Kapitel 8

Der Wind riss und zerrte an uns, während wir den steilen Pfad emporstiegen; er wirbelte Sand über die Mesa, der uns unter den Füßen wegrann und den Himmel verdunkelte. Da wir so nicht weiterkamen, suchten wir zwischen den Felsen Schutz. Wir blieben dort, bis die Nacht hereinbrach. Dann ließ der Wind nach, der Mond trat zwischen den Wolken hervor und in seinem Licht kehrten wir ins Dorf zurück. Die Hütten sahen aus wie Geister in der kalten Helle. Beim Näherkommen vernahm ich seltsame Geräusche. Es klang wie das Getrappel fliehender Füße. Erst dachte ich, es sei der Wind, aber als wir die ersten Hütten erreichten, sahen wir Dutzende von Hunden aus den offenen Türen rennen. Sie liefen knurrend vor uns davon. Das Pack musste sich ins Dorf geschlichen haben, gleich nachdem wir ausgezogen waren, denn von der Abalone, die wir zurückgelassen hatten, war nicht viel übrig geblieben. Anscheinend hatten die wilden Hunde überall nach Futter gesucht. Nur mit Mühe gelang es Ramo und mir, etwas Essbares aufzutreiben. Als wir endlich vor einem kleinen Feuer saßen und unser karges Mahl verzehrten, begannen die Hunde zu bellen. Der Lärm kam von einem nahen Hügel, aus der gleichen Richtung wie der Wind. Die Hunde bellten die ganze Nacht, doch als ich bei Sonnenaufgang aus der Hütte trat, ergriffen sie die Flucht. Die Höhle, in der sie hausten, befand sich am nördlichen Ende der Insel und ich schaute ihnen nach, bis sie meinen Blicken entschwanden. An diesem Tag kümmerten wir uns nur um unsere Nahrung. Das vom Wind gepeitschte Meer warf hohe Wellen an die Küste, sodass wir nicht bis zu den Felsen im Wasser vordringen konnten, um frische Abalonen zu holen. Wir blieben deshalb auf der Klippe. Ich sammelte Möweneier, während Ramo in den Tümpeln fischte. Er fing eine Menge kleiner Fische, die er aufspießte und stolz nach Hause trug. Es war ihm anzusehen, dass er damit seinen Ungehorsam als gesühnt betrachtete. Zusammen mit den Samenkörnern, die ich in einer Kluft fand, brachte ich ein reichliches Abendessen zustande. Zum Kochen besaß ich allerdings nichts als ein paar flache Steine; meine Töpfe lagen auf dem Meeresgrund. Die wilden Hunde kamen auch in der folgenden Nacht. Vom Duft der gebratenen Fische angelockt, scharten sie sich bellend und knurrend auf dem Hügel vor dem Dorf zusammen. Ich sah den Widerschein des Feuers in ihren Augen glimmen. Als der Morgen graute, gingen sie fort. Der Ozean lag am nächsten Tag ruhig da und wir konnten wieder Abalonen von den Felsen pflücken. Aus Seegras flochten wir einen großen Korb. Diesen füllten wir bis zum Rande, und als die Sonne auf unsere Köpfe niederbrannte, trugen wir ihn nach Hause. Unterwegs machten wir auf der Klippe halt. Die Luft war klar. Wir konnten das ganze Meer überblicken bis dorthin, wo das Schiff verschwunden war. “Kommt es heute zurück?”, fragte Ramo. “Kann sein”, antwortete ich. Ich glaubte es nicht und fuhr fort: “Es kann aber auch sein, dass das Schiff erst nach vielen Sonnen zurückkommt, denn das Land, wohin es gefahren ist, liegt weit von hier. ” Ramo schaute zu mir auf. Seine schwarzen Augen glänzten. “Es würde mir nichts ausmachen, wenn das Schiff nie wiederkäme”, sagte er. “Warum sagst du das ?”, fragte ich. Ramo dachte nach, während er mit der Spitze seines Speers ein Loch in die Erde bohrte. “Warum?”, fragte ich wieder. “Weil es mir hier gefällt, so allein mit dir”, antwortete er. “Es macht mehr Spaß als früher, als alle noch da waren. Morgen gehe ich zu den Kanus und nehme eins und bringe es in die Korallenbucht. Wir brauchen es zum Fischen und damit wir um die Insel fahren können. ” “Die Kanus sind zu schwer für dich allein. Allein kannst du sie nicht ins Wasser schieben. ” “Lass mich nur machen. ” Ramo warf sich in die Brust. Er trug eine Halskette aus SeeElefanten-Zähnen, die jemand auf der Insel zurückgelassen hatte. Die Kette war viel zu groß für ihn und die Zähne waren zerbrochen, aber