Kapitel 29

Noch zweimal wurde es danach wieder Frühling und an einem Morgen voll weißer Wölkchen und harmlos plätschernder Wellen kam das Schiff zurück. In der Frühe sah ich es von der Bergkuppe aus, weit draußen am Horizont. Als die Sonne über mir stand, lag es in der Korallenbucht vor Anker. Ich beobachtete es von der Bergkuppe aus, bis die Sonne unterging, während die Männer am Strand ihre Zelte aufschlugen und ein Feuer anzündeten. Dann kehrte ich in mein Haus zurück. Ich lag die ganze Nacht wach und dachte an den Mann, der damals nach mir gerufen hatte. Seit Langem schon dachte ich an seine rufende Stimme, seit dem stürmischen Abend, als das Schiff davongesegelt war. Zu jeder Jahreszeit war ich täglich auf den hohen Felsen geklettert und hatte aufs Meer hinausgeschaut, jeden Morgen und jeden Abend. Als es draußen hell wurde, roch ich den Rauch ihres Feuers. Ich ging in die Schlucht und badete im Bach und zog meinen Rock aus Kormoranfedern und meinen Otterpelz an. Ich hängte mir die Kette aus schwarzen Steinen um den Hals und steckte mir die schwarzen Ohrringe an. Mit blauem Lehm malte ich das Zeichen meines Stammes auf meine Nase. Darauf tat ich etwas, worüber ich selbst lachen musste. Ich tat, was meine ältere Schwester Ulape getan hatte, als sie die Insel der blauen Delphine verließ. Unter das Zeichen unseres Stammes malte ich das Zeichen, das bedeutete, dass ich noch unverheiratet war. Ich war kein junges Mädchen mehr, aber ich tat es trotzdem, mit blauem Lehm und mit weißem Lehm für die Tupfen. Dann ging ich ins Haus zurück und machte ein Feuer und kochte für Rontuaru und mich. Ich war nicht hungrig und er verschlang mein Essen und das seine dazu. “Wir gehen fort”, sagte ich zu ihm, “wir gehen fort von unserer Insel. ” Aber Rontuaru legte bloß den Kopf von einer Seite auf die andere, wie sein Vater es oft getan hatte, und als ich nichts mehr sagte, trottete er vors Haus an die Sonne, legte sich nieder und schlief ein. Nun, da die weißen Männer zurückgekommen waren, konnte ich mir nicht vorstellen, wie es weitergehen sollte, was ich tun würde, wenn ich übers Meer fuhr, oder was für Menschen die weißen Männer waren und was sie dort in ihrem Land im Osten taten, oder wie es sein würde, wenn ich meine Leute, die vor so vielen Sommern fortgegangen waren, wiedersah. Ich konnte mir kein Bild mehr von ihnen machen, wenn ich zurückschaute und an alle die Sommer und Winter und Frühlingsmonde dachte, die seither vergangen waren. Ich konnte sie im Geiste nicht mehr voneinander unterscheiden. Sie waren alle nur noch das eine, ein würgendes Gefühl in meiner Brust, nichts weiter. Der Morgen strahlte von Sonne. Der Wind roch nach Meer und nach den Wesen, die im Meer leben. Lange ehe die Männer das Haus auf dem Berg entdeckten, sah ich sie weit drüben auf den Dünen im Süden. Es waren drei, zwei große Männer und einer von kurzer Gestalt, der ein langes graues Kleid trug. Sie kamen von den Dünen her über die Klippe, und als sie den Rauch des Feuers, das ich brennen ließ, erblickten, folgten sie ihm bis zu meinem Haus. Ich kroch durch den Tunnel unter dem Zaun und blieb vor ihnen stehen. Der Mann im grauen Kleid trug eine Perlenschnur um den Hals und am Ende der ‘Schnur hing eine Schnitzerei aus blank geriebenem Holz. Er hob die Hand und machte ein Zeichen über mich in der Form des geschnitzten Holzstückes, das er trug. Dann sprach einer der beiden Männer, die hinter ihm standen, ein paar Worte zu mir. Die Worte machten das seltsamste Geräusch, das ich je gehört hatte. Ich hatte große Lust zu lachen, aber ich biss mir auf die Zunge. Ich schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Er sprach wieder, sehr langsam diesmal, und obgleich seine Worte immer noch seltsam klangen und ohne Sinn für mich, fand ich sie jetzt schön. Sie waren die Laute einer menschlichen Stimme. Auf der. ganzen Welt gibt es keinen Laut wie diesen. Der Mann