Kapitel 21

Ich nahm Rontu nicht mit, als ich in der Nacht die Höhle verließ, und ich sperrte den Eingang hinter mir zu, damit er mir nicht nachlaufen konnte. Ich fürchtete, er würde die Hunde der Aleuter wittern und Lärm schlagen. Damals wusste ich noch nicht, dass die Aleuter keine Hunde mitgebracht hatten. Ich schlich leise durch das Gestrüpp auf die Bergkuppe zurück. Vom Felsblock aus konnte ich den Feuerschein im Lager der Aleuter sehen. Ihre Zelte standen auf der Mesa, an der gleichen Stelle, wo die Jäger das letzte Mal gelagert hatten. Ich schätzte die Entfernung bis zu meiner Höhle auf weniger als eine halbe Meile. Lange stand ich auf dem Felsblock und beobachtete die Lagerfeuer und überlegte mir, ob ich nicht besser in einen anderen Teil der Insel übersiedelte, vielleicht in die Höhle der wilden Hunde. Die Männer würden mich hier kaum entdecken; sie arbeiteten den ganzen Tag am Strand oder jagten in ihren Kanus. Aber das Mädchen bedeutete eine Gefahi für mich. Auf der Suche nach Wurzeln und Samenkörnern konnte es sich in die Schlucht verirren und trotz des dichten Gestrüpps unversehens auf die Quelle stoßen. Und dort würde es meine Spuren finden, die zur Höhle führten. Ich stand auf dem Felsblock, bis die Feuer der Aleuter niedergebrannt waren. Ich überdachte alles, was ich tun, alle Orte, die ich aufsuchen konnte, und zuletzt beschloss ich, in der Schlucht zu bleiben. Auf der anderen Seite der Insel gab es keine Quellen und vor allem würde ich schwerlich ein neues Versteck für mein Kanu finden. Vom Kanu aber durfte ich mich nicht trennen, da es mir im Notfall zur Flucht verhelfen musste. So kehrte ich in die Höhle zurück und blieb dort, bis der Mond voll war. Dann ging uns die Nahrung aus. In der Nacht machte ich mich mit Rontu auf den Weg zur Bergkuppe, und als wir am Haus vorbeigingen, bemerkte ich, dass in meinem Zaun drei Walrippen fehlten. Sonst nahm ich nichts Ungewöhnliches wahr. Rontu hätte gebellt, wenn jemand sich in der Nähe aufgehalten hätte. Wir warteten auf der Kuppe, bis die Ebbe einsetzte. Dies geschah kurz vor Tagesanbruch. Dann gingen wir zur Küste hinab, wo ich einen Korb mit Meerwasser und Abalonen füllte. Wir waren wieder zurück in unserer Höhle, ehe es richtig hell geworden war. Im Meerwasser blieben die Abalonen mehrere Tage frisch, aber als wir sie aufgegessen hatten und eines Nachts aufbrachen, um neue zu holen, war es so dunkel, dass wir den Weg zum Riff niemals gefunden hätten. Es blieb mir nichts anderes übrig, als nach Wurzeln zu suchen. Dies tat ich jeden Morgen bis zum nächsten Mond, da wir uns ohne Gefahr wieder an die Küste begeben konnten. In all dieser Zeit begegnete ich keinem einzigen Aleuter. Auch das Mädchen zeigte sich nie in der Nähe der Höhle; ich hatte jedoch seine Fußabdrücke am Eingang der Schlucht entdeckt und daraus geschlossen, dass es hier nach Wurzeln grub. Hunde hatten die Aleuter keine bei sich und darüber war ich sehr froh, denn die Hunde wären Rontus Spuren gefolgt und hätten uns in der Höhle aufgestöbert. Für Rontu und mich war es keine vergnügliche Zeit. Die Tage wollten kein Ende nehmen. Zuerst war Rontu beständig in der Höhle auf und ab gelaufen und dann wieder schnuppernd an der versperrten Öffnung stehen geblieben. Ich ließ ihn nie allein hinaus, da ich fürchtete, er würde zum Lager der Aleuter laufen und nicht mehr zurückkommen. Nach einer Weile begann er sich an sein neues Leben zu gewöhnen. Er lag den ganzen Tag zu meinen Füßen und schaute mir bei allem, was ich tat, zu. Trotz der Ritzen, durch welche hier und da ein Sonnenstrahl fiel, blieb es in der Höhle finster, deshalb ließ ich eine Anzahl kleiner Fische brennen, die ich zu diesem Zweck