Kapitel 20

Zwei Kanuladungen Abalonen, hauptsächlich rote, brachte ich danach noch an Land. Ich säuberte sie und trug sie zum Haus hinauf. An der Südseite des Zauns, wo die Sonne am längsten schien, errichtete ich aus Zweigen lange Gestelle, auf denen ich das Muschelfleisch zum Trocknen ausbreitete. In frischem Zustand ist eine Abalone größer als eine Menschenhand und fast zweimal so dick, aber an der Sonne schrumpft sie zusammen. Um einen Winter lang davon leben zu können, muss man daher eine sehr große Anzahl Muscheln trocknen lassen. Früher, als die Insel noch bewohnt war, mussten Kinder die Möwen von den Abalonen verscheuchen, denn diese fressen nichts lieber als das Abalonefleisch. Wenn man nicht scharf aufpasste, konnten sie an einem einzigen Morgen die Ernte eines ganzen Mondes stehlen. Zuerst ließ ich Rontu als Wächter zurück, wenn ich zur Quelle oder in die Bucht ging. Doch dies behagte ihm nicht. Er heulte die ganze Zeit, während ich fort war. Darauf band ich ein paar Abaloneschalen mit Schnüren zusammen und hängte sie an den Zaunpfählen auf. Dort pendelten sie im Wind hin und her und warfen Blitze nach allen Seiten, wenn sich das Sonnenlicht in ihren blanken Innenflächen verfing. So brauchte ich die Möwen nicht mehr zu fürchten. Ich dörrte auch kleine Fische, die ich mit einem Netz aus Salzkrautgeflecht fing. Sie sollten mir im Winter als Lampen dienen. Mit dem Muschelfleisch, das auf den Gestellen trocknete, und den Schalen, die sich glitzernd im Wind drehten, und den Reihen von kleinen Fischen, die zum Dörren am Zaun hingen, sah der Platz vor meiner Hütte fast wie ein Dorfplatz aus. Ein Fremder hätte hier wohl einen ganzen Stamm vermutet anstatt nur ein Mädchen und einen Hund. Jeden Morgen fuhr ich mit Rontu aüfs Meer, nachdem ich neue Vorräte für den Winter beiseitegeschafft hatte. Gegen Ende des Sommers würde ich Wurzeln und Samenkörner sammeln müssen, doch bis dahin durfte ich mir eine Ruhepause leisten. Wir unternahmen viele Ausflüge in diesen Sommertagen. Wir fuhren zur Bucht, wo die SeeElefanten hausten, oder zur Schwarzen Höhle, die noch größer war als die Höhle, wo ich mein Kanu versteckte, oder hinaus zum Hohen Felsen, wo die Kormorane nisteten. Der Hohe Felsen war etwa eine Meile von der Insel entfernt. Bisweilen schimmerte er schwarz von den vielen Kormoranen, die sich dort niederließen. Das erste Mal, als wir hinfuhren, tötete ich zehn Vögel. Ich häutete sie, nahm sie aus und hängte die Häute zum Trocknen auf, denn ich hatte die Absicht, mir eines Tages einen Rock aus Kormoranfedern zu nähen. Die Schwarze Höhle befand sich an der südlichen Küste der Insel, nahe der Stelle, wo meine Leute die Kanus versteckt hatten. Vor der Höhle ragte eine hohe, von Salzkrautbänken umgebene Felswand aus dem Meer und ich wäre achtlos daran vorbeigepaddelt, hätte ich nicht den Seefalken gesehen, der just in diesem Augenblick hinter dem Felsen hervorkam und davonflatterte. Die Sonne stand schon im Westen und ich hatte einen langen Heimweg vor mir, aber der Seefalke hatte meine Neugier erregt. Ich wollte wissen, woher er gekommen war. Die Öffnung war so klein wie der Höhleneingang unterhalb meines Hauses und Rontu und ich mussten uns bücken, als wir hindurchfuhren. Von draußen drang spärliches Licht herein. Wir befanden uns in einem Raum mit feucht glänzenden schwarzen Wänden und einer hohen, gewölbten Decke. Gegenüber erblickte ich eine zweite Öffnung. Dahinter lag ein langer, stockfinsterer Gang. Ich folgte ihm bis in en nächsten Raum, der größer als der erste und von einem Lichtstrahl erhellt war. Das Licht kam von der Sonne; es fiel durch einen gezackten Riss in der Decke. Rontu bellte, als er den Lichtschein und die huschenden Schatten an den Wänden sah. Dann begann er zu heulen. Sein Geheul brach sich an den Felsen, sodass es klang wie der mörderische Lärm eines Hunderudels. Ein Schauer lief mir über den Rücken. “Sei still!”, rief ich, Rontu bei der Schnauze packend. Meine Stimme hallte hundertfach in dem großen Raum wider. Eilig wendete ich das Kanu und paddelte zurück. Dabei fiel mein Blick auf einen breiten Felsvorsprung, der sich über dem Höhleneingang von einer Seite des Raums bis zur anderen erstreckte. Auf