Kapitel 22

Die Höhle betrat ich nicht. Auch die Kette auf dem Stein rührte ich nicht an. Ich verbrachte die Nacht auf dem Felsen, wo ich meine Körbe versteckt hatte. Am frühen Morgen kehrte ich in die Schlucht zurück. Dort verbarg ich mich auf einem Felsvorsprung, der mit Büschen bestanden war. Er befand sich dicht bei der Quelle und von seinem Rücken aus konnte ich den Eingang zur Höhle beobachten. Die Sonne ging auf. Ihre Strahlen erhellten die Schlucht. Ich sah die Halskette auf dem Stein liegen. Die schwarzen Steine sahen jetzt noch schwärzer aus als in der Nacht. Es waren viele. Ich wäre gern hinuntergegangen, um sie zu zählen und um zu sehen, ob die Kette lang genug für zwei Schlingen war, aber ich widerstand der Versuchung und rührte mich nicht vom Fleck. Den ganzen Morgen lag ich wartend auf dem Felsen. Als Rontu bellte, stand die Sonne schon über uns. Ich hörte Schritte unter mir und dann kam das Mädchen singend aus dem Gebüsch hervor. Es näherte sich der Höhle, aber als es die Halskette auf dem Stein liegen sah, verstummte es. Es hob die Kette auf, legte sie wieder hin und spähte durch das Loch in die Höhle. Meine beiden Körbe standen immer noch dort. Dann ging es zur Quelle, trank und bewegte sich auf das Gebüsch zu, aus dem es gekommen war. Ich rutschte den Abhang hinunter. Ich sprang auf die Füße. “Tutok! “, rief ich. “Tutok!” Das Mädchen musste hinter den Büschen gewartet haben, denn fast im gleichen Augenblick kam es wieder zum Vorschein. Ich lief auf den Stein zu, legte mir die Kette um den Hals und drehte mich um, damit es mich bewundere. Die Kette war so lang, dass ich sie mir nicht zweimal, sondern dreimal um den Hals schlingen konnte. Die Kugeln waren länglich und oval statt rund wie unsere Glasperlen; um sie zu formen, musste jemand sehr geschickt gewesen sein und lange daran gearbeitet haben. “Wintscha”, sagte das Mädchen. “Wintscha”, antwortete ich und das Wort klang seltsam in meinem Munde. Dann sagte ich das Wort, das in unserer Sprache “hübsch” bedeutet. “Win-tai”, sprach mir das Mädchen nach und lachte, weil es das Wort merkwürdig fand. Darauf berührte das Mädchen die Halskette und sagte mir sein Wort dafür und ich sagte ihm das Wort in unserer Sprache. Wir zeigten auch auf andere Dinge - auf die Quelle, die Höhle, auf eine fliegende Möwe, auf die Sonne und den Himmel und den schlafenden Rontu - und tauschten unsere Wörter dafür aus und lachten, weil sie so verschieden klangen. Wir saßen auf dem Stein und spielten dieses Spiel, bis die Sonne im Westen stand. Dann stand Tutok auf und hob die Hand wie zum Abschied. “Mah-nay”, sagte sie und wartete darauf, dass ich ihr meinen Namen nannte. “Won-a-pa-lei”, antwortete ich, denn das bedeutet, wie ich schon sagte, “das Mädchen mit dem langen schwarzen Haar”. Meinen geheimen Namen verriet ich ihr nicht. “Mah-nay, Won-a-pa-lei”, sagte Tutok. “Pah-say-no, Tutok”, erwiderte ich. Ich schaute ihr nach, als sie sich durch das Gestrüpp entfernte. Lange stand ich vor der Höhle und lauschte ihren Schritten nach, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Dann kehrte ich zu meinem Haus auf dem Felsen zurück und trug alle meine Körbe wieder in die Höhle. Tutok kam auch am nächsten Tag. Wir saßen auf dem Stein an der warmen Sonne, tauschten Wörter aus und lachten. Die Sonne wanderte schnell über den Himmel. Bald kam der Augenblick, da sie ins Lager zurückkehren musste, doch am nächsten Tag kam sie wieder. Und da geschah es, dass ich ihr beim Abschied meinen geheimen Namen verriet. “Karana”, sagte ich, mit dem Finger auf mich deutend. Tutok wiederholte das Wort, verstand aber nicht, was damit gemeint war. “Won-a-pa-lei?”, fügte sie in fragendem Ton hinzu. Ich schüttelte den Kopf. “Karana”, sagte ich wieder mit der gleichen Gebärde wie das erste Mal. Ihre schwarzen Augen öffneten sich weit. Langsam begann sie zu lächeln. “Pah-say-no, Karma”, sagte sie. In der Nacht darauf begann