Kapitel 2

An jenem Morgen begannen Kapitän Orloff und seine Aleuterjäger, sich auf der Insel häuslich einzurichten. Ihre Kanus pendelten stundenlang zwischen dem Schiff und der Korallenbucht hin und her. Da der Strand klein war und bei Flut fast ganz unter Wasser stand, fragte der Russe, ob er seine Zelte weiter oben aufschlagen dürfe. Mein Vater erlaubte es ihm. Es ist jetzt wohl an der Zeit, dass ich euch von unserer Insel erzähle, damit ihr wisst, wie sie aussieht, wo unser Dorf stand und wo die Aleuter mehr als einen halben Sommer lang hausten. Unsere Insel ist zwei Seemeilen lang und eine Meile breit. Stand man auf einem der Hügel, die sich in ihrer Mitte erheben, dann musste man an einen Fisch denken. Sie sah aus wie ein Delfin, der auf der Seite liegt. Der Schwanz des Delfins zeigte nach der aufgehenden Sonne, seine Nase nach der untergehenden Sonne und seine Flossen waren die Riffe und zackigen Felsen längs der Küste. Ob in den Tagen, da die Erde noch neu war, wirklich ein Mensch auf einem dieser Hügel stand und sah, dass die Insel die Gestalt eines Delfins hatte, und ob er ihr deshalb ihren Namen gab, weiß ich nicht. In unseren Gewässern leben viele Delfine und auch das könnte der Grund sein, weshalb die Insel so heißt. Ich glaube, das Erste, was ihr auf unserer Insel bemerken würdet, wäre der Wind. Er weht hier fast immer. Manchmal kommt er aus Nordwest, manchmal aus Ost, hier und da auch aus dem Süden. Sanft ist nur der Südwind; alle anderen Winde fegen heftig über die Insel. Deshalb sind die Hügel so blank gescheuert und die Bäume so klein und krumm, sogar in der Schlucht, die zur Korallenbucht hinunterführt. Das Dorf Ghalasat liegt an der Ostseite der Hügel, auf einer kleinen Ebene gleich oberhalb der Korallenbucht und in der Nähe einer Quelle. Etwa eine halbe Seemeile weiter nördlich sprudelt eine zweite Quelle und dort schlugen die Aleuter ihre Zelte auf. Diese waren aus Tierhäuten angefertigt und so niedrig, dass die Männer auf dem Bauch hineinkriechen mussten. Wenn es dunkelte, konnten wir den Schein ihrer Lagerfeuer sehen. Am ersten Abend warnte mein Vater alle Dorfbewohner von Ghalasat davor, das Lager zu betreten. “Die Aleuter kommen aus einem Land im fernen Norden”, sagte er. “Ihre Art ist nicht unsere Art, ihre Sprache nicht unsere Sprache. Sie sind gekommen, um Otter zu jagen, und sie werden uns den Anteil, der uns zusteht, mit Dingen bezahlen, die sie besitzen und die wir brauchen können. So werden wir einen Gewinn von ihnen haben. Wir werden aber keinen Gewinn von ihnen haben, wenn wir ihre Freundschaft suchen. Sie sind Menschen, die nicht wissen, was Freundschaft ist. Es sind nicht dieselben, die schon einmal hier waren, aber sie gehören dem gleichen Stamm an, der uns vor vielen Jahren großes Unheil brachte. ” Die warnenden Worte meines Vaters wurden beherzigt. Wir gingen nicht ins Lager der Aleuter und sie kamen nicht in unser Dorf. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, wir hätten nicht gewusst, was sie taten - was sie aßen und wie sie ihre Mahlzeiten zubereiteten und wie viele Otter sie jeden Tag erlegten und noch manches andere, denn immer hielt jemand Wache und beobachtete sie. Wenn sie jagten, stand einer von uns auf den Klippen; wenn sie ins Lager zurückkehrten, bezogen die Späher ihren Posten in der Schlucht. Mein Bruder Ramo wusste immer etwas Neues zu berichten. “Am Morgen”, sagte er, “wenn Kapitän Orloff aus seinem Zelt kriecht, setzt er sich auf einen Stein und kämmt sich den Bart, bis er glänzt wie der Flügel eines Kormorans. ” Meine Schwester Ulape, die zwei Jahre älter war als ich, brachte die sonderbarste Neuigkeit nach Hause. Sie könne beschwören, sagte sie, dass die Jäger ein Aleutermädchen bei sich hätten. “Sie hat ein Kleid aus Häuten an, genau wie die Männer”, sagte Ulape. “Aber sie trägt eine Pelzmütze und unter der Mütze hat sie eine Menge Haar. Es reicht ihr bis zum Gürtel. ” Keiner glaubte ihr. Alles lachte beim Gedanken, dass es Jägern einfallen könnte, ihre Frauen mitzunehmen: Auch die Aleuter beobachteten unser Dorf; wie hätten sie sonst von dem Glück erfahren, das uns bald nach ihrer Ankunft beschieden wurde? Mit diesem Glück