1
An Algier, meine Geburtsstadt, habe ich keine Erinnerung. Ihre Düfte, Farben, Geräusche habe ich alle vergessen. Ich weiß nur, dass ich mich nicht fremd gefühlt habe, als ich 1975 mit vier Jahren nach Paris gekommen bin. Meine Eltern haben mir erklärt:
»Das ist dein Onkel Belkacem. Das ist deine Tante Amina. Von jetzt an bist du ihr Sohn. Du bleibst bei ihnen.«
In der Küche ihrer winzigen Zweizimmerwohnung roch es wie zu Hause nach Couscous und Gewürzen. Es war nur etwas weniger Platz, was auch daran lag, dass ich im Doppelpack mit meinem ein Jahr älteren Bruder angeliefert worden war. Unsere ältere Schwester war in der Heimat geblieben. Ein Mädchen macht sich viel zu nützlich, das gibt man nicht her. Sie sollte meiner Mutter helfen, meine beiden jüngeren Geschwister zu versorgen. So behielten die Sellous von Algier immerhin noch drei Kinder, das war genug.
Ein neues Leben und lauter Neuigkeiten. Erstens: Mama ist nicht mehr Mama. Ich darf sie nicht mehr so nennen. Ich darf nicht einmal mehr an sie denken. Mama, das ist jetzt Amina. Die überglücklich ist, auf einen Schlag zwei Söhne zu haben, nachdem sie sich so lange vergeblich Nachwuchs gewünscht hat. Sie streicht uns übers Haar, sie nimmt uns auf den Schoß, küsst unsere Fingerspitzen, schwört, dass es uns nicht an Liebe fehlen wird. Bloß, dass wir keinen blassen Schimmer haben, was Liebe ist. Man hat uns immer gefüttert, gewaschen und in Fiebernächten bestimmt auch im Arm gehalten, aber das war doch keine große Sache, sondern das Natürlichste der Welt. Ich beschließe, dass es hier genauso sein soll.
Zweitens: Algier ist weg. Jetzt leben wir in Paris, am Boulevard Saint-Michel, im Herzen der französischen Hauptstadt, und auch hier können wir draußen spielen. Auf der Straße scheint’s ein bisschen kühler zu sein. Wonach riecht das hier? Knallt die Sonne hier so erbarmungslos auf den Asphalt wie in meiner Heimatstadt? Hupen die Autos genauso laut? Mal schauen, meinen Bruder im Schlepptau. Auf der lächerlich kleinen Grünfläche vorm Hôtel de Cluny fällt mir nur eins auf: Die anderen Kinder sprechen nicht so wie wir. Mein dummes Brüderchen klebt an mir, als hätte er vor ihnen Angst. Der Onkel, der neue Vater, redet uns in unserer Muttersprache gut zu. Französisch, sagt er, werden wir in der Grundschule schnell lernen. Unsere Schulranzen stehen bereit.
»Morgen müsst ihr früh raus, Kinder. Ist aber noch lange kein Grund, mit den Hühnern schlafen zu gehen. Bei uns gehen sie nicht schlafen!«
»Bei uns, Onkel? Aber wo bei uns? In Algerien? In Algerien gehen die Hühner nicht schlafen, stimmt’s?«
»Jedenfalls später als die Hühner in Frankreich.«
»Und was ist mit uns, Onkel? Wo ist bei uns?«
»Ihr seid algerische Küken auf einem französischen Bauernhof!«
Drittens: Ab sofort wachsen wir in einem Land auf, dessen Sprache wir noch lernen müssen, aber wir werden bleiben, was wir schon immer waren. Ziemlich kompliziert für so kleine Jungs, und ich verweigere jetzt schon jede geistige Anstrengung. Mein Bruder versteckt den Kopf in den Händen, schmiegt sich noch enger an meinen Rücken. Der geht mir vielleicht auf die Nerven … Was mich betrifft – ich weiß zwar nicht, was mich in einer französischen Schule erwartet, geh das aber mit der Devise an, nach der ich auch die kommenden Jahre leben werde: Was kommt, das kommt.
Damals ahnte ich nichts von dem Chaos, das ich im Hühnerhof anrichten würde. Ich führte nichts Böses im Schilde. Ich war das unschuldigste Kind der Welt. Im Ernst: Es fehlte nur noch der Heiligenschein.
Es war das Jahr 1975. Die Autos, die über den Boulevard Saint-Michel rauschten, hießen Renault Alpine, Peugeot 304, Citroën 2CV. Der Renault 12 wirkte bereits furchtbar altmodisch, ein bescheidener Renault 4 wäre mir im Zweifelsfall lieber gewesen. Damals konnte ein kleiner Junge die Straße ganz allein überqueren, ohne gleich von der Jugendschutzpolizei aufgegriffen zu werden. Die Stadt, die öffentlichen Plätze, die Freiheit galten nicht per se als gefährlich. Natürlich traf man ab und zu auf einen Typen, dem Suff und Erschöpfung den Rest gegeben hatten, aber man respektierte seine Art zu leben und ließ ihn in Ruhe. Niemand fühlte sich in irgendeiner Weise dafür verantwortlich. Und selbst die weniger Betuchten machten gern ein paar Centimes locker.
Im Wohnzimmer, das den Eltern seit unserer Ankunft auch als Schlafzimmer diente, machten mein Bruder und ich uns breit: zwei Paschas mit Schlaghosen und Riesenkragen. Im Fernsehen liefen Schwarzweißbilder von einem dürren kleinen Glatzkopf, der vor Wut tobte, weil er Fantômas nicht zu fassen kriegte. Ein anderes Mal tanzte der kleine Mann in der Rue des Rosiers und gab sich als Rabbiner aus. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Rabbiner und was genau an dieser Situation so komisch war, trotzdem machte mir dieses Spektakel Spaß. Die beiden Erwachsenen betrachteten ihre nagelneuen Kinder, die sich vor Lachen kringelten. Daran hatten sie noch viel mehr Freude als an den Gags und Grimassen von Louis de Funès. Damals rannte auch Jean-Paul Belmondo in weißem Anzug über die Dächer, er hielt sich für einen »Teufelskerl«, ich fand ihn ziemlich daneben. Sean Connery im grauen Rolli war um Klassen besser. Bei ihm saß die Frisur bis zum Schluss, und wenn er dann diese tollen Gadgets auspackte, die ihn aus jeder brenzligen Situation befreiten … Echter Stil kam aus England und hieß James Bond. Ich wälzte mich auf dem orientalischen Sofa und genoss jeden Moment, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden oder jemals in die Vergangenheit zurückzublicken. Kinderleicht war dieses Leben.
Mein Vorname ist in Paris derselbe wie in Algier: Abdel Yamine. Der Wortstamm »abd« bedeutet im Arabischen »in Ehren halten«, »el« heißt »der«. Den Yamine in Ehren halten. Ich futterte Datteln, Amina sammelte die Kerne ein.