Kapitel 9

Jene Zeit ist mir nur undeutlich in Erinnerung geblieben. Ich weiß aber, dass viele Sonnen auf-und untergingen und dass ich mir lange überlegte, was ich nun, da ich allein war, tun sollte. Die Hütte verließ ich nur, um frische Abalonen zu holen, nachdem ich meinen kleinen Vorrat verzehrt hatte. An einen bestimmten Tag jedoch erinnere ich mich genau. Es war der Tag, da ich beschloss, nicht mehr im Dorf zu wohnen. Seit dem frühen Morgen hing dicker Nebel über der Insel. Von der Küste drang das Tosen der Wellen herüber. Da wurde mir mit einem Mal bewusst, wie still es war in Ghalasat. Der Nebel kroch durch die offenen Hütten und in seinen Schwaden glaubte ich Gestalten zu erkennen, die Gestalten all derer, die tot oder die fortgegangen waren. Im Lärm der Brandung schienen ihre Stimmen zu rufen. Lange saß ich vor meiner Hütte, sah die Gestalten und hörte die Stimmen, bis die Sonne durch den Nebel drang und die ziehenden Schwaden verscheuchte. Da erhob ich mich und legte Feuer an meiner Hütte. Als sie bis auf den Grund niedergebrannt war, steckte ich die nächste in Brand und so zerstörte ich ein Haus nach dem anderen, bis nur noch Asche bekundete, dass hier das Dorf Ghalasat gestanden hatte. Außer einem Korb voll Lebensmitteln gab es nichts, das ich mitnehmen konnte. Ich kam deshalb rasch voran, und noch ehe die Nacht hereinbrach, erreichte ich den Ort, wo ich zu wohnen beschlossen hatte, bis das Schiff zurückkehrte. Mein neues Heim war eine flache Bergkuppe, eine halbe Seemeile von der Korallenbucht entfernt. Die Kuppe war kahl bis auf einen großen Felsblock in der Mitte und zwei verkrüppelte Bäume. Hinter dem Felsblock gab es einen ebenen, windgeschützten Platz, zehn Schritte breit und fast ebenso lang. Von dort aus konnte ich den Hafen und das Meer sehen. Ein kleiner Bach rieselte in der Nähe. Zum Schlafen kletterte ich auf den Felsen. Er war oben so breit, dass ich mich mühelos darauf ausstrecken konnte, und eben noch hoch genug, um mir Schutz zu bieten vor den wilden Hunden. Seit dem Tag, da sie Ramo getötet hatten, waren sie mir nicht mehr begegnet, aber ich zweifelte nicht daran, dass sie mein neues Lager bald aufspüren würden. Der Felsen bot auch ein sicheres Versteck für die mitgebrachten Vorräte. Da es noch immer Winter war und das Schiff nun jeden Tag zurückkommen konnte, hielt ich es für überflüssig, nach frischer Nahrung zu suchen. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Als Erstes musste ich mir Waffen beschaffen, mit denen ich mich der Hunde erwehren konnte, wenn sie mich angriffen. Ich war überzeugt, dass sie mich eines Tages angreifen würden; aber ich hatte fest beschlossen, sie alle umzubringen, einen nach dem anderen. Außer dem Stock, den ich in einer leeren Hütte gefunden hatte, brauchte ich einen Bogen mit Pfeilen und einen großen Speer. Der Speer, mit welchem Ramo einen der Hunde getötet hatte, war zu klein. Er taugte höchstens zum Fischen. Nach dem Gesetz des Stammes von Ghalasat durften Frauen keine Waffen anfertigen. Ich begann also nach Waffen zu suchen, die vielleicht von meinen Leuten zurückgelassen worden waren. Zuerst kehrte ich in das verbrannte Dorf zurück und durchwühlte die Aschenhaufen in der Hoffnung, einen oder zwei Speerköpfe zu finden. Da ich nichts fand, ging ich zu der Stelle, wo die Kanus lagen. Vielleicht hatten meine Leute dort nicht nur Ess-und Trinkvorräte, sondern auch Waffen versteckt. Doch die Kanus unter der Klippe waren leer. Da fiel mir die Kiste der Aleuter ein. Die Jäger hatten sie an Land gebracht und ich erinnerte mich, sie während des Kampfes am Strand gesehen zu haben. Was hernach geschah, ob sie am Strand stehen blieb oder