Kapitel 25

Die Aleuter kamen nie wieder auf die Insel der blauen Delfine, doch jeden Sommer war ich vor ihnen auf der Hut und jeden Frühling sammelte ich Muscheln, die ich trocknen ließ und dann in der Höhle, wo ich mein Kanu verbarg, einlagerte. Zwei Winter nach ihrem letzten Besuch fertigte ich eine Anzahl neuer Waffen an - einen Speer, . einen Bogen und einen Köcher voll Pfeile. Diese brachte ich ebenfalls in der Höhle unter, denn ich wollte gerüstet sein, wenn die Jäger wiederkamen. Ich wollte bereit sein, in einen anderen Teil der Insel überzusiedeln, von Höhle zu Höhle zu ziehen oder auch im Kanu zu leben, wenn es sein musste. Viele Sommer lang, nachdem die Aleuter fortgegangen waren, hatte die Otterherde die Korallenbucht gemieden. Die alten Otter, welche die Speere der Aleuter überlebt und den Sommer als gefährliche Zeit zu betrachten gelernt hatten, führten die Herde an einen anderen Platz. Sie zogen weit hinaus auf die Salzkrautbänke beim Hohen Felsen, wo sie blieben, bis die ersten Winterstürme kamen. Rontu und ich fuhren oft zum Hohen Felsen und verbrachten dort mehrere Tage mit Won-a-nee und den anderen Ottern, die ich inzwischen kennengelernt hatte. Wir fingen von früh bis spät Fische für sie. Ein Sommer kam, in dem die Otter die Bucht nicht verließen - es war der Sommer, in dem Rontu starb , und ich wusste, dass nun von den Ottern, die sich an die Jäger erinnerten, keiner mehr am Leben war. Auch ich dachte kaum mehr an die Aleuter, so wenig wie an die weißen Männer, die gesagt hatten, sie würden zurückkommen, und die nicht gekommen waren. Bis zu jenem Sommer hatte ich stets genau gewusst, wie viele Monde verstrichen waren, seit die weißen Männer meinen Bruder und mich auf der Insel zurückgelassen hatten. Für jeden Mond, der kam und ging, schnitt ich ein Zeichen in den Türpfosten meines Hauses. Die Zeichen bedeckten den Pfosten vom Dach bis zum Boden. Nach jenem Sommer aber gab ich das Rechnen auf. Das Wechseln der Monde ließ mich gleichgültig und ich schnitt nur noch Zeichen für die vier Jahreszeiten. Im letzten Jahr zählte ich auch diese nicht mehr. Rontu starb gegen Ende des Sommers. Seit dem Frühling war er nicht mehr mit mir aufs Riff zum Fischen gekommen, außer wenn ich ihn dazu drängte. Er liebte es, vor dem Haus in der Sonne zu liegen, und ich ließ ihn gewähren, aber ich fuhr nicht mehr so oft zum Riff. Ich erinnere mich an die Nacht, als Rontu am Zaun stand und so lange bellte, bis ich ihn hinausließ. Meist tat er dies, wenn der Mond groß war, und am Morgen kam er immer zurück; doch in jener Nacht schien kein Mond und Rontu kam nicht zurück. Ich wartete den ganzen Tag auf ihn, fast bis zur Dämmerung, und dann machte ich mich auf die Suche. Ich sah seine Spuren und folgte ihnen über die Dünen und die Hügel zur Höhle, wo er einst gelebt hatte. Dort fand ich ihn am Boden liegend, allein. Zuerst dachte ich, er sei verwundet, ich konnte jedoch keine Wunde an ihm entdecken. Er berührte meine Hand mit der Zunge, aber nur einmal, und dann war er still und atmete kaum. Da es inzwischen Nacht geworden war und ich Rontu in der Dunkelheit nicht nach Hause tragen konnte, blieb ich in der Höhle. Ich saß die ganze Nacht neben ihm und sprach mit ihm. Im Morgengrauen nahm ich ihn auf die Arme und verließ die Höhle. Er war sehr leicht, als wäre etwas an ihm schon dahingegangen. Die Sonne erhob sich im Osten, als ich zur Klippe kam. Möwen krächzten am Himmel. Bei dem Lärm spitzte er die Ohren und ich stellte ihn auf den Boden, weil ich dachte, er wolle sie anbellen, wie er es immer getan hatte. Er hob den Kopf und folgte ihnen mit den Blicken, doch er gab keinen Laut von sich. “Rontu”, sagte ich, “du hast dir immer einen Spaß daraus gemacht, die Möwen anzubellen. Ganze Morgen und Nachmittage lang hast du sie angebellt. Tu mir jetzt den Gefallen und belle sie an. ” Aber Rontu schaute ihnen nicht mehr nach. Langsam kam er zu mir her und brach vor meinen Füßen zusammen. Ich legte ihm die Hand auf die Brust. Ich konnte seinen Herzschlag spüren, doch das Herz schlug nur zweimal, stockend, laut und hohl wie die Wellen in der Bucht, und dann nicht mehr. “Rontu”, weinte ich, “oh, Rontu!” Ich begrub ihn auf der Bergkuppe. Ich grub ein Loch in einer Felsspalte. Zwei Tage lang, vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang, grub und scharrte und schaufelte ich sein Grab. Dann legte ich ihn hinein, zusammen mit einem Korb voll Sandblumen und einem Stock, dem er so gerne nachgerannt war, wenn ich ihn fortschleuderte, und darüber streute ich Kieselsteine in vielen Farben, die ich an der Küste gesammelt hatte.