dem Felsvorsprung gewahrte ich eine Reihe seltsamer Gestalten. Es mochten gegen zwei Dutzend sein und sie lehnten steif an ‘der schwarzen Wand. Sie hatten alle ungefähr meine Größe. Ihre Arme und Beine waren lang und an ihren kurzen Leibern, die, wie ich bemerkte, aus Schilfrohr bestanden, hingen Kleider aus Möwenfedern. In ihren Köpfen steckten runde oder ovale Muschelscheiben, doch außer diesen Augen waren die Gesichter leer. Die Augen glitzerten mich an. Sie bewegten sich mit dem Licht auf dem Wasser, das sich in ihnen spiegelte. Sie waren lebendiger als die Augen lebender Menschen. In der Mitte der Gruppe saß eine einzelne Gestalt, ein Skelett. Es saß mit hochgezogenen Knien an der Wand und in den Fingern, die es zum Mund erhoben hatte, hielt es eine Flöte aus Pelikanknochen. Es gab noch andere Dinge da oben auf dem Felsenband, in den Schatten zwischen den stehenden Gestalten, doch ich konnte nicht erkennen, was es war, weil mein Kanu in den Raum zurücktrieb. Als ich wieder auf die Öffnung zusteuerte, sah ich zu meiner Überraschung, dass sie sich inzwischen merklich verengt hatte. Jäh fiel mir die Flut ein. Wir waren bei Ebbe hereingerudert und jetzt konnten wir nicht mehr hinaus. Wir waren in der Höhle gefangen, bis das Wasser wieder sank, eine halbe Nacht lang. Ich paddelte ans andere Ende der Höhle zurück, ohne mich nach den Gestalten auf dem Felsenband und ihren glitzernden Augen umzusehen. Am Boden des Kanus liegend beobachtete ich das sanfte Erlöschen des Lichtes über mir. Der Höhlenausgang wurde zusehends kleiner, bis er schließlich ganz verschwand. Die Nacht brach an. Durch den Riss in der Höhlendecke schimmerte ein Stern. Der Stern entschwand meinen Blicken und ein anderer trat an seine Stelle. Die Flut hob das Kanu immer höher und das Plätschern des Wassers an den Wänden klang wie sanftes Flötenspiel. Die Flöte spielte die ganze Nacht. Ich fand nicht viel Schlaf. Meine Augen folgten den stetig wechselnden Sternen jenseits des Deckenspaltes, während ich an das Skelett dachte, das auf dem Felsen saß und auf seiner Flöte spielte. Ich wusste, dass es einer unserer Vorfahren war. Auch die anderen, die mit den glitzernden Augen, gehörten zu uns, wenngleich sie nur Abbilder unserer Toten waren. Doch trotz dieser beruhigenden Gedanken fürchtete ich mich so sehr, dass ich nicht schlafen konnte. In der ersten Morgendämmerung, als die Ebbe einsetzte, verließen wir die Höhle. Ich warf keinen Blick auf die stillen Gestalten oder auf den Flötenspieler, der für sie spielte. So schnell wie möglich paddelte ich hinaus in die morgenfrische See, ohne mich ein einziges Mal umzusehen. “Diese Höhle muss einst einen Namen gehabt haben”, sagte ich zu Rontu, der sichtlich froh war, dem düsteren Gefängnis entronnen zu sein. “Ich erinnere mich aber nicht, ihn je gehört zu haben. Niemand hat mir von dieser Höhle erzählt. Wir wollen sie die Schwarze Höhle nennen und kein einziges Mal, solange wir leben, dorthin zurückkehren. ” Nach jeder Fahrt zum Hohen Felsen versteckte ich das Kanu in der Höhle unter meinem Haus. Es war ein hartes Stück Arbeit, doch selbst wenn ich am nächsten Tag wieder auszufahren gedachte, zog ich das Kanu jeden Abend aus dem Wasser und stieß und zerrte es auf den Felsvorsprung, wo keiner es sehen konnte. Zwei Sommer waren gekommen und wieder gegangen und die Aleuter hatten sich nicht blicken lassen. Dennoch hielt ich mich ständig zur Flucht bereit. In der Frühe, wenn Rontu und ich über die Klippen wanderten, suchte ich den Ozean nach ihren roten Segeln ab. Die Sommerluft war klar und ich konnte viele Meilen weit sehen. Und wohin wir auch fuhren, nie entfernte ich mich länger als einen halben Tag von der Insel. Auf dem Rückweg hielt ich mich dicht an der Küste und achtete auf alles, was um mich her vorging. Die Aleuter kamen an dem Tag, da wir von unserem letzten Ausflug zum Hohen Felsen zurückkehrten. Ich hatte das Kanu wie immer in der Höhle versteckt und war mit zehn Kormoranhäuten auf dem Rücken die Klippe emporgeklettert. Oben blieb ich eine Weile stehen, um zu verschnaufen. Auf dem Meer schwebten kleine Wolken. Eine davon, die kleinste, schien anders zu sein als die anderen, und als ich sie eine Zeit