sie klapperten, als er den Speer zwischen uns in den en rammte. “Du vergisst, dass ich der Sohn des Häuptlings Chowig bin”, sagte er: “Ich vergesse es nicht”, antwortete ich, “aber du bist ein kleiner Sohn. Später, ja, später wirst du stark genug sein, um mit einem großen Kanu allein fertigzuwerden. . ” “Ich bin der Sohn des Häuptlings Chowig”, wiederholte er und plötzlich riss er die Augen weit auf. “Ich bin sein Sohn, und weil er tot ist, muss ich an seine Stelle treten. Ich bin jetzt der Häuptling von Ghalasat. Alle meine Wünsche müssen erfüllt werden. ” “Zuerst musst du dafür sorgen, dass du ein Mann wirst. Ich werde dich also mit einem Büschel Nesseln auspeitschen und dann auf einen Ameisenhaufen binden, wie es das Gesetz unseres Stammes verlangt. ” Ramo wurde bleich. Er wusste, welchen Riten sich die jungen Männer unseres Stammes unterwerfen mussten und wie grausam sie waren. Schnell sagte ich: “Aber da es hier außer dir keine Männer mehr gibt, können wir vielleicht eine Ausnahme machen und die Nesseln und die roten Ameisen beiseitelassen, Häuptling Ramo. ” “Ich weiß noch nicht, ob mir dieser Name passt”, erwiderte er wieder lächelnd. Er warf seinen Speer nach einer Möwe. “Ich will mir einen besseren ausdenken. ” Ich schaute ihm nach, als er den Speer holen ging - ein kleiner Junge mit dünnen Armen und Beinen wie Stäbe und mit einer Kette aus SeeElefanten-Zähnen. Als Häuptling von Ghalasat würde er mir noch mehr Schwierigkeiten bereiten, als ich bisher mit ihm gehabt hatte. Und doch spürte ich plötzlich das Verlangen, ihm nachzulaufen und ihn an mich zu drücken. “Mir ist ein Name eingefallen”, sagte er, als er zurückkam. “Und der lautet?”, fragte ich mit ernster Miene. “Ich bin der Häuptling Tanyositlopai. ” “Das ist ein sehr langer und sehr schwieriger Name. ” “Du wirst dich daran gewöhnen”, antwortete Häuptling Tanyositlopai. Es fiel mir nicht ein, Häuptling Tanyositlopai allein zu den versteckten Kanus gehen zu lassen. Als ich jedoch am nächsten Morgen erwachte, war Ramo fort. Ich trat vor die Hütte, aber ich sah und hörte nichts. Da wusste ich, dass er in der Nacht aufgestanden und zu den südlichen Klippen gegangen war. Auf einmal hatte ich Angst. Ich malte mir die schrecklichsten Dinge aus. An dem Seil aus Salzkraut war er schon einmal hinuntergeklettert, aber ein Kanu, und sei es auch das kleinste, von den Felsen zu zerren war für einen so kleinen Jungen eine gefährliche Sache. Und selbst wenn er es fertigbrachte, wenn er das Kanu ins Wasser schieben konnte, ohne sich dabei zu verletzen wie würde er . um die Landspitze herumkommen? Die reißende Strömung dort und die vielen Strudel machten selbst einem erprobten Kanufahrer zu schaffen. Der Gedanke an diese Gefahren ließ mir keine Ruhe. Ich begann zu laufen. Es gab nur einen Pfad, der zur Südspitze führte, und den schlug ich ein. Auf halbem Weg blieb ich plötzlich stehen. Vielleicht war es besser, ich ließ Ramo allein zur Klippe gehen. Schließlich konnten wir ja nicht wissen, wie lange es dauerte, bis das Schiff zurückkam, und inzwischen waren wir aufeinander angewiesen. Vielleicht war es notwendig, dass Ramo schon jetzt ein Mann wurde, dass er lernte, auf eigenen Füßen zu stehen, denn ich würde seine Hilfe brauchen, wenn das Schiff noch lange auf sich warten ließ. Was wussten wir, was uns alles noch bevorstand? Unvermittelt machte ich kehrt und schlug den Pfad zur Korallenbucht ein. Wenn es Ramo gelang, das Kanu ins Wasser zu schieben und heil durch die Strömung an der Landzunge zu paddeln, dann konnte er ungefähr um die Zeit, da die Sonne am höchsten stand, im Hafen landen. Dort wollte ich ihn erwarten. Denn eine Seereise macht nur halb so viel Spaß, wenn niemand da ist, der einen willkommen heißt. Während ich die großen Steine in der Bucht nach Muscheln absuchte, dachte ich absichtlich an andere Dinge. Ich überlegte mir, was wir zum Essen brauchten und wie wir unsere Vorräte vor den wilden