Kapitel 10

Der Sommer ist die beste Zeit auf der Insel der blauen Delfine. Die Sonne scheint am wärmsten und die Winde wehen sanfter, bisweilen aus dem Westen, manchmal aus dem Süden. Das Schiff konnte nun jeden Tag zurückkommen. Ich verbrachte diese Zeit meist auf dem Felsblock, den Blick nach Osten gerichtet, nach der Richtung, wo das Land lag, das meine Leute aufgesucht hatten. Ich schaute und schaute hinaus aufs Meer, das nirgends ein Ende nahm. Einmal sah ich in der Ferne etwas, das ich für ein Schiff hielt. Aber ich täuschte mich. Ein Wasserstrahl schoss in die Luft, ich wusste, dass es ein Walfisch war. Außer diesem Walfisch gab es in jenem Sommer nichts mehr zu sehen. Mit dem ersten Wintersturm hörte die Hoffnung auf. Wenn das Schiff der weißen Männer nach mir ausgeschickt worden wäre, so hätte es in der guten Jahreszeit kommen müssen. Jetzt blieb mir nichts übrig, als zu warten, bis der Winter vorbei war. Wer weiß, vielleicht dauerte es noch länger. Mit einem Mal fühlte ich mich sehr verlassen. Ich dachte daran, wie viele Sonnen über dem Meer aufund niedergehen würden, während ich mutterseelenallein auf dieser Insel lebte. Es war ein ganz neues und beängstigendes Gefühl. Bisher hatte ich ja stets gehofft, das Schiff werde irgendwann zurückkommen, wie Matasaip gesagt hatte. Jetzt musste ich diese Hoffnung begraben. Ich war allein. Allein. Ich aß wenig, und wenn ich schlief, träumte ich von schrecklichen Dingen. Der Sturm kam aus dem Norden. Er warf mächtige Wellen gegen die Insel und die Winde waren so stark, dass ich nicht länger auf dem Felsen schlafen konnte. Ich nahm meine Seegrasbündel und schichtete sie am Fuße des Steinblocks auf. Und damit die wilden Hunde mich in Ruhe ließen, zündete ich ein Feuer an, das die ganze Nacht hindurch brannte. So verbrachte ich fünf Nächte. In der ersten Nacht kamen die wilden Hunde nahe an den Lichtkreis, den das Feuer in die Dunkelheit warf, heran. Ich tötete drei mit meinen Pfeilen, doch der Anführer war nicht unter ihnen. Danach blieb es ruhig. Am sechsten Tag, als der Sturm abflaute, ging ich zu der Stelle, wo wir die Kanus versteckt hatten, und ließ mich am Seil über die Klippenwand hinuntergleiten. Dieser Teil der Küste war vor dem Wind geschützt. Die Kanus lagen noch genau so da, wie wir sie zurückgelassen hatten. Die getrockneten Abalonen waren in gutem Zustand. Ich leerte die Körbe mit dem schal gewordenen Trinkwasser und kehrte damit zur Quelle zurück, wo ich sie mit frischem Wasser füllte. Während des Sturms hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte mir ein Kanu nehmen und nach dem Land fahren, das im Osten lag. Auf dem Weg zur Quelle fiel mir ein, wie Kimki mit seinen toten Ahnen gesprochen und sie um Rat gefragt hatte, ehe er sich auf die große Reise machte. Kimkis Ahnen waren vor vielen Menschenaltern von jenem Land im Osten her übers Meer gekommen. Er hatte auch Zuma, den Medizinmann, der Macht besaß über den Wind und die Meere, um Rat gefragt. Ich konnte weder das eine noch das andere tun. Zuma war im Kampf mit den Aleutern gefallen, und was die Toten betraf, so hatte ich es nie fertiggebracht, mit ihnen zu reden, wenngleich ich es immer wieder versuchte. Dennoch wäre es falsch zu sagen, ich hätte Angst gehabt, als ich dort an der Küste stand. Meine Vorfahren hatten in ihren Kanus das Meer überquert, von dem Land hinter dem Horizont bis hierher zur Insel. Auch Kimki war übers Meer gefahren. Von Kanus verstand ich zwar nicht halb so viel wie jene Männer, aber