ob die Aleuter sie wieder mitnahmen, wusste ich nicht mehr. Ich ging in die Korallenbucht. Es war die Zeit der Ebbe. Außer langen Strängen von Seegras, die der Sturm angeschwemmt hatte, war der Strand leer. Trotzdem schaute ich an der Stelle nach, wo die Kiste gestanden haben musste. Sie befand sich dicht unterhalb des Felsens, auf welchem Ulape und ich den Kampf in der Bucht beobachtet hatten. Mit einem Stock begann ich Löcher in den Sand zu bohren, eines dicht neben dem anderen, in einem immer enger werdenden Kreis. Es war ja denkbar, dass der vom Wind verwehte Sand die Kiste zugedeckt hatte. Halbwegs gegen die Mitte des Kreises stieß ich mit dem Stock auf etwas Hartes. Erst hielt ich es für ein Stück Fels, doch als ich mit den Händen tiefer grub, kam der schwarze Deckel der Kiste zum Vorschein. Den ganzen Vormittag lang mühte ich mich damit ab, die Kiste freizulegen. Im Auf und Ab von Ebbe und Flut war sie immer tiefer eingesunken, aber ich hatte auch nicht die Absicht, sie ganz aus dem Sand zu graben; ich wollte nur den Deckel heben. Mit der steigenden Sonne brandete die Flut in die Bucht und machte meine ganze Arbeit zunichte. Das Loch füllte sich wieder mit Sand, bis von der Kiste nichts mehr zu sehen war. Ich rührte mich nicht von der Stelle, obgleich ich bis zum Gürtel im Wasser stand, denn wenn ich jetzt weglief, konnte ich nachher mit dem Suchen wieder von vorne beginnen. Als die Ebbe einsetzte, fing ich erst mit den Füßen, dann mit den Händen von Neuem zu graben an. Endlich lag die Kiste frei. Ich schlug den Deckel zurück. Da lagen sie vor mir die Halsketten, Armbänder und Ohrringe, Dutzende und Dutzende in schillernden Farben. Ich vergaß die Speerspitzen, die ich hier zu finden gehofft hatte. Mit beiden Händen wühlte ich in dem Schatz. Jedes Schmuckstück, das mir besonders gefiel, hielt ich ins Sonnenlicht und drehte es nach allen Seiten, damit die Strahlen sich in den gläsernen Perlen fangen konnten. Die längste Kette, die aus blauen Glasperlen bestand, legte ich mir um den Hals. Ich streifte mir auch ein Paar blaue Armbänder über die Handgelenke und sie hatten genau die richtige Größe für mich. Dann spazierte ich den Strand entlang und bewunderte mich. Ich schritt bis zum anderen Ende der Bucht. Die Perlen und die Armbänder klirrten. Ich fühlte mich wie eine Häuptlingsbraut, wie ich da am Wasser auf und ab stolzierte. An der Stelle, wo der Pfad abzweigt und wo der Kampf stattgefunden hatte, blieb ich plötzlich stehen. Hier waren unsere Männer umgekommen, getötet von den Händen der Aleuter, deren Schmuck ich trug. Ich ging zurück zur Kiste. Dort stand ich lange Zeit und betrachtete die Armbänder und die Glasperlen an meinem Hals. Sie waren so schön und sie glitzerten so herrlich in der Sonne. “Sie gehören nicht mehr den Aleutern”, sagte ich laut, “sie gehören mir. ” Dennoch wusste ich, dass ich sie nie wieder tragen würde. Zögernd streifte ich sie ab. Dann raffte ich alles zusammen, was in der Kiste lag, lief damit ins Meer hinaus und warf es ins Wasser, wo es am tiefsten war. Da die Kiste keine Speerspitzen enthielt, war sie für mich wertlos geworden. Ich warf den Deckel zu und häufte Sand darüber. Später suchte ich auch den Boden unterhalb des Pfades ab. Ich fand jedoch nichts Brauchbares. Da gab ich das Suchen auf. Tagelang dachte ich nicht mehr an die Waffen, bis eines Nachts die wilden Hunde kamen. Sie umzingelten den Felsblock, auf dem ich schlief, und heulten ohne Unterlass. Gegen Morgen entfernten sie sich, aber ich konnte sie den ganzen Tag im dichten Gestrüpp umhertappen sehen und ich spürte, dass sie mich beobachteten. Als es wieder Abend wurde, kamen sie zurück. Sie scharrten