Kapitel 15

So weit mein Gedächtnis zurückreichte, hatte es auf der Insel der blauen Delfine wilde Hunde gegeben, doch seit die Aleuter fast alle Männer unseres Stammes erschlagen hatten und seit die Hunde der Toten zu ihren wilden Artgenossen übergelaufen waren, wurde das Rudel immer dreister. In den Nächten, als Ghalasat noch stand, drangen sie bis ins Dorf vor und tagsüber lungerten sie stets in der Nähe herum. Wir hatten damals beschlossen, sie alle umzubringen, doch dann kam das Schiff und unser Stamm verließ die Insel für immer. Wenn das Rudel frecher wurde, so lag dies zweifellos an seinem Anführer, dem großen grauen Hund mit dem dichten Nackenfell und den gelben Augen. Ich hatte diesen Hund früher nie gesehen. Niemand in Ghalasat hatte ihn je gesehen. Wir vermuteten, dass er mit den Aleutern gekommen und von ihnen zurückgelassen worden war, als sie wieder absegelten. Er war viel größer als unsere Hunde, die ein kurzhaariges Fell und braune Augen haben. Wir zweifelten nicht daran, dass er ein Aleuterhund war. Seit Ramos Tod hatte ich insgesamt fünf Hunde getötet, doch es blieben noch viele übrig, ja, ihre Zahl wuchs ständig, weil immer neue Junge zur Welt kamen. Und die Jungen waren noch bösartiger als die alten Hunde. Zuerst vergewisserte ich mich, dass das Rudel sich nicht irgendwo in der Nähe aufhielt. Dann erkletterte ich den Abhang vor der Höhle, suchte einen Haufen Zweige zusammen und schichtete diese vor dem Eingang auf. Dann wartete ich die Rückkehr des Rudels ab. Es wurde Morgen, ehe es von seinem nächtlichen Raubzug heimkehrte und in der Höhle verschwand. Ich nahm den großen Bogen, fünf Pfeile sowie zwei Speere an mich, ging leise um die Höhlenöffnung herum und näherte mich ihr von der anderen Seite. Dort legte ich die Waffen nieder. Ich behielt nur einen der Speere in der Hand. Dann legte ich Feuer an die Zweige. Sie brannten lichterloh. Mit dem Speer stieß ich den brennenden Haufen in den Höhleneingang. Drinnen blieb alles still. Ich hob meine Waffen vom Boden auf und kletterte auf einen Felsblock in der Nähe. Das Feuer knisterte. Eine Rauchwolke drang aus dem Felsen und verzog sich langsam über dem benachbarten Hügel, aber ich wusste, dass der Rauch zum größten Teil in der Höhle hängen blieb und dass die Hunde nun bald das Weite suchen würden. Ich durfte mir nicht zu viel davon versprechen. Mehr als fünf Hunde würde ich kaum töten können, da ich ja nur fünf Pfeile besaß, doch wenn ich Glück hatte und den Anführer zur Strecke brachte, würde ich mit dem Ergebnis zufrieden sein. Dies brachte mich auf einen neuen Gedanken. Ich beschloss, das Erscheinen des Anführers abzuwarten und alle meine Pfeile für ihn aufzuheben. Das Feuer war fast ganz niedergebrannt, ehe sich die ersten Hunde zeigten. Zuerst kamen drei herausgerannt und verschwanden hinter dem Hügel. Ihnen folgten sieben weitere Hunde und gleich darauf nochmals so viele. Ich schätzte, dass der größte Teil des Rudels jedoch immer noch in der Höhle war. Als Nächster kam der Anführer. Im Gegensatz zu den anderen rannte er nicht davon; er sprang vielmehr über den Aschenhaufen und blieb schnuppernd neben dem Eingang stehen. Er stand so nahe, dass ich das Beben seiner Nasenflügel sehen konnte, aber erst, als ich den Bogen in Anschlag brachte, erblickte er mich. Mein Anblick schien ihn nicht zu erschrecken. Er stand mit gespreizten Hinterbeinen, als setze er zum Sprung an, und seine gelben Augen waren schmale Schlitze. Der erste Pfeil traf ihn in die Brust. Er wendete sich um, tat einen Schritt und fiel hin. Ich schoss einen zweiten Pfeil auf ihn ab. Er traf nicht. Im gleichen Augenblick kamen drei Hunde aus der Höhle gelaufen. Ich tötete zwei davon mit den Pfeilen, die mir verblieben waren. Dann kletterte ich, beide Speere in der Hand, vom Felsblock herunter und arbeitete mich durch das Gestrüpp bis zu der Stelle, wo der Anführer hingefallen war. Er lag nicht mehr dort. Während ich mit den anderen Hunden beschäftigt gewesen war, musste er sich davongemacht haben. Mit seiner Wunde konnte er