ich an einem Geschenk für Tutok zu arbeiten. Damit wollte ich ihr danken für die Halskette, die sie mir geschenkt hatte. Zuerst hatte ich an ein Paar Ohrringe aus Fischbein gedacht, doch dann war mir eingefallen, dass ihre Ohrläppchen nicht durchstochen waren und dass ich einen Korb voll Muschelschalen besaß, die ich schon früher in dünne Scheiben geschnitten hatte. Aus diesen Abaloneschalen würde ich einen Kranz für Tutok anfertigen. Mit Dornen und feinem Sand bohrte ich in jede Scheibe zwei Löcher. Dazwischen steckte ich je zehn Olivellamuscheln, die nicht größer sind als die Spitze meines kleinen Fingers, und zum Schluss reihte ich alles an einer Robbensehne auf. nf Nächte lang arbeitete ich an dem Kranz und am fünften Tag, als sie mich wieder besuchte, gab ich ihr mein Geschenk. Ich setzte ihr den Kranz aufs Haar und band ihn hinten zusammen. “Wintscha”, sagte sie und fiel mir um den Hals. Sie war so glücklich, dass ich vergaß, wie sehr mich meine Finger vom Löcherbohren schmerzten. Noch manches Mal kam Tutok zur Höhle, doch eines Morgens kam sie nicht. Ich wartete den ganzen Tag auf sie. Am Abend verließ ich die Höhle und kletterte auf den Felsvorsprung, von wo aus ich die Schlucht überblicken konnte. Ich fürchtete, die Männer hätten erfahren, dass ich hier wohnte, und würden zur Höhle kommen, um mich fortzuschleppen. Ich blieb die ganze Nacht auf dem Felsen, trotz des ersten kalten Winterwindes. Tutok kam auch am folgenden Tag nicht. Da erinnerte ich mich, dass es für die Jäger an der Zeit war, nach Hause zu fahren. Vielleicht hatten sie die Insel schon verlassen. Eilends lief ich zur Bergkuppe, kletterte auf den Felsblock und spähte über dessen Rand in die Korallenbucht hinunter. Mein Herz klopfte laut. Das Aleuterschiff lag immer noch in der Bucht vor Anker, doch auf dem Deck arbeiteten Männer und auf dem Wasser flitzten Kanus hin und her. Ein heftiger Wind wehte auf der Insel. Da nur noch wenige Otterfellbündel am Strand lagen, nahm ich an, dass das Schiff im Morgengrauen die Anker lichten. würde. Es war dunkel geworden, als ich in die Schlucht zurückkehrte. Da der Wind immer kälter wurde und da ich mich vor den Aleutern nicht mehr zu fürchten brauchte, zündete ich in der Höhle ein Feuer an und kochte mir eine warme Mahlzeit aus Muscheln und Wurzeln. Ich kochte so viel, dass es für Rontu und mich und Tutok gereicht hätte. Ich wusste, Tutok würde nicht kommen, dennoch stellte ich ihr Essen neben dem Feuer bereit und wartete. Einmal bellte Rontu kurz auf und mir war, als hörte ich Schritte. Ich ging zur Öffnung und horchte. Wolken bedeckten den kalten Himmel im Norden. Der Wind wurde lauter; er dröhnte in der Schlucht. Ich rührte mein Essen nicht an. Nachdem ich lange umsonst gewartet hatte, versperrte ich den Eingang mit Steinen. Als es dämmerte, ging ich zur Bergkuppe. Der Wind hatte sich gelegt. Vom Meer her wallten graue Nebelschwaden auf die Insel zu. Ich lag auf dem Stein und versuchte, durch den Nebel einen Blick auf die Korallenbucht zu erhaschen. Endlich ging die Sonne auf. Der Nebel begann sich zu lichten. Ich schaute in die Bucht hinab. Der kleine Hafen lag verlassen da. Das Aleuterschiff mit dem roten Schnabel und den roten Segeln war verschwunden. Mein erstes Gefühl war Freude, weil ich die Höhle endlich verlassen und in mein Haus auf der Anhöhe zurückkehren konnte. Ich stand auf dem hohen Felsen und blickte auf den verlassenen Hafen und den leeren Strand hinunter und dann dachte ich an Tutok. Ich dachte an die vielen Tage, da wir zusammen in der Sonne gesessen hatten. Ich hörte ihre Stimme und sah das Blinzeln ihrer schwarzen Augen, wenn sie lachte. Drüben am Klippenrand bellte Rontu die krächzenden Möwen an. Unter mir im blauen Wasser schnatterten die Pelikane und von ferne konnte ich das Brüllen eines Elefantenbullen hören. Und doch, seit ich an Tutok dachte, schien es auf der Insel plötzlich still geworden zu sein.