die Reste meiner Mahlzeit, die ich vergraben hatte, aus dem Boden und balgten sich knurrend um die letzten Brocken. Nachdem sie gefressen hatten, kreisten sie schnuppernd um meinen Felsen. Kein Zweifel, sie witterten meine Nähe. Lange lag ich schlaflos auf dem Felsen, während die Hunde unter mir ruhelos hin und her trabten. Auf den Felsen konnten sie nicht klettern, er war zu hoch, dennoch fürchtete ich mich. In dieser Nacht überlegte ich mir zum ersten Mal, was mir zustoßen könnte, wenn ich das Gesetz unseres Stammes missachtete und mir, obgleich ich eine Frau war, die benötigten Waffen anfertigte. Ich fragte mich, was geschehen würde, wenn ich ganz einfach nicht an dieses Gesetz dachte. Vieles konnte geschehen: Vielleicht rasten die vier Winde des Himmels daher und zerschmetterten mich, während ich einen Pfeil schnitzte. Oder die Erde bebte, wie manche sagten, und begrub mich unter den fallenden Steinen. Oder würde etwa das Meer in einer furchtbaren Sturzflut über die Insel hereinbrechen? Würden die Waffen in meinen Händen gerade dann zerbrechen, wenn ich ihrer bedurfte, wenn ich in tödlicher Gefahr schwebte, wie mein Vater geweissagt hatte? Zwei Tage lang überdachte ich diese Dinge und in der dritten Nacht, als die Hunde wieder zum Felsen kamen, beschloss ich, mir die Waffen anzuschaffen, was immer auch geschehen mochte. Gleich am nächsten Morgen wollte ich mich an die Arbeit machen. Dies tat ich denn auch, trotz der Angst, die mich dabei quälte. Für die Speerspitze wollte ich den Zahn eines SeeElefanten verwenden, weil er hart ist und genau die richtige Form hat. An der Küste am Fuß der Bergkuppe tummelten sich viele dieser Tiere. Die Frage war nur, wie ich eines töten könnte. Unsere Männer pflegten sie mit einem starken Netz aus Salzkrautgeflecht zu fangen. Sie warfen das Netz über das Tier, wenn es schlief. Dazu bedurfte es jedoch der Kraft von mindestens drei Männern, und selbst dann konnte es geschehen, dass der SeeElefant samt dem Netz ins Meer flüchtete und so seinen Häschern entkam. Ich begnügte mich also vorerst mit einer zugespitzten Baumwurzel, die ich im Feuer härtete. Die Spitze band ich mit einer frischen Robbensehne an einen langen Schaft. Es gab eine Menge Robben an der Küste. Eine davon hatte ich zwei Tage zuvor mit einem Stein getötet und ausgenommen, weil ich ihre Sehnen als Schnüre verwenden wollte. Die Herstellung des Bogens und der Pfeile erforderte mehr Zeit und Arbeit. Sehnen besaß ich nun zur Genüge, doch die Holzart, die ich brauchte, war nur mit Mühe aufzutreiben. Das Holz musste stark und zugleich biegsam sein. Mehrere Tage lang durchforschte ich die benachbarten Schluchten, ehe ich das Richtige fand, denn Bäume sind, wie gesagt, eine Seltenheit auf der Insel der blauen Delfine. Schließlich hatte ich alles beisammen, auch das Holz für die Pfeilschäfte, die Steine für die Pfeilspitzen und eine Handvoll Vogelfedern für das stumpfe Schaftende. Doch dies war erst der Anfang. Die größten Schwierigkeiten standen mir erst noch bevor. Wohl hatte ich manches Mal zugesehen, wenn unsere Männer an ihren Waffen arbeiteten, aber wie man dabei vorging, wusste ich nicht. Ich hatte meinem Vater zugesehen, wenn er an Winterabenden in der Hütte saß und das Holz für die Schäfte schabte, ich hatte gesehen, wie er die Steine für die Pfeilspitzen zerhackte und die Federn festband; ich hatte ihm zugeschaut und im Grunde doch nichts gesehen. Denn damals waren meine Augen noch nicht die Augen eines Menschen, der eines Tages selbst mit solchen Dingen umgehen muss. Es war daher nicht verwunderlich, dass viel Zeit verging, ehe ich einen brauchbaren Bogen und ein halbes Dutzend Pfeile besaß. Von da