jedoch nicht weit gekommen sein. Ich schaute überall nach, hinter dem Felsblock, auf dem ich gestanden hatte, und vor der Höhle, aber ich fand nirgends eine Spur von ihm. Lange stand ich wartend da. Als sich nichts regte, betrat ich die Höhle. Sie war sehr geräumig und in dem Licht, das durch die Öffnung fiel, konnte ich alles deutlich sehen. Ganz hinten in einem Winkel lag ein toter Fuchs. Neben der halb zerfressenen Leiche hockte eine schwarze Hündin mit vier grauen Welpen. Eines der Jungen wackelte unbeholfen auf mich zu, ein winziges Häuflein Fell, das ich auf einer Hand hätte tragen können. Ich bückte mich nach ihm, doch im gleichen Augenblick sprang die Mutter zähnefletschend auf. Ich hob den Speer, während ich vor ihr zurückwich. Der Anführer war nicht da. Als ich aus der Höhle trat, war es dunkel geworden. Ich ging um den Hügel herum bis zur Klippe, auf einem Pfad, den die wilden Hunde gebahnt hatten. Unterwegs wäre ich beinahe auf den zerbrochenen Schaft eines Pfeils getreten. Ich sah, dass er dicht unterhalb der Spitze abgebissen war und dass er von dem Pfeil stammte, der den Anführer verwundet hatte. Einige Schritte weiter stieß ich auf die Spuren des Hundes. Die Abdrücke seiner Pfoten im Sand wirkten ungleichmäßig; offenbar bewegte sich das Tier nur langsam vorwärts. Ich folgte den Spuren, bis ich sie im Dunkel aus den Augen verlor. An den beiden folgenden Tagen regnete es ununterbrochen. Ich hielt es für zwecklos, bei dem nassen Wetter nach dem Hund zu suchen. Stattdessen fertigte ich mir eine Anzahl neuer Pfeile an. Am dritten Tag begab ich mich mit dem Speer und den neuen Pfeilen wieder auf den Pfad, den die wilden Hunde gebahnt hatten. Der Regen hatte alle Spuren verwischt. Ich folgte dem Pfad bis zum Steinhaufen, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Auf der anderen Seite des Steinhaufens lag der große graue Hund. Der zerbrochene Pfeil steckte noch in seiner Brust. Seine Schnauze ruhte auf den angezogenen Vorderbeinen. Ich näherte mich ihm bis auf etwa zehn Schritte, sodass ich ihn deutlich sehen konnte. Obgleich ich keinen Augenblick zweifelte, dass er tot war, hob ich den Speer und zielte scharf nach ihm. Da hob er plötzlich den Kopf, wenn auch fast unmerklich, und ließ ihn kraftlos wieder fallen. Ich war so überrascht, dass ich eine Weile unschlüssig dastand. Ich wusste nicht, ob ich den Speer oder meinen Bogen gebrauchen sollte. Diesen Tieren durfte man nicht trauen. Sie stellten sich tot und auf einmal fielen sie einen an oder rannten davon. Ich entschied mich für den Bogen. Der Speer hätte sich auf die kurze Entfernung besser zum Töten geeignet, aber ich war noch zu ungeübt im Speerwerfen. Eilends kletterte ich auf den Steinhaufen. Von dort aus hatte ich eine gute Übersicht und der Hund würde mir nicht entgehen, selbst wenn er zu fliehen versuchen sollte. Ich suchte einen sicheren Halt für meine Füße. Für den Notfall legte ich einen zweiten Pfeil bereit. Dann spannte ich die Bogensehne und zielte nach dem Kopf des Hundes. Warum ich den Pfeil nicht abschoss, vermag ich nicht zu sagen. Ich stand auf dem Steinhaufen, der Bogen war gespannt und meine Hand wollte den Pfeil nicht loslassen. Der große Hund lag unter mir am Fuß des Steinhügels. Er bewegte sich nicht. Und dies ist vielleicht der Grund, weshalb ich ihn nicht tötete. Wäre er aufgestanden, so hätte ich ihn auf der Stelle umgebracht. Lange stand ich auf dem Steinhaufen und schaute auf den Hund hinunter. Dann ließ ich den Bogen sinken. Er rührte sich nicht, als ich auf ihn zuging. Ich wusste nicht einmal, ob er noch atmete, als ich mich über ihn beugte. Die Pfeilspitze steckte in seiner Brust und am zerbrochenen Schaft klebte Blut. Das dicke Nackenfell tropfte von Nässe. Ich glaubte nicht, dass er es spürte, als ich ihn aufhob, denn sein Körper war schlaff wie der eines eben verendeten Tieres. Er war sehr schwer. Um ihn zu heben, musste ich in die Knie gehen und seine Beine über meine Schultern legen. So trug ich ihn nach Hause. Der Weg erschien mir endlos lang, denn