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Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mich zum Bleiben entschieden hätte. Auch nicht, dass ich einen Vertrag unterzeichnet oder zu meinem neuen Chef gesagt hätte, Na dann, die Hand drauf! Am Tag nach der ersten aberwitzigen Pflegestunde und dem anschließenden Kaffee mit der Herald Tribune ging ich nach Hause, um die Unterhose zu wechseln und eine Zahnbürste zu holen. Meine Mutter lachte.
»Na, mein Sohn, ziehst du zu deiner Freundin? Wann stellst du sie uns vor?«
»Du wirst es nicht glauben: Ich hab Arbeit gefunden. Inklusive Verpflegung und Unterkunft. Bei den Reichen gegenüber, auf der anderen Seite der Seine!«
»Bei den Reichen! Du machst mir doch keine Dummheiten, oder Abdel?«
»Na, das wirst du mir wohl auch nicht glauben …«
Ich vermute, sie hat mir wirklich nicht geglaubt. Ich rauschte ab, um Brahim aufzusuchen, der damals im Pied de Chameau arbeitete, einem angesagten orientalischen Restaurant (ja, auch Brahim ist ein braver Junge geworden). Ich erzählte ihm von Philippe Pozzo di Borgo, von seinem Zustand und wie er wohnt. Ich habe fast gar nicht übertrieben.
»Brahim, stell dir vor: Bei diesem Typen bückst du dich, ziehst an einem Faden, der zwischen den Dielen hervorschaut, und du hast ’nen Geldschein in der Hand.«
Ich sah, wie sich in seinen Pupillen das Dollarzeichen formte wie die Goldbarren in den Augen von Onkel Dagobert.
»Nein, Abdel … Du spinnst! Das stimmt nicht.«
»Logisch stimmt das nicht. Aber ich übertreib fast gar nicht, ich schwör’s.«
»Und der Typ, der bewegt sich kein bisschen?
»Nur mit dem Kopf. Der Rest ist tot. Dead. Muerto.«
»Aber sein Herz, das schlägt doch wenigstens?«
»Noch nicht mal da bin ich mir sicher. Eigentlich weiß ich nicht, wie das geht, ein Tetraplegiker … Na ja, doch, ich weiß, das geht gar nicht!«
Ich erinnere mich kaum an die ersten Tage in der Avenue Léopold II, wahrscheinlich weil ich nur unregelmäßig da war. Ich versuchte nicht, zu gefallen, schon gar nicht, mich unentbehrlich zu machen. Keine Sekunde habe ich mich zurückgelehnt, um über meine Situation nachzudenken oder darüber, was mir die Arbeit mit dem drolligen behinderten Mann in diesem Haus bringen könnte, oder was ich selber dieser Familie bringen könnte. Vielleicht hatte die Zeit wie bei jedem andern auch bei mir ihre Spuren hinterlassen, doch das war mir nicht bewusst. Ich hatte schon ziemlich unterschiedliche Erfahrungen gesammelt und zwangsläufig ein paar Lehren aus ihnen gezogen, aber ich habe nie etwas davon in Worte gefasst, weder laut noch still für mich im Kopf. Sogar im Gefängnis, wo die Tage lang waren und sich eigentlich gut zum Nachdenken geeignet hätten, stumpfte ich mich mit Fernsehen und Radiohören ab. Angst vor dem Morgen kannte ich nicht. In Fleury, das wusste ich, glich die nahe Zukunft der Gegenwart. Draußen gab es auch nicht viel zu befürchten. Keinerlei Gefahr in Sicht. Ich hatte so großes Vertrauen in mich, dass ich mich für unbesiegbar hielt. Ich glaubte mich nicht unbesiegbar, nein, ich wusste, dass ich es war!
Für den Transport vom Gericht auf der Île de la Cité nach Fleury-Mérogis hatten sie mich in einen Zellenwagen verfrachtet. Das ist ein Kleinlaster, der hinten mit zwei engen Kabinenreihen ausgestattet ist. Ein einziger Häftling pro Kabine, unmöglich, mehr davon hineinzupacken. Man kann darin stehen oder sich auf ein eingeklemmtes Holzbrett setzen. Die Handschellen bleiben dran. Das Fenster in der Tür ist vergittert. Man blickt nicht raus auf die Landschaft: Vor sich hat man dieses Drahtgitter, dann kommt ein enger Durchgang, dann eine weitere Zelle, in der ein anderer mit demselben Ziel eingesperrt ist. Ich versuchte nicht in der düsteren Kabine sein Gesicht auszumachen. Ich war nicht besonders niedergeschlagen, besonders glücklich natürlich auch nicht. Ich war abwesend, sowohl für die anderen als auch für mich selber.
Die Superhelden aus den Filmen gibt es nicht wirklich. Clark Kent wird erst zum Superman, wenn er sich sein lächerliches Kostüm übergezogen hat; Rambo spürt die Schläge auf seinen Körper nicht, aber sein Herz ist auf Stand-by; der Unsichtbare heißt in Wahrheit David McCallum, er trägt Rollis aus Lycra und einen albernen Topfhaarschnitt. Aber an mir kannte ich keine Schwachstellen. Meine Superkraft war die Unempfindlichkeit. Ich hatte die Fähigkeit, jedes unangenehme Gefühl an mir abprallen zu lassen. Es konnte gar nicht erst aufkommen, ich war eine innere Festung, ich hielt mich für uneinnehmbar. Superman und seine Kollegen, das war dummes Zeug. Trotzdem war ich davon überzeugt, dass es auf der Welt reale, wenn auch seltene Superhelden gab. Und ich war einer von ihnen.