lang beobachtet hatte, wusste ich, dass es ein Schiff war. Die Abendsonne blendete mich, doch trotz der rot glühenden Leitern, die ihr Widerschein in das gekräuselte Wasser malte, konnte ich alles deutlich sehen. Ich sah zwei Segel und es war ein Schiff, das auf die Insel zukam. Da ich die Farbe der Segel nicht gleich erkennen konnte, kam mir der Gedanke, es könne vielleicht das Schiff der weißen Männer sein. Ich hatte in letzter Zeit selten an sie gedacht und kaum mehr nach ihnen ausgeschaut. Ich hängte die Kormorane an den Zaun und eilte auf die Bergkuppe. Vom Felsblock aus sah ich jedoch fast nichts, da die Sonne jetzt ganz tief stand und das Meer in funkelndes Licht tauchte. Dann fiel mir ein, dass das Schiff der weißen Männer von Osten herkommen würde. Dieses hier kam aus einer anderen Richtung. Es kam aus dem Norden. Obgleich ich noch immer nicht sicher war, dass es den Aleutern gehörte, beschloss ich, die Dinge zu packen, die ich in die Höhle am Schluchtenbach mitnehmen wollte. Es waren eine ganze Menge: meine zwei Vögel, mein neues Kleid, die Steinwerkzeuge, meine Halsperlen und Ohrringe, die Kormoranfedern und alle meine Körbe und Waffen. Da die Abalonen noch nicht trocken waren, musste ich sie zurücklassen. Nachdem ich alles gepackt und neben dem Loch unter dem Zaun bereitgestellt hatte, kehrte ich auf die Bergkuppe zurück. Ich legte mich bäuchlings auf den großen Stein, um von unten nicht gesehen zu werden, und spähte nach Norden. Ich fand das Schiff nicht gleich. Dann erkannte ich, dass es schneller fuhr, als ich gedacht hatte. Es segelte schon um die Salzkrautbank vor den beiden Felsen, welche die Korallenbucht beschützen. Der letzte Sonnenstrahl streifte die roten Segel und den Bug des Schiffes. Der Bug sah aus wie ein Vogelschnabel. Ich wusste, dass die Aleuter in der Dunkelheit nicht an Land kommen würden und dass ich bis zum Morgen Zeit hatte, meine Habseligkeiten in die Höhle zu tragen. Dennoch wartete ich nicht länger. Ich war die halbe Nacht unterwegs, da ich nicht alles auf einmal mitnehmen konnte. Im Morgengrauen, nachdem ich mein Gepäck in der Höhle untergebracht hatte, kehrte ich ein letztes Mal zum Haus zurück. Ich scharrte die Asche in die Erde und streute Sand über die Gestelle und den Boden der Hütte. Dann holte ich die Muschelschalen, mit denen ich die Möwen verscheucht hatte, von den Pflöcken herunter und warf sie zusammen mit der ganzen Abalone-Ernte über die Klippe ins Meer. Zuletzt wischte ich mit einem Pelikanflügel die Spuren meiner Füße fort. Als ich fertig war, sahen das Haus und der Vorplatz verlassen und öde aus, so als hätte hier seit langer Zeit kein Mensch gelebt. Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Ich lief zur Bergkuppe und kletterte auf den Felsblock. Das Schiff lag in der Bucht vor Anker. Kanus brachten Waren an Land. Einige befanden sich schon draußen in den Salzkrautbänken, wo die Jagd auf die Otter begonnen hatte. Am Strand brannte ein Feuer und neben dem Feuer stand ein Mädchen. Es rührte in einem Topf. Ich konnte den Widerschein des Feuers in seinem Haar sehen. Schnell kletterte ich vom Felsblock herunter. Seit ich allein auf der Insel lebte, vor allem aber seit ich die Höhle in der Schlucht wohnlich eingerichtet hatte, war ich stets darauf bedacht gewesen, keine Spuren zu hinterlassen. Aus diesem Grund hatte ich auch keine eigentlichen Pfade angelegt, sondern jedes Mal einen anderen Weg gewählt, wenn ich zur Bucht oder zur Bergkuppe oder in die Schlucht ging. Jetzt folgte ich dem Rand der Klippe bis zum Hügel oberhalb der Schlucht und arbeitete mich dann vorsichtig durch das Gestrüpp zur Quelle hinunter. Wegen Rontu machte ich mir keine Sorgen. Die Aleuter wussten, dass es auf der Insel Hunde gab, und würden an seinen Spuren nichts Besonderes finden. Die Höhle war sehr finster und Rontu ließ sich nur widerstrebend durch die Öffnung zerren. Zuerst musste ich ein paarmal hinein-und wieder herauskriechen, ehe er sich entschloss, mir zu folgen. Als wir beide drinnen waren, schichtete ich Steine vor das Loch. Ich war todmüde, deshalb legte ich mich gleich nieder und schlief den ganzen Tag. Ich schlief, bis die ersten Sterne durch die Felsspalten schimmerten.