verhielt es sich so: Wenn es Frühling wird, ist mit dem Fischfang nicht viel auszurichten. Die Hochflut und die Winterwinde treiben die Fische ins tiefe Wasser, wo sie bleiben, bis das warme Wetter anhält. In dieser Zeit lassen sie sich nur mit Mühe fangen und im Dorf gibt es wenig zu essen. Die Bewohner leben zur Hauptsache von ihren Vorräten an Saatkörnern. Die frohe Nachricht erreichte uns an einem stürmischen Nachmittag. Ulape, die nie müßig war, überbrachte sie uns. Sie war ans östliche Ende der Insel gegangen, um Muscheln zu sammeln. Als sie auf dem Heimweg eine Klippe erklomm, hörte sie einen sonderbaren Lärm. Erst wusste sie nicht, was dieses Geräusch bedeutete. Sie glaubte, es sei das Echo des Windes in einer Felsenhöhle, und sie wollte schon weiterklettern, als sie die silbernen Gestalten in der Tiefe erblickte. Die Gestalten bewegten sich und Ulape sah, dass es ein Rudel riesiger Bassbarsche war. Jeder Barsch mochte etwa so groß sein wie sie. Verfolgt von räuberischen Walen, hatten die Barsche in der Richtung der Küste zu entkommen versucht. In ihrer Todesangst aber hatten sie die Wassertiefe falsch eingeschätzt und waren an das felsige Uferband geschleudert worden. Ulape ließ ihren Muschelkorb fallen und lief ins Dorf, wo sie so atemlos eintraf, dass sie nur noch mit der Hand auf die Küste deuten konnte. Die Frauen, die eben mit Kochen beschäftigt waren, kamen aus ihren Hütten, umringten meine Schwester und warteten, bis sie wieder genügend Atem fand, um zu sprechen. “Weiße Barsche, ein ganzes Rudel”, stieß Ulape endlich hervor. “Wo? Wo?”, fragten alle. “Auf den Küstenfelsen. Mindestens ein Dutzend, vielleicht sogar mehr. ” Ehe Ulape zu Ende gesprochen hatte, liefen wir schon auf die Klippen zu. Wir hofften inständig, dass wir nicht zu spät kommen würden, dass die Fische nicht ins Meer zurückgeschwemmt oder von einer Welle hinuntergespült worden wären. Von der Klippe aus schauten wir hinab in die Bucht. Die weißen Barsche waren immer noch auf dem Felsenabsatz versammelt, sie glitzerten in der Sonne. Doch die Flut stand hoch und die größten Wellen leckten schon nach den Fischen. Wir zerrten einen um den anderen Fisch von der Stelle, wo die Flut sie erreichen konnte. Dann schleppten wir sie auf die Klippe, wobei je zwei Frauen einen Fisch trugen, alle Fische waren ungefähr gleich groß und gleich schwer. Von dort brachten wir die Beute nach Hause. An diesem und am folgenden Abend konnte sich jeder Angehörige unseres Stammes wieder einmal satt essen, doch am dritten Tag kamen zwei Aleuter ins Dorf und verlangten meinen Vater zu sprechen. “Ihr habt Fische”, sagte der eine. “Gerade genug für meine Leute”, antwortete mein Vater. “Ihr habt vierzehn Fische”, sagte der Aleuter. “Jetzt noch sieben, weil wir sieben gegessen haben. ” “Zwei von den sieben Fischen könnt ihr entbehren. ” “In eurem Lager sind vierzig Leute”, erwiderte mein Vater. “Bei uns sind es mehr. Und ihr habt eure eigenen Fische mitgebracht, getrocknete Fische für vierzig Leute. ” “Sie sind uns verleidet”, antwortete der Aleuter. Er war ein Mann von kleiner Gestalt. Er reichte meinem Vater nur bis zur Schulter und er hatte kleine Augen wie schwarze Kiesel und einen Mund wie die Klinge eines Steinmessers. Der andere Aleuter sah ihm sehr ähnlich. “Ihr seid Jäger”, sagte mein Vater. “Geht und fangt euren eigenen Fisch, wenn ihr doch das, was ihr jetzt esst, satthabt. Ich muss an meine Leute denken. ” “Kapitän Orloff wird erfahren, dass ihr euch weigert, eure Fische mit uns zu teilen. ” “Ja, sagt es ihm”, gab mein Vater zurück. “Aber sagt ihm auch, warum wir uns weigern. ” Der Aleuter raunte seinem Gefährten etwas zu, dann stelzten beide auf ihren kurzen Beinen davon, quer durch die Sanddünen, die unser Dorf von ihrem Lager trennten. Am Abend aßen wir alles auf, was von dem Rudel weißer Barsche übrig geblieben war, und es war ein großes Fest. Wie hätten wir wissen können, als wir da so fröhlich aßen und sangen, den Geschichten der alten Männer lauschten und uns des Glückes freuten, das uns so unvermutet in den Schoß gefallen ar - wie hätten wir wissen können, dass dieses Glück bald so viel Leid über das Dorf Ghalasat bringen würde?