Kapitel 16

Das Schiff der weißen Männer kam nicht. Es kam weder im Frühjahr noch im Sommer. Dennoch hielt ich jeden Tag nach ihm Ausschau, ob ich oben auf der Bergkuppe Beeren sammelte, in der Bucht nach Muscheln suchte oder mein Kanu ausbesserte. Ich hatte mir noch keinen festen Plan zurechtgelegt für den Fall, dass die Aleuter kämen. Ich konnte mich in der Höhle verstecken, denn sie war von dichtem Gebüsch umgeben und die Schlucht, in der sie sich befand, war für einen Fremden fast unzugänglich. Von den Vorräten, die ich in die Höhle geschafft hatte, konnte ich einen ganzen Sommer lang leben. Und was die Quelle betraf, so wussten die Aleuter anscheinend nichts von ihr; jedenfalls hatten sie sie das letzte Mal nie benutzt, da es ja in der Nähe ihres Lagers eine andere gab. Immerhin musste ich damit rechnen, dass sie zufällig darauf stoßen und danach die Höhle entdecken würden, und dann musste ich zur Flucht gerüstet sein. Mich verstecken oder fliehen - etwas anderes blieb mir nicht übrig, wenn die Aleuter kamen. Und zum Fliehen benötigte ich ein Kanu. Die Kanus, die meine Leute am Südzipfel der Insel zurückgelassen hatten, waren vom langen Liegen an der Sonne ausgetrocknet und rissig geworden. Dazu kam, dass ich sie nicht allein aus ihrem Versteck zerren und ans Wasser hinunterstoßen konnte. Sie waren zu schwer, selbst für ein Mädchen, das so kräftig war wie ich. Es blieb mir nur das Kanu, das ich nach meiner großen Fahrt an der Landzunge zurückgelassen hatte. Ich begab mich dorthin. Das Kanu lag unter dem Sand begraben. Ich arbeitete mehrere Tage lang, bis ich es endlich freigelegt hatte. Das Wetter war milde, weshalb ich nicht in mein Haus zurückkehrte, sondern auf der Landzunge bleiben konnte und nachts im Kanu schlief. Dadurch ersparte ich mir viel Zeit. Auch dieses Kanu war zu groß für mich. Ich brachte es kaum von der Stelle. Um es zu verkleinern, lockerte ich nacheinander alle Planken, zerschnitt die Sehnen, mit denen sie zusammengebunden waren, und erhitzte das Pech in den Fugen. Mit scharfen Messern aus schwarzem Stein, den man an einer bestimmten Stelle auf der Insel findet, sägte ich die Planken in der Mitte entzwei und fügte sie mit frischem Pech und Sehnen wieder zusammen. Als ich mit dieser Arbeit fertig war, sah das Kanu bei Weitern nicht mehr so hübsch aus . wie vorher, aber ich konnte es wenigstens vom Boden heben und ohne große Mühe ins Wasser schieben. Fast einen ganzen Sommer lang arbeitete ich an dem Kanu und in all dieser Zeit blieb Rontu bei mir. Bisweilen schlief er im Schatten des Bootes oder er rannte an der Landzunge auf und ab, um die Pelikane zu verjagen, die sich dort in Scharen niederlassen, weil es in der Nähe viele Fische gibt. Er rannte sich die Zunge aus dem Hals, aber einen Pelikan erwischte er nie. Er hatte sich gleich an seinen Namen gewöhnt, wie übrigens an viele andere Worte, die für ihn etwas Besonderes bedeuteten. Zalwit, zum Beispiel, hieß Pelikan und Naip hieß Fisch. Ich sprach jetzt oft mit ihm, indem ich absichtlich diese Wörter gebrauchte. Aber ich gebrauchte auch solche, die er nicht verstand. Ich sprach viel mit ihm wie mit meinesgleichen. “Rontu”, sagte ich, als ich ihn beim Diebstahl eines Fisches ertappte, den ich mir für mein Abendbrot aufheben wollte, “Rontu, wie kommt es, dass du ein so schöner Hund und gleichzeitig ein Dieb bist?” Er legte den Kopf von einer Seite auf die andere, obgleich er nur zwei Wörter verstanden hatte, und schaute mich von unten her an. Ein andermal sagte ich: “Heute ist ein schöner Tag. Ich habe das Meer noch nie so still gesehen und der Himmel ist wie eine blaue Muschel. Wie lange, glaubst du, wird das schöne Wetter andauern?” Wieder schaute Rontu mich an, als habe er alles verstanden, und dabei hatte er keine Ahnung, wovon ich sprach. Ich fühlte mich jetzt nicht mehr so einsam. Ja, seit ich Rontu bei mir hatte und mit ihm sprechen konnte, wurde mir erst so richtig bewusst, wie einsam ich vorher gewesen war. Als Nächstes unternahm ich eine Probefahrt in meinem neuen Kanu: Ich musste wissen, wie es sich im Wasser bewährte und ob die Planken dicht hielten. Ich fuhr mit Rontu um die ganze Insel herum. Es war eine lange Reise, die im Morgengrauen begann und erst spät in der Nacht endete. Die Küste der Insel besteht aus Buchten und Höhlen. Einige dieser Höhlen sind sehr breit und erstrecken sich bis tief in die Felsen hinein. Eine solche Höhle befand sich auch unter der Klippe, die mein Haus gegen die Küste abschirmte. Der Eingang war schmal, kaum breiter als das Kanu, doch nachdem wir uns hindurchgezwängt hatten, befanden wir uns in einem Raum, der sich nach den Seiten