Hunden schützen könnten, wenn wir nicht im Dorf waren. Auch an das Schiff dachte ich. Ich versuchte mich zu erinnern, was Matasaip zu mir gesagt hatte. Zum ersten Mal zweifelte ich, ob das Schiff auch wirklich zurückkam. Dieser Gedanke beschäftigte mich so sehr, dass ich in meiner Arbeit immer wieder innehielt und übers Meer starrte, das leer und endlos weit vor mir lag. Die Sonne stieg, doch von Ramo war noch immer nichts zu sehen. Meine Angst wuchs. Eilends füllte ich meinen Muschelkorb und trug ihn hinauf auf die Mesa. Von dort aus konnte ich den Hafen überblicken und die ganze Küste bis zur Landzunge, die wie ein Angelhaken in den Ozean stach. Ich konnte die kleinen Wellen über den Sand gleiten sehen und hinter ihnen den Halbmond aus weißem Schaum, der die reißende Strömung begleitete. Ich wartete auf der Mesa, bis die Sonne senkrecht über mir stand, dann lief ich ins Dorf. Doch meine heimliche Hoffnung, Ramo sei inzwischen zurückgekommen, erfüllte sich nicht. Die Hütte war leer. Hastig grub ich ein Loch in die Erde, legte die Muscheln hinein und deckte sie mit einem schweren Stein zu, damit die wilden Hunde nicht an sie herankamen. Als ich fertig war, machte ich mich auf den Weg zur südlichen Inselspitze. Zwei Pfade führten zu den Klippen. Zwischen ihnen erhob sich eine lang gestreckte Sanddüne. Ich lief ein Stück weit geradeaus, und da von Ramo weit und breit nichts zu sehen war, begann ich nach ihm zu rufen. Wenn er auf dem Rückweg dem Pfad hinter der Düne folgte, musste er mich hören. Er antwortete nicht, doch jetzt vernahm ich fernes Hundegebell. Das Kläffen wurde lauter, als ich mich der Klippe näherte. Bisweilen erstarb es für kurze Zeit und hob dann von Neuem an. Der Lärm kam von der anderen Seite der Düne. Ich verließ den Pfad und stapfte den sandigen Hügel hinan. Als ich den Grat erreicht hatte, erblickte ich das Rudel. Es bildete einen wirren Knäuel und in der Mitte des Knäuels lag Ramo. Er lag auf dem Rücken und von der Stelle, wo ich stand, konnte ich die Wunde an seinem Hals sehen. Er lag ganz still. Ich trat hinzu und hob ihn auf. Er war tot. Sein ganzer Körper war von Bisswunden bedeckt. Er musste schon seit Langem tot sein und er hatte die Klippe mit den Kanus nie erreicht; das ersah ich aus den Spuren seiner Füße. Neben ihm lagen zwei tote Hunde. Aus der Flanke des einen ragte Ramos zerbrochener Speer. Ich trug Ramo ins Dorf. Es war ein langer Weg und die Hunde folgten mir bis zur Hütte, wo ich Ramo auf den Boden bettete; doch als ich mit einem Stock vor die Tür trat, verzogen sie sich auf einen benachbarten kleinen Hügel. Ihr Anführer war ein großer, grauer Hund mit dichtem Nackenhaar und gelben Augen und er ging als Letzter. Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit folgte ich der Meute auf den Hügel. Lautlos wich sie vor mir zurück. Ich verfolgte sie hügelauf, hügelab und durch ein kleines Tal bis zur Anhöhe, hinter welcher sich eine steile Felswand erhob. Am Fuß der Wand befand sich eine Höhle. Die Hunde trabten auf die Öffnung zu und zwängten sich einer nach dem anderen hindurch. Als der letzte in der Höhle verschwunden war, trat ich näher. Die Öffnung war zu breit und zu hoch, als dass ich sie mit Steinen hätte füllen können. Ich las dürre Zweige zusammen, schichtete sie aufeinander und zündete sie an. Die brennenden Zweige stieß ich in den Höhleneingang. Mein Plan war, das Feuer bis zum Morgen brennen zu lassen und es immer tiefer in die Höhle zu stoßen, doch ich fand nicht genügend Holz. Als der Mond aufging, ließ ich von meinem Vorhaben ab und kehrte durch das Tal und über die Hügel ins Dorf zurück. Die ganze Nacht saß ich schlaflos in meiner Hütte neben der Leiche meines Bruders. Ich schwor mir, dass ich eines Tages hingehen und die wilden Hunde umbringen würde. Ich würde sie alle umbringen. Ich dachte daran, wie ich sie umbringen würde, aber noch mehr als an die Hunde dachte ich an Ramo, meinen toten Bruder.