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In meinem neuen Viertel steht eine Statue. Genau die gleiche wie in New York, ich hab’s im Fernsehen gesehen. Gut, sie mag etwas kleiner sein, aber ich bin sechs Jahre alt, ein Winzling, sie kommt mir so oder so riesengroß vor: Es ist eine Frau, nur mit einem Laken bedeckt, sie streckt eine Flamme zum Himmel empor, auf dem Kopf trägt sie eine komische Dornenkrone. Inzwischen wohne ich in einer Cité, einer Neubausiedlung im XV. Arrondissement. Schluss mit dem öden, winzigen Apartment im alten Paris, jetzt sind wir Bewohner von Beaugrenelle, einem ganz neuen Viertel voller Hochhäuser, wie in Amerika! Die Sellous haben im ersten Stock eines siebenstöckigen Gebäudes ohne Fahrstuhl, dafür aus rotem Backstein, eine Wohnung ergattert. Das Leben hier ist wie in den anderen Cités, ob Saint-Denis, Montfermeil oder Créteil. Aber mit Blick auf den Eiffelturm. So oder so betrachte ich mich als Jungen aus der Vorstadt, aus der Banlieue.
Am Rand der Siedlung wurde ein riesiges Einkaufszentrum errichtet, dort findet man alles, man braucht nur hinzugehen und sich zu bedienen. Wirklich, wie für mich gemacht.
An der Supermarktkasse hängen die Plastiktüten in Reichweite meiner kleinen Hand. Gleich daneben befinden sich die Ständer mit den ganzen Süßigkeiten und anderem Schnickschnack. Mir gefallen besonders die PEZ-Spender, die aussehen wie ein Feuerzeug mit dem Kopf einer Zeichentrickfigur: Man knipst den Spender auf und das rechteckige Bonbon springt heraus, man braucht es sich nur noch auf der Zunge zergehen zu lassen. Bald habe ich eine beeindruckende Sammlung angehäuft. Abends reihe ich die Helden meiner Lieblingscomics akkurat auf. Mein Bruder, der alte Spiel-und-Spaß-Verderber, stellt Fragen:
»Wo hast du diesen Panzerknacker-PEZ her, Abdel Yamine?«
»Hab ich geschenkt bekommen.«
»Glaub ich dir nicht.«
»Halt’s Maul, oder du fängst dir eine.«
Er fügt sich.
Ich mag auch die klitzekleinen Schiffe, U-Boote und Autos für die Badewanne, man zieht sie mit einer seitlichen Kurbel auf, und schon schwimmen sie los. Damit fülle ich immer wieder ganze Tüten. Und das geht so: Zunächst betrete ich den Laden wie alle anderen Leute, die dort einkaufen wollen, öffne einen Beutel, treffe meine Auswahl, stecke das Gewünschte ein und begebe mich zum Ausgang. Eines Tages werde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass ich offenbar einen wichtigen Schritt ausgelassen habe. Der Supermarktleiter ist der Meinung, ich hätte damit zur Kasse gehen müssen.
»Hast du Geld dabei?«
»Wozu?«
»Um das zu bezahlen, was du dir gerade genommen hast!«
»Was hab ich denn genommen? Ach, das? Dafür muss man zahlen? Das konnt ich doch nicht wissen. Lassen Sie mich los, mir tut der Arm weh!«
»Was ist mit deiner Mutter, wo ist sie?«
»Weiß nicht, wahrscheinlich zu Hause.«
»Und wo ist dein Zuhause?«
»Weiß nicht genau.«
»Na gut. Wenn du dich so bockig anstellst, bringe ich dich zur Wache.«
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Meint er die Feuerwache? Gleich neben der Post, dort war ich schon, Amina hat mich mitgenommen, um Briefmarken zu kaufen oder eine Telefonkabine zu mieten und die Cousinen in Algerien anzurufen. Was hat das mit den PEZ-Spendern zu tun? Da fällt mir ein, klar, auf der Post bekommt man auch Geld. Man gibt ein Stück Papier am Schalter ab, darauf stehen Zahlen und eine Unterschrift, und im Gegenzug holt die Dame Hundert-Franc-Scheine aus einem kleinen Kasten. Ich blicke zum Supermarktleiter auf, der meine Hand festhält, das kann ich nicht leiden.