getrocknet hatte. In dem Licht, das sie verbreiteten, nähte ich mein Kormorankleid. Ich nähte von früh bis spät. Die zehn Häute, die ich vom Hohen Felsen mitgebracht hatte, waren jetzt trocken genug. Sie stammten alle von männlichen Kormoranen. Diese haben ein dichteres und viel glänzenderes Gefieder als die Weibchen. Die Arbeit am Yuccafasernrock war verhältnismäßig einfach gewesen. Das neue Kleid aber sollte ein Prunkstück werden. Ich schnitt daher die Häute mit besonderer Sorgfalt zurecht und nähte sie so kunstvoll, wie ich es verstand, zusammen. Ich begann mit dem Saum, indem ich drei Häute aneinandernähte, sodass sie ein langes Band bildeten. An diesem Band befestigte ich mit kleinen Stichen die restlichen sieben Häute. Ihre Federn verliefen von oben nach unten, die Federn am Saum dagegen verliefen quer. Das Kleid war sehr hübsch. Ich beendete es am Tag nach dem zweiten Mond. Die kleinen Fische waren inzwischen alle heruntergebrannt, und da ich keine neuen fangen konnte, solange die Aleuter auf der Insel hausten, nahm ich das Kleid mit ins Freie, um dort die letzten Stiche anzubringen. Ich fühlte mich jetzt sicherer. Seit meiner Entdeckung am Eingang der Schlucht hatte ich noch zweimal Fußspuren gefunden, doch nie in der Nähe der Höhle. Und da die Winterstürme vor der Tür standen, würden die Aleuter wohl bald wegfahren. Ich war überzeugt, dass sie noch vor dem nächsten Mond absegeln würden. Ich hatte das Kleid noch nie bei Tag gesehen. Es war schwarz, doch darunter schimmerte es grün und golden und auf den Federn lag ein Glanz wie von brennendem Feuer. Es war noch schöner, als ich gedacht hatte. Nun, da es beinahe fertig war, ging die Arbeit rasch voran, obgleich ich es dazwischen immer wieder an meinen Körper halten musste, um zu sehen, wie es sich an mir ausnahm. “Rontu”, sagte ich, vor Freude ein bisschen durcheinander, “wenn du kein Rüde wärst, so würde ich dir auch ein Kleid nähen, so schön wie meines. ” Rontu, der schlafend vor dem Höhleneingang lag, hob den Kopf, gähnte mich an und schlief wieder ein. Ich stand im Sonnenlicht und hielt eben den Rock an mich, als Rontu aufsprang. Ich hörte Schritte. Das Geräusch kam vom Bach her, und als ich mich blitzschnell umdrehte, sah ich das Mädchen. Es stand oben zwischen den Büschen und schaute zu mir herab. Mein Speer lehnte griffbereit am Eingang der Höhle. Das Mädchen stand kaum zehn Schritte von mir entfernt und ich hätte mit einer einzigen Bewegung den Speer packen und schleudern können. Warum ich es nicht tat, weiß ich nicht, da doch das Mädchen zu den Aleutern gehörte, die meine Leute in der Korallenbucht getötet hatten. Es sagte etwas. Da verließ Rontu seinen Platz vor der Höhle und ging langsam auf das Mädchen zu. Das Fell sträubte sich ihm im Nacken, dennoch ging er zu dem Mädchen und ließ sich von ihm streicheln. Das Mädchen schaute mich an. Dann machte es eine Bewegung mit der Hand, als wollte es sagen, Rontu gehöre jetzt ihm. “Nein!”, schrie ich und schüttelte heftig den Kopf. Ich erhob den Speer. Das Mädchen machte eine halbe Drehung und ich dachte, es würde jetzt gleich davonlaufen, aber dann machte es wieder eine Bewegung mit der Hand, was wohl heißen sollte, dass Rontu mir gehöre. Ich glaubte ihm nicht. Ich hielt den Speer wurfbereit über der Schulter. “Tutok”, sagte das Mädchen, wobei es mit dem Finger auf sich deutete. Ich sagte ihm meinen Namen nicht. Ich rief Rontu und er trottete zu mir zurück. Das Mädchen schaute erst Rontu an, dann mich und lächelte. Es war älter als ich, aber kleiner. Es hatte ein breites Gesicht und kleine, sehr dunkle Augen. Beim Lächeln zeigte es die Zähne und ich sah, dass sie vom vielen Sehnenkauen abgeschliffen waren, aber