ausdehnte und größer war als der ganze Platz, den ich oben auf dem Felsen bewohnte. Die schwarzen, glatten Wände wölbten sich hoch über mir. Auch das Wasser war schwarz bis auf eine Stelle, wo Licht durch die Öffnung fiel. Dort schimmerte es golden und man konnte die Fische darin schwimmen sehen. Diese Fische sahen ganz anders aus als die Fische bei den Riffen; sie hatten größere Augen und ihre Flossen flatterten wie loser Tang an ihren Körpern. Von der Höhle aus gelangte ich in einen zweiten, kleineren Raum. Hier war es so dunkel, dass ich nichts unterscheiden konnte, und ich hörte keinen Laut außer dem sachten Plätschern des Wassers an den Felsen. Der Lärm, den die Wellen draußen am Strand verursachten, drang nicht bis hierher. Ich dachte an den Gott Tumaiyowit, der auf den Gott Mukat zornig geworden und fortgegangen war in eine andere Welt unter dieser Welt, und ich fragte mich, ob er jetzt wohl an einem Ort wie diesem hauste. Am Ende der Höhle sah ich einen lichten Punkt, nicht größer als meine Hand, und anstatt umzukehren, wie ich es eigentlich beabsichtigt hatte, paddelte ich durch einen engen, gewundenen Gang auf den Schimmer zu. Der Gang mündete in eine Höhle, die der ersten ganz ähnlich sah. An einer Seitenwand bildete der Felsen ein breites Band, das sich durch eine schmale Öffnung bis hinaus ins offene Meer erstreckte. Ich sah gleich, dass es auch bei Flut trocken blieb, da es ziemlich hoch über dem Wasserspiegel lag. Auf diesem Vorsprung konnte ich mein Kanu verstecken. Niemand würde es hier finden. Das Felsenband endete draußen bei der Klippe, auf welcher mein Haus stand. Ich brauchte mir nur einen Pfad vom Haus bis zur Höhle hinunter zu bahnen und dann würde ich das Kanu stets in Reichweite haben. “Wir haben eine wichtige Entdeckung gemacht”, sagte ich zu Rontu. Rontu hörte mir nicht zu. Er saß ganz vorn im Kanu und beobachtete einen Teufelsfisch, den er neben dem Höhleneingang gesichtet hatte. Die Teufelsfische haben kleine Köpfe mit vorspringenden Augen und vielen, vielen Armen. Seit dem frühen Morgen hatte. Rontu alles, was sich bewegte - Kormorane, Möwen, Robben, angebellt, doch jetzt gab er keinen Laut von sich, während er das schwarze Wesen im Wasser beobachtete. Ich ließ das Kanu treiben und versteckte mich hinter den Seitenwänden des. Bootes, bis es Zeit war, den Speer zu schleudern. Der Teufelsfisch schwamm dicht vor uns. Er schwamm langsam und nahe der Wasseroberfläche, indem er alle seine Arme zu gleicher Zeit bewegte. Große Teufelsfische sind gefährlich, wenn man ihnen im Meer begegnet, denn ihre Arme sind so lang wie ein Mann und legen sich sogleich um alles, was sie zu fassen kriegen. Auch haben sie ein riesiges Maul und dort, wo die Arme mit dem Kopf verwachsen sind, einen scharfen Schnabel. Dieser Teufelsfisch war der größte, den ich je gesehen hatte. Da Rontu vor mir stand und da ich das Kanu in keine bessere Stellung bringen konnte, musste ich mich weit hinausbeugen, um den Speer zu werfen. Der Teufelsfisch, sah die Bewegung. Sogleich stieß er eine Wolke von schwarzer Flüssigkeit aus, die sich im Wasser ausbreitete und ihn meinen Blicken entzog. Ich wusste, dass der Teufelsfisch nicht in der Mitte der Wolke bleiben, sondern in ihrem Schutz davonschwimmen würde. Deshalb legte ich den Speer beiseite, ergriff das Paddel und wartete auf den Augenblick, da er wieder zum Vorschein kam. Bald erblickte ich ihn zwei Kanulängen vor mir, doch trotz schnellen Paddelns konnte ich ihn nicht mehr einholen. “Rontu”, sagte ich, denn Rontu starrte immer noch auf die schwarze Wolke im Wasser, “du hast noch viel zu lernen, wenn du Teufelsfische fangen willst. ” Rontu schaute mich nicht an. Seine Verwirrung war groß. Er legte den Kopf erst auf diese, dann auf die andere Seite und ich sah, dass er nicht begreifen konnte, was sich vor seinen Augen zugetragen hatte. Am wenigsten begriff er, weshalb nur klares Wasser übrig blieb, nachdem die schwarze Wolke verschwunden war. Das Meer enthält keinen größeren Leckerbissen als den Teufelsfisch. Sein Fleisch ist weiß, zart und sehr süß. Es ist jedoch schwierig, ihn zu fangen, wenn man nicht den richtigen Speer besitzt. Ich beschloss auf der Stelle, mir im Winter, wenn ich genügend Zeit hatte, einen solchen Speer anzufertigen. Ich lenkte das Kanu in der Korallenbucht in die Nähe der Höhle und zog es auf den Sandstrand, wo ihm die Winterstürme nichts anhaben konnten. Hier würde es in Sicherheit sein, bis ich im Frühling wiederkommen würde, um es in der Höhle, die Rontu und ich entdeckt hatten, zu verstecken. Es glitt ganz leicht über das Wasser und die Planken hielten dicht. Darüber freute ich mich sehr.