war wirklich nett und meinte, er sei heute Nachmittag sowieso in Midtown und könnte es mir im Labor vorbeibringen. Bis heute Abend dann.«
Piep.
Mit angstschweißnassen Händen griff ich zum Telefon und wählte die Labornummer meiner Mutter, eine der wenigen, die ich auswendig wusste. Ihr Assistent meldete sich.
»Sie ist schon gegangen.«
»Ist heute ein Mann da gewesen – ein fremder Mann –, der ihr etwas vorbeigebracht hat?«
Er lachte. »Keine Panik, Hunter. Er war da. Ein echt netter Typ. Deine Mutter hat dein Handy und bringt es dir gleich. Ihr und eure Handys – ohne könnt ihr wohl nicht leben, was?«
»Wann war er da?«
»Gleich nach der Mittagspause.«
»Und ihr geht es gut? Sie ist doch nicht mit ihm irgendwohin gegangen, oder?«
»Natürlich geht es ihr gut. Was ist denn das für eine Frage?«
»Nicht so wichtig. Ich dachte nur …«
Er hatte ihr das Handy im Labor vorbeigebracht, weil er wissen wollte, wie sie aussah. Dann hatte er vor dem Gebäude auf sie gewartet, bis sie herauskam und sich auf den Nachhauseweg machte. Er war ihr gefolgt, hatte sie unterwegs angesprochen, in ein Gespräch verwickelt und dann irgendwo hinverschleppt. Meine Mutter fuhr immer mit der U-Bahn nach Hause. Es gab unzählige Gelegenheiten, sie abzufangen. Vielleicht hatte er auch einen Handtaschendiebstahl fingiert, um an noch mehr Informationen heranzukommen.
»Ach, vergessen Sie’s. Danke.« Ich legte auf.
Jetzt hatten sie womöglich nicht nur Mandy, sondern auch meine Mutter in ihrer Gewalt. Und selbst wenn sie ihr nur die Handtasche geklaut hatten, wussten sie inzwischen, wo ich wohnte, und hatten womöglich auch …
Ich hörte einen Schlüssel im Schloss.