deutete mit der Hand auf die Bucht und malte in der Luft ein Bild, das wohl ein Schiff darstellen sollte. Ich nickte dazu und deutete nun mit meiner Hand auf die drei Körbe, die ich neben dem Feuer bereitgestellt hatte, wobei ich tat, als nähme ich sie mit auf das Schiff, zusammen mit dem Käfig, in welchem wieder zwei junge Vögel hausten. Es wurde noch viel gedeutet, ehe wir uns auf den Weg machten. Dann und wann redeten die beiden Männer miteinander. Sie fanden Gefallen an meiner Halskette, am Otterpelz und am Rock aus Kormoranfedern, die in der Sonne glänzten. Als wir jedoch in die Bucht kamen, wo sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten, war das Erste, was geschah, dass der Mann, der am meisten sprach, die anderen Männer anwies, mir ein Kleid zu nähen. Ich wusste, dass es so war, weil einer der Männer vor mich hintrat und eine Schnur an mich hielt, erst von meinem Hals bis zu meinen Füßen, dann von einer Schulter zur anderen. Das Kleid war blau. Der Mann, der es nähte, schnitt es aus zwei Hosen, wie die weißen Männer sie trugen. Er schnitt sie in Stücke, dann setzte er sich auf einen Stein und nähte sie mit weißen Schnüren wieder zusammen. Er hatte eine lange Nase; sie sah aus wie die Nadel in seiner Hand. Den ganzen Nachmittag saß er auf dem Stein und die Nadel lief hin und her, ein und aus und glitzerte in der Sonne. Von Zeit zu Zeit hielt er das Kleid empor und nickte mit dem Kopf, als freue er sich über sein Werk. Ich nickte, als freute auch ich mich darüber, aber das stimmte nicht. Ich wollte mein Kormorankleid und meinen Otterpelz tragen, denn sie waren viel schöner als das Ding, das er nähte. Das Kleid reichte mir vom Hals bis zu den Füßen und ich mochte es nicht. Ich mochte weder seine Farbe noch die Art, wie es kratzte. Außerdem war es heiß. Aber ich lächelte und legte mein Kormorankleid in einen der Körbe. Ich würde es später wieder anziehen, wenn ich übers Meer gefahren war und die Männer sich nicht in der Nähe befanden. Das Schiff blieb neun Tage in der Korallenbucht. Die Männer waren der Otter wegen hergekommen, doch die Otter waren verschwunden. Einige von denen, die sich an die Aleuter erinnerten, mussten trotz allem übrig geblieben sein, denn in dieser ganzen Zeit ließ sich die Herde nicht blicken. Ich wusste, wohin sie sich geflüchtet hatte. Sie war zum Hohen Felsen geschwommen, aber als mir die Männer die Waffen zeigten, mit denen sie die Otter töten wollten, schüttelte ich den Kopf und tat, als hätte ich nicht verstanden. Sie deuteten auf meinen Umhang aus Otterfell, doch ich schüttelte weiter den Kopf. Einmal fragte ich sie nach dem Schiff, das vor vielen Jahren meine Leute weggebracht hatte. Ich zeichnete ein Schiff in der Luft und deutete nach Osten, aber sie verstanden nicht, was ich meinte. Erst viel später, als ich in die Santa-Barbara-Mission kam und Pater Gonzales kennenlernte, erfuhr ich von ihm, dass das Schiff in einem großen Sturm gesunken war, bald nachdem es sein Heimatland erreicht hatte, und dass es auf dem ganzen Ozean in jener Gegend kein anderes dieser Art gab. Aus diesem Grunde waren die weißen Männer nicht zurückgekommen, um mich zu holen. Wir segelten am zehnten Tag. Der Morgen war klar und windstill. Wir fuhren geradewegs der Sonne entgegen. Lange stand ich auf dem Deck und schaute zurück zur Insel der blauen Delfine. Das Letzte, was ich davon sah, war die Bergkuppe. Ich dachte an Rontu, der dort unter den farbigen Steinen lag, und an Won-a-nee, wo immer sie sein mochte, und an die kleine rote Füchsin, die nun vergeblich an meinem Zaun scharren würde, und an mein Kanu in seinem Höhlenversteck und an alle vergangenen glücklichen Tage. Delfine tauchten aus dem Meer und schwammen dem Schiff voran. Sie schwammen viele Meilen weit durch das glitzernde Wasser, ihre fröhlichen schäumenden Muster webend. Die kleinen Vögel zwitscherten in ihrem Käfig und Rontuaru saß neben mir.