»Monsieur, das bringt nichts. Ich kann Sie nicht bezahlen, mir fehlt das Papier!«
Er sieht mich entgeistert an. Er scheint nicht zu kapieren.
»Was erzählst du denn da? Die Polizisten werden das schon regeln, keine Sorge.«
Was für ’n Blödmann. Dort gibt es doch keine Polizisten, und selbst wenn, würden die wohl kaum meine Bonbons bezahlen …
Wir betreten eine Eingangshalle, die ganz in Grau gehalten ist. Das muss eine andere Post sein. Ein paar Leute sitzen auf Stühlen, die an der Wand aufgereiht sind, ein Mann in dunkelblauer Uniform starrt uns hinter seinem Schreibtisch an. Der Supermarktleiter sagt nicht mal guten Tag. Er kommt gleich zur Sache.
»Herr Wachtmeister, hier ist ein junger Dieb, den ich in meinem Laden auf frischer Tat ertappt habe!«
Auf frischer Tat … Offenbar hat der Mann zu viel Columbo geguckt … Schmollend neige ich den Kopf zur Seite. Ich versuche, wie Calimero auszusehen, wenn er sagt: »Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!« Der Typ legt noch einen drauf, als er dem diensthabenden Uniformierten meine Beute aushändigt.
»Sehen Sie selbst! Eine ganze Tüte voll! Und ich könnte wetten, das ist nicht das erste Mal!«
Der Polizist schickt ihn weg.
»Schon gut, überlassen Sie das uns. Wir kümmern uns darum.«
»Dann sorgen Sie aber unbedingt dafür, dass er bestraft wird! Das soll ihm eine Lehre sein! Ich will ihn nie wieder in meinem Supermarkt herumlungern sehen!«
»Monsieur, ich sagte doch gerade, wir kümmern uns darum.«
Endlich verzieht er sich. Ich bleibe einfach da stehen, ohne mich zu rühren. Ich spiele nicht mehr die Rolle des unschuldigen kleinen Opfers. Tatsächlich ist mir eben klargeworden, dass ich mich keinen Deut um die möglichen Folgen schere. Nicht aus Furchtlosigkeit: Ich weiß nicht mal, wovor ich mich fürchten sollte! Wenn die Tüten doch genau in meiner Reichweite hingen und die Bonbons auch, musste ich zwangsläufig zugreifen, oder? Dafür waren die Karamellstangen, Schaumerdbeeren, PEZ-Spender mit Mickymaus, Goldorak, Captain Harlock schließlich da, das fand ich wirklich …
Der Polizist würdigt mich kaum eines Blicks, sondern führt mich in ein Büro und stellt mich zwei Kollegen vor.
»Der Leiter vom Prisunic hat ihn dabei erwischt, wie er die Regale plünderte.«
Sofort melde ich mich zu Wort.
»Nicht die Regale! Bloß neben der Kasse, da, wo die Bonbons sind!«
Die beiden anderen lächeln nachsichtig. Damals konnte ich nicht wissen, dass ich von dieser Seite nie wieder so freundliche Blicke ernten würde.
»Magst du Bonbons?«
»Na klar.«
»Na klar … Künftig bittest du aber deine Eltern, dir welche zu kaufen, einverstanden?«
»Ja … Einverstanden.«
»Findest du allein nach Hause zurück?«
Ich nicke.
»Sehr gut. Dann ab mit dir.«
Ich stehe schon im Türrahmen, als ich sie über den Supermarktleiter witzeln höre.
»Hat der im Ernst geglaubt, dass wir den Knirps ins Gefängnis werfen?«
Ich bin der Beste. Ich hab’s geschafft, klammheimlich drei Schokoschaumbären einzustecken. Bevor ich den ersten vernasche, biege ich um die Straßenecke. Mein Mund ist noch voll, als ich die Haustür erreiche. Dort stoße ich auf meinen Bruder, der mit Mama vom Einkaufen kommt. Er schöpft auf Anhieb Verdacht.
»Was isst du?«
»Ein Bärchen.«
»Und woher hast du das Bärchen?«
»Hab ich geschenkt bekommen.«
»Glaub ich dir nicht.«
Ich strahle ihn an. Mit kakaoschwarzen Zähnen, logo.