ich musste immer wieder stehen bleiben, um Atem zu schöpfen. Am Zaun angekommen stellte ich fest, dass ich den Hund unmöglich durch die enge Öffnung bringen würde. Ich schnitt daher ein Stück des Netzes heraus und riss zwei Walrippen aus dem Boden, um einen anderen Durchgang zu schaffen. Auf diese Weise brachte ich den Hund ins Haus. Er sah mich nicht an, er hob nicht einmal den Kopf, als ich ihn auf den Boden legte doch er atmete mit offenem Maul. Ein Glück, dass der Pfeil nur eine kleine Spitze hatte. Ich zog ihn mühelos heraus, obwohl er tief ins Fleisch gedrungen war. Der Hund regte sich nicht. Er zuckte auch nicht zusammen, während ich die Wunde mit dem geschälten Zweig eines Korallenbusches reinigte. Die Beeren dieses Busches sind giftig, aber sein Holz heilt viele Wunden, denen anders nicht beizukommen ist. Seit Tagen hatte ich nicht mehr nach Nahrung gesucht und die Körbe waren leer. Ich ließ Wasser für den Hund zurück, und nachdem ich den Zaun wieder geflickt hatte, ging ich hinunter ans Meer. Ich glaubte nicht, dass der Hund noch lange leben würde, aber es war mir gleichgültig. Einen ganzen Tag lang kletterte ich zwischen den Küstenfelsen umher und las Muscheln von den Steinen und nur ein einziges Mal dachte ich an den verwundeten Hund, meinen Feind, der in meinem Hause lag. Ich fragte mich, warum ich ihn nicht getötet hatte. Er lebte immer noch, als ich zurückkehrte, aber er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Wieder reinigte ich die Wunde mit einem Korallenzweig. Dann hob ich seinen Kopf und goss ihm Wasser ins Maul. Er schluckte. Und dann sah er mich an, zum ersten Mal, seit ich ihn auf dem Pfad gefunden hatte. Seine Augen waren eingesunken. Sie schienen mich von weit hinten her anzuschauen. Vor dem Schlafengehen gab ich ihm nochmals frisches Wasser zu trinken. Am Morgen, ehe ich ans Meer ging, legte ich Futter für ihn bereit, und als ich nach Hause kam, sah ich, dass er alles gefressen hatte. Er lag in einer Ecke. Er beobachtete mich, während ich Feuer machte und mein Nachtmahl zubereitete. Seine gelben Augen folgten mir, wo ich ging und stand. In jener Nacht schlief ich oben auf dem Felsen, weil ich mich vor ihm fürchtete. Tags darauf ließ ich beim Fortgehen das Loch im Zaun für ihn offen, aber abends war er immer noch da. Er lag in der Sonne, den Kopf zwischen die Vorderpfoten gebettet. Ich hatte mir zum Abendbrot zwei Fische gefangen, die ich am Speer aufgespießt nach Hause trug. Da der Hund sehr mager war, teilte ich die Beute mit ihm, und nachdem er seinen Fisch verzehrt hatte, kam er zu mir ans Feuer, legte sich nieder und schaute mich mit seinen gelben Augen an. Es waren ganz schmale Augen und sie standen ein bisschen schräg. Vier Nächte verbrachte ich auf dem Felsen und jeden Morgen ließ ich das Loch unter dem Zaun unversperrt, damit er fortgehen konnte. Jeden Tag tötete ich einen Fisch für ihn und jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, stand er hinter dem Zaun und wartete auf sein Fressen. Solange ich den Fisch in der Hand hielt, rührte er ihn nicht an; zuerst musste ich ihn auf den Boden legen. Einmal streckte ich die Hand nach ihm aus, doch er wich gleich zurück und fletschte die Zähne. Am vierten Tag kehrte ich früher als gewöhnlich von der Küste zurück. Der Hund stand nicht hinter dem Zaun. Ein eigentümliches Gefühl überkam mich. Bis zu diesem Tage hatte ich immer gehofft, er werde nicht mehr da sein, wenn ich abends nach Hause kam, doch jetzt, als ich unter dem Zaun durchkroch, war alles anders. Ich rief: “Hund, Hund!” Ich hatte keinen anderen Namen für ihn. Rufend lief ich zum Haus. Er lag drinnen auf dem Boden, war jedoch im Begriff aufzustehen, denn er reckte sich und gähnte. Zuerst schaute er auf den Fisch in meiner Hand, dann blickte er zu mir auf und wedelte mit dem Schwanz. Von da an schlief ich wieder im Haus. Ich dachte mir auch einen Namen für ihn aus, weil ich ihn nicht länger einfach “Hund” nennen wollte. Der Name, der mir einfiel, war Rontu, was in unserer Sprache Fuchsauge bedeutet.