ich muss gestehen, dass mir nicht ernstlich bangte vor den Dingen, die mir auf meiner Fahrt zustoßen konnten. Alles war leichter zu ertragen als dieses Alleinsein auf der Insel, ohne Familie, ohne Gefährten, von wilden Hunden bedroht und, wo ich ging und stand, verfolgt von der Erinnerung an die, die gestorben oder die fortgegangen waren. Vier Kanus lehnten an der Klippe. Ich suchte mir das kleinste aus. Es war immer noch schwer genug, denn es war für sechs Personen gebaut. Als Erstes musste ich das Kanu über die Geröllhalde ins Wasser schieben, vier bis fünf Kanulängen weit. Zu diesem Zweck räumte ich alle großen Steine zwischen dem Kanu und dem Wasser weg. Die Löcher füllte ich mit Kieseln und den so entstandenen Pfad bedeckte ich mit langen Streifen von nassem Salzkraut, das eine glitschige Oberfläche bildete. Die Halde fiel ziemlich steil ab, und nachdem ich das Kanu einmal in Bewegung gebracht hatte, glitt es, von seinem eigenen Gewicht getrieben, über das Salzkraut hinunter ins Wasser. Die Sonne stand schon im Westen, als ich in meinem Boot von der Küste abstieß. Das Meer lag ruhig jenseits der hohen Klippen. Mit meinem Paddel, das an beiden Enden mit einem Ruderblatt versehen war, trieb ich das Kanu leicht und schnell an der Südseite der Insel entlang, doch kaum hatte ich die Landzunge erreicht, schlug mir der Wind entgegen. Ich kniete beim Paddeln im hinteren Teil des Kanus, um schneller vorwärts zukommen, aber der Wind zwang mich, meinen Platz zu wechseln. In der Mitte des Kanus kauernd, paddelte ich daraufhin mit aller Kraft weiter, bis ich die reißende Strömung an der Landzunge hinter mir hatte. Allmählich ebbte die Gischt ab, und als ich ins offene Meer hinauskam, wogte das Wasser in flachen, gleichmäßigen Wellen unter mir. Hätte ich mich, um meine Kräfte zu schonen, von diesen Wellen treiben lassen, so wäre ich von meinem Kurs nach Osten abgekommen; deshalb ließ ich sie von links an mir vorüberrollen, auf die Insel zu, die jetzt hinter mir immer kleiner wurde. Als die Sonne im Meer versank, schaute ich zurück. Die Insel der blauen Delfine war verschwunden. Angst kroch in mir hoch. Rings um mich gab es nur noch Hügel und Täler aus Wasser. Wenn ich in eines der Täler sank, konnte ich überhaupt nichts mehr sehen, und wenn das Kanu wieder auftauchte, war nur der weite, endlose Ozean da. Die Nacht brach herein. Ich trank aus meinem Korb und das Wasser kühlte meine Kehle. Das Meer war so schwarz, dass ich es nicht mehr vom Himmel unterscheiden konnte. Ich hörte keinen Laut außer dem glucksenden Geräusch der Wellen, wenn sie den Boden meines Kanus streiften oder gegen die Bootswand schlugen. Bisweilen klang es zornig, dann wieder wie das Lachen eines Menschen. Hunger hatte ich nicht, meine Angst war zu groß. Beim Anblick des ersten Sterns wurde mir leichter ums Herz. Er blinkte tief im Osten, genau vor mir, am Himmel auf. Nach und nach kamen überall andere Sterne zum Vorschein, aber ich hielt die Augen auf den ersten gerichtet. Er stand in dem Sternbild, das wir die Schlange nennen, er leuchtete grün und ich kannte ihn. Ab und zu verkroch er sich im Dunst, doch nur für kurze Zeit, und jedes Mal tauchte er umso strahlender wieder auf. Ohne den Stern hätte ich mich hoffnungslos verirrt, denn die Wellen bewegten sich hartnäckig in der gleichen Richtung; sie rollten seitlich auf mich zu, sodass das Kanu ständig von seinem Kurs nach Osten abgetrieben wurde. Seine Spur in dem schwarzen Wasser glich einer sich windenden Schlange. Ich