Nachwort des Verfassers

Die Insel, in diesem Buch “Insel der blauen Delfine” genannt, wurde um das Jahr z000 v. Chr. von Indianern entdeckt, die sich als Erste dort ansiedelten. Den Weißen blieb sie bis 1602 unbekannt. In jenem Jahr brach der spanische Forscher Sebastian Vizcaino aus Mexiko auf, um einen Hafen zu suchen, in dem die Schatzsegler von den Philippinen bei stürmischem Wetter eine Zuflucht finden konnten. Auf seiner Fahrt entlang der kalifornischen Küste sichtete er die Insel, schickte ein kleines Boot an Land und weihte seine Entdeckung dem Schutzpatron der Seeleute, Reisenden und Händler, indem er ihr den Namen La Isla de San Nicolas gab. Im Laufe der Jahrhunderte ging Kalifornien von spanischem in mexikanischen Besitz über, dann kamen die Amerikaner, doch nur selten verirrte sich ein weißer Jäger auf die Insel. Ihre indianischen Bewohner blieben von der Welt abgeschnitten. Das Robinson-Crusoe-Mädchen, dessen Geschichte ich nachzuerzählen versucht habe, lebte tatsächlich von 1835 bis 1853 allein auf dieser Insel und hat als “die Verschollene von San Nicolas” historische Berühmtheit erlangt. Über ihr Leben ist wenig Bestimmtes zu erfahren. Wir wissen nach den Berichten von Kapitän Hubbard, dessen Segelschoner die Indianer von Ghalasat wegbrachte, dass das Mädchen ins Meer sprang, obgleich man es daran hindern wollte. Dem Nachlass von Kapitän Nidever entnehmen wir ferner, dass er die Indianerin achtzehn Jahre später auf der Insel fand. Sie lebte allein mit einem Hund in einer roh gezimmerten Hütte und sie trug einen Rock aus Kormoranfedern. Pater Gonzales von der Santa-Barbara-Mission, der sich nach ihrer Rettung mit ihr befreundete, brachte allmählich aus ihr heraus, dass ihr Bruder von den wilden Hunden umgebracht worden war. Viel mehr erfuhr er nicht, denn sie konnte sich nur durch Zeichen verständlich machen; weder er noch die vielen Indianer in der Missionsstation verstanden ihre seltsame Sprache. Die Indianer von Ghalasat waren längst nicht mehr am Leben. “Die Verschollene von San Nicolas” liegt auf einem Hügel in der Nähe der Santa-Barbara-Mission begraben. Ihren Rock aus grünen Kormoranfedern schickte man nach Rom. San Nicolas ist die äußerste der acht Kanalinseln, rund fünfundsiebzig Meilen südwestlich von Los Angeles. Jahrzehntelang hatten die Geschichtsforscher vermutet, sie sei um 1400 n. Chr. besiedelt worden; die jüngsten Ausgrabungen auf der Insel haben jedoch den Beweis erbracht, dass lange vor der christlichen Ära indianische Jäger aus dem Norden sich hier niederließen. Ihre Darstellungen von Geschöpfen des Landes, des Meeres und der Luft, den Bildern ähnlich, die an der Küste von Alaska entdeckt wurden und die eine ungewöhnliche Begabung verraten, sind im Southwest-Museum zu Los Angeles ausgestellt. Die Zukunft der San-Nicolas-Insel ist ungewiss. Heute dient sie der amerikanischen Flotte als Geheimbasis, aber die Wissenschaftler rechnen damit, dass sie eines Tages dem Druck der endlos anstürmenden Wellen und Winde nachgeben und im Meer versinken wird. Ich danke Maud und Delos Lovelace, Bernice Eastman Johnson vom Southwest-Museum und Fletcher Carr, vormals Kurator am Museum of Man, San Diego, mit deren freundschaftlicher Hilfe dieses Buch zustande kam.