an trug ich meine Waffen in einer Schlinge auf dem Rücken, wohin ich ging, zur Küste, um Muscheln zu sammeln, oder in die Schlucht, um Wasser zu holen. Und jeden Tag übte ich mich im Bogenschießen wie auch im Speerwerfen. Während ich an den Waffen arbeitete, blieben die wilden Hunde meinem Lager fern, doch Nacht für Nacht konnte ich sie heulen hören. Später, als die Waffen fertig waren, zeigte sich der Anführer des Rudels für kurze Zeit im nahen Gebüsch. Ich sah, wie er mich mit seinen gelben Augen beobachtete. Er stand auf einem Felsblock oberhalb der Quelle, als ich Wasser schöpfte, und schaute zu mir herab. Er stand sehr still, nur sein grauer Kopf ragte aus dem Cholla-Busch, dennoch bot er kein gutes Ziel für meinen Pfeil. Die Entfernung war zu groß. Mit meinen Waffen konnte ich mich einigermaßen sorglos auf der Insel bewegen. Geduldig wartete ich auf den Augenblick, da ich sie gegen die wilden Hunde, die Ramo getötet hatten, verwenden konnte. Ich ging nicht mehr zu ihrer Höhle. Ich war ja sicher, dass sie eines Tages wieder auf meine Bergkuppe kommen würden. Inzwischen verbrachte ich die Nächte weiterhin auf dem hohen flachen Stein, der mir als sichere Schlafstätte diente. In der ersten Nacht hatte ich auf dem bloßen Felsen gelegen. Die Oberfläche war aber so uneben, dass ich am nächsten Tag einige Bündel Seegras aus der Bucht holte und mir daraus ein Bett machte. Ich fühlte mich wohl da oben auf der Kuppe. Über mir schimmerten nachts die Sterne. Ich zählte die wenigen, die ich kannte, und erfand Namen für viele andere, die ich nicht kannte. Am Morgen schaute ich den Möwen zu. Sie flogen von ihren Nestern auf, die zwischen den Klippenfelsen klebten kreisten eine Weile lang über den Ebbetümpeln, ließen sich fallen und begannen, sich für den neuen Tag herzurichten. Sie standen in den Tümpeln, erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein, füllten die krummen Schnäbel mit Wasser, das sie über sich gossen, und glätteten ihr Gefieder mit der Schnabelspitze. Danach flatterten sie über der Küste auf und ab, um nach Fischen zu jagen. Jenseits der Salzkrautbänke hatten die Pelikane schon mit der Jagd begonnen. Sie schwebten hoch über dem Wasser, und wenn sie einen Fisch erspähten, stürzten sie sich kopfüber ins Meer. Beim Aufklatschen machten sie so viel Lärm, dass ich es ganz oben auf der Bergkuppe hören konnte. Ich sah auch den Ottern zu, wenn sie im Salzkraut fischten. Die scheuen Tiere waren bald nach dem Verschwinden der Aleuter zurückgekommen und mir schien, sie hätten nichts von ihrer Zahl eingebüßt. Die Morgensonne schimmerte wie Gold auf ihren glänzenden Fellen. Doch immer, wenn ich auf dem Felsen lag und zu den Sternen aufblickte, dachte ich an das Schiff der weißen Männer. Und am Morgen galt mein erster Blick dem kleinen Hafen in der Korallenbucht. Jeden Morgen hoffte ich, das Schiff sei in der Nacht dort eingelaufen. Und jeden Morgen sah ich nichts als die fliegenden Vögel über dem Wasser. Zu der Zeit, da Ghalasat noch bewohnt gewesen war, hatte ich immer schon vor Sonnenaufgang vielerlei nützliche Arbeit geleistet. Jetzt aber gab es so wenig zu tun, dass ich zuweilen auf dem Felsen liegen blieb, bis die Sonne mitten am Himmel stand. Dann aß ich ein paar Muscheln oder ich ginggeradewegs zur Quelle, um frisches Wasser zu holen und in dem kleinen Becken zu baden. Später sammelte ich Abalonen an der Küste und manchmal fing ich mit dem Speer einen Fisch zum Abendbrot. Ehe es dunkel geworden war, kletterte ich wieder auf den Felsen und schaute auf die See hinaus, bis die Nacht sie verschlang. Das Schiff kam nicht zurück. Auf diese Weise ging der Winter vorbei und danach der Frühling.