weiß nicht, wie ich es fertigbrachte, dass das Kanu dennoch ständig auf den Stern zuhielt. Als dieser höher stieg, begann ich mich nach dem Nordstern zu meiner Linken zu richten. Wir nennen ihn den “Stern, der sich nicht bewegt”. Nach einer Weile ließ der Wind nach. Das bedeutete, dass die erste Hälfte der Nacht vorbei war. Ich wusste jetzt auch, wie lange ich schon unterwegs war und wie lange es dauerte, bis der neue Tag anbrach. Etwa um die gleiche Zeit entdeckte ich das Leck. Ich hatte, ehe es dunkel wurde, einen meiner Esskörbe geleert, um damit Wasser aus dem Boot zu schöpfen, falls sich dies als notwendig erwies. Es konnte bisweilen geschehen, dass eine Welle über den Bootsrand schlug. Das Wasser, das jetzt um meine Beine plätscherte, kam jedoch nicht von solchen Wellen, es musste von unten her ins Boot gedrungen sein. Ich legte das Paddel beiseite und schöpfte so lange, bis der Boden des Kanus fast trocken war. Dann tastete ich im Dunkel über die Planken und fand die Stelle dicht am Bug, ein Riss, so groß wie meine Hand und etwa einen Finger breit. Dieser Teil des Kanus ragte zwar beim Fahren meist über die Wasserfläche hinaus, bisweilen aber tauchte er in einer Welle unter und dann drang jedes Mal ein gurgelnder Schwall herein. Die Spalten zwischen den Planken waren mit schwarzem Pech gefüllt, das wir am Strand zu sammeln pflegten. Ich hatte natürlich kein Pech bei mir, weshalb ich eine Handvoll Fasern aus meinem Rock riss und das Loch damit zustopfte. Am Morgen war der Himmel klar. Ich sah, wie die Sonne weit drüben zu meiner Linken aus den Wellen tauchte. Ich musste also trotz aller Anstrengungen von meinem Kurs abgekommen sein. Schnell änderte ich die Richtung und paddelte auf dem glitzernden Pfad, den die Morgensonne ins Meer malte, weiter. Der Wind regte sich nicht. Die lang gezogenen Wellen schoben sich gemächlich an meinem Kanu vorüber. Ich kam jetzt bedeutend rascher voran als in der vergangenen Nacht. Zum ersten Mal, seit ich die Insel verlassen hatte, empfand ich wieder eine Art von Zuversicht. Wenn das gute Wetter anhielt, würde ich bis zum Abend viele Meilen zurücklegen können, obschon ich sehr müde war. Noch eine Nacht, dachte ich, vielleicht noch ein Tag und dann kommt die Küste in Sicht, wo meine Reise endet. Beim Weiterpaddeln dachte ich an das fremde Land. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es dort sein würde. Doch mitten in meinen Gedanken merkte ich, wie sich das Kanu wieder mit Wasser zu füllen begann. Das neue Leck befand sich zwischen den gleichen Planken wie das erste, war jedoch größer und nahe der Stelle, wo ich kauerte. Wieder zerrte ich Fasern aus meinem Rock und stopfte sie in den Riss. Damit ließ sich zumindest verhindern, dass bei jeder Bewegung des Kanus ein Wasserstrahl hereinschoss. Inzwischen aber hatte ich entdeckt, dass die Planken, wohl weil das Kanu so lange an der Sonne gelegen hatte, der ganzen Länge nach morsch waren und dass das Holz von einem Ende bis zum anderen zersplittern konnte, sobald die Wellen stärker wurden. Weiterrudern war gefährlich, so viel stand jetzt fest. Die Fahrt konnte noch zwei Tage, vielleicht sogar länger dauern, während es bis zur Insel zurück nicht halb so weit war. Dennoch konnte ich mich nicht gleich zur Umkehr entschließen. Das Meer bewegte sich kaum und ich hatte schon so viele Meilen zurückgelegt. Sollte alles umsonst gewesen sein? Der Gedanke war unerträglich. Aber noch mehr bedrückte mich die Vorstellung von der verlassenen Insel, die