sie glänzten weiß wie das Innere einer Muschel. In einer Hand hielt ich noch immer das Kormorankleid und das Mädchen deutete mit dem Finger darauf und sagte etwas. “Wintscha”, sagte es. Es klang ähnlich wie das Wort, das in unserer Sprache “hübsch” heißt. Ich war so stolz auf das Kleid, dass ich an nichts anderes mehr dachte. Der Speer befand sich noch in meiner Hand doch ich beachtete ihn nicht, ich hielt das Kleid hoch, sodass die Sonne von allen Seiten darauf fiel. Das Mädchen sprang vom Felsen herunter, kam auf mich zu und berührte das Kleid. “Wintscha”, sagte es wieder. Ich sagte nichts. Da ich sah, wie gern das Mädchen mein Kleid angefasst hätte, gab ich es ihm. Es hielt es an sich und drehte sich damit hierhin und dort. Es war sehr zierlich gebaut und das Federkleid tanzte um seine Gestalt wie schäumendes Wasser. Aber ich hasste die Aleuter und nahm ihm das Kleid wieder fort. “Wintscha”, sagte das Mädchen. Ich hatte schon so lange keine Worte mehr aus eines anderen Menschen Mund vernommen, dass mich dieses Wort ganz seltsam berührte. Es tat gut, es zu hören, auch wenn der Mensch, der es aussprach, mein Feind war. Die Aleuterin sagte noch andere Wörter, die ich nicht verstand. Beim Sprechen blickte sie über meine Schulter hinweg zur Höhle. Sie zeigte auf die Höhle, dann auf mich und tat, als zünde sie ein Feuer an. Ich wusste, was sie von mir hören wollte, aber ich sagte es nicht. Sie wollte wissen, ob ich in der Höhle wohne, damit sie die Männer holen und mich in ihr Lager schleppen lassen konnte. Ich schüttelte den Kopf und deutete in die Ferne, nach der äußersten Spitze der Insel, denn ich traute ihr nicht. Sie schaute immer noch zur Höhle hinüber, sagte jedoch nichts mehr. Ich hielt den Speer, mit dem ich sie töten konnte, in der Hand. Ich tötete sie nicht, trotz meiner Angst vor den Jägern. Sie trat nahe an mich heran und berührte meinen Arm. Ihre Berührung war mir zuwider. Sie sagte noch ein paar Wörter, lächelte, drehte sich um und ging zur Quelle, wo sie trank. Im nächsten Augenblick war sie zwischen den Büschen verschwunden. Rontu machte keinen Versuch, ihr zu folgen. Sie verschwand ohne einen Laut. Ich kroch in die Höhle und begann, meine Körbe zu packen. Es blieb mir genügend Zeit dafür, denn die Männer arbeiteten den ganzen Tag und kehrten erst am Abend in ihr Lager zurück. Bei Einbruch der Dämmerung war ich bereit. Ich wollte das Kanu holen und nach der westlichen Seite der Insel rudern. Dort konnte ich auf den Felsen schlafen, bis die Aleuter fortgingen. Wenn es sein musste, konnte ich jeden Tag an einer anderen Stelle schlafen. Ich trug fünf Körbe die Schlucht hinauf und versteckte sie in der Nähe meines Hauses. Inzwischen war es finster geworden, aber ich musste ein letztes Mal in die Höhle zurück, um die zwei noch dort verbliebenen Körbe zu holen. Vorsichtig bewegte ich mich durch das Gestrüpp. Über dem Eingang blieb ich stehen und lauschte. Rontu neben mir lauschte ebenfalls. Kein Mensch, der nicht seit Langem in der Gegend wohnte, konnte sich nachts lautlos durch das Gestrüpp schleichen. Rontu und ich lauschten angestrengt, doch wir hörten nichts. Ich ging an der Quelle vorbei, wartete eine Weile und schritt dann auf die Höhle zu. Jemand war hier gewesen, das spürte ich. Jemand war hier gewesen, seit ich die Schlucht das letzte Mal verlassen hatte. Die Aleuter konnten sich im Dunkel versteckt haben und mich beobachten. Ich hatte solche Angst, dass ich die Höhle nicht zu betreten wagte. Als ich mich umdrehte, um wegzulaufen, sah ich etwas vor der Öffnung liegen, auf dem flachen Stein, den ich als Stufe benutzte. Es war eine Halskette aus schwarzen Steinen, wie ich sie noch nie gesehen hatte.