mich erwartete. Wie lange würde ich dort einsam und vergessen hausen müssen? Wie viele Sonnen und Monde würden vergehen, ehe jemand sich meiner erinnerte? Ich wagte nicht, daran zu denken. Unterdessen trieb das Kanu mäßig auf dem Meer dahin. Erst als ich sah, wie das Wasser von Neuem durch das Leck zu sickern begann, griff ich wieder nach dem Paddel. Es blieb mir keine andere Wahl, als zur Insel zurückzufahren. Und ich wusste, dass ich sie nur mit sehr viel Glück erreichen würde. Der Wind erhob sich, als die Sonne über mir stand. Inzwischen aber hatte ich schon eine ordentliche Strecke zurückgelegt und das Paddel nur losgelassen, um das eindringende Wasser aus dem Kanu zu schöpfen. Da der Wind aus der Gegenrichtung kam, musste ich meine Anstrengungen verdoppeln. Ich musste auch häufiger anhalten, weil das Wasser von allen Seiten ins Kanu spritzte. Immerhin, das Leck vergrößerte sich nicht, was ich für ein gutes Omen hielt. Das zweite gute Omen waren die Delfine. Sie schwammen in einem großen Schwarm vom Westen her auf das Kanu zu, schwenkten dann plötzlich ab und begannen mir zu folgen. Sie schwammen so nahe hinter mir her, dass ich ihre Augen sehen konnte, große Augen, grünblau wie das Meer. Nach einer Weile bewegte sich der ganze Schwarm am Kanu vorbei nach vorn. Vor der Bugspitze schwammen alle durcheinander, hin und her und auf und ab; es sah aus, als webten sie mit ihren breiten Schnauzen an einem Streifen Tuch. Delfine bringen Glück. Ich war sehr froh, dass sie mich begleiteten. Meine Hände bluteten von dem beständigen Scheuern des Paddels, doch der Anblick der munteren Tiere ließ mich alle Schmerzen vergessen. Eben noch hatte ich mich einsam und elend gefühlt; jetzt spürte ich, dass ich von Freunden umgeben war, und mir wurde gleich besser. Die blauen Delfine folgten mir, bis die Sonne unterging. Dann verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren, wieder zurück gegen Westen, doch in den letzten Strahlen der Sonne konnte ich ihre Leiber noch lange glitzern sehen. Und auch als die Dunkelheit längst hereingebrochen war, sah ich sie noch immer in meinen Gedanken, und dies war der Grund, weshalb ich mit aller Kraft weiterpaddelte, obgleich ich mich am liebsten hingelegt und geschlafen hätte. Mehr als alles andere waren es die blauen Delfine, denen ich meine glückliche Heimkehr verdankte. In der Nacht senkte sich der Nebel über das Meer, doch von Zeit zu Zeit blitzte hoch im Westen der rote Stern auf, den wir Magat nennen. Sein Sternbild sieht aus wie ein Krebs, dessen Namen es trägt. Ich musste oft anhalten, weil sich der Riss in den Planken zusehends verbreiterte. Ich stopfte Fasern hinein, schöpfte Wasser aus dem Kanu und dabei ging viel Zeit verloren. Die Nacht war lang, länger als die erste. Zweimal schlummerte ich auf den Knien im Kanu ein, obwohl meine Angst jetzt größer war denn je. Als endlich der Morgen graute, tauchten vor mir unter dem klaren Himmel die Umrisse der Insel auf. Von Weitem sah die Insel aus wie ein großer Fisch, der sich auf dem. Meer sonnt. Der Tag war noch jung, als ich die Küste erreichte. Die Strömung an der Südspitze trug mich an Land. Meine Beine waren von dem langen Knien steif geworden, und als das Kanu im Sand auflief, fiel ich der Länge nach hin. Nur mit Mühe kam ich wieder auf die Füße. Ich kletterte aus dem Kanu und kroch durch das seichte Wasser zum Strand. Dort lag ich lange Zeit. Ich fand es herrlich, wieder festen Boden unter mir zu spüren. Bald fiel ich in einen tiefen Schlaf.