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Die Franzosen legen ihre Kinder an die Leine. So sind die Eltern beruhigt. Sie haben die Situation im Griff … Das bilden sie sich jedenfalls ein. Ich beobachtete sie jeden Morgen vor der Schule. Sie führten ihren Nachwuchs an der Hand bis zum Schultor und feuerten ihn mit ihren dämlichen Floskeln an.
»Sei schön fleißig, mein Schatz, sei brav!«
Die Eltern dachten, das würde ihre Kinder ausreichend für den harten Überlebenskampf auf dem Schulhof wappnen, demselben übrigens, auf dem man sie selber dreißig Jahre zuvor schikaniert hatte. In Wahrheit schwächten sie ihre Kinder nur.
Um im Kampf zu bestehen, muss man ihn erprobt haben. Besser früher als später.
Ich war stets der Kleinste, nicht gerade der Kräftigste, aber ich griff immer als Erster an. Und gewann jedes Mal.
»Gib die Murmeln her.«
»Nein, die gehören mir.«
»Gib schon her.«
»Kommt nicht in Frage!«
»Sicher?«
»… Ist ja gut! Hier hast du die Murmeln …«
Der Unterricht interessierte mich kein Stück, vor allem, weil man uns wirklich wie die Deppen behandelte. Es hieß doch »Den Yamine in Ehren halten«. Wie sollte ich mich da als Witzfigur vor der ganzen Klasse hinstellen und einen vom Frosch und vom Ochsen erzählen? Das war nur was für Mädchen.
»Abdel Yamine, hast du deinen Text nicht auswendig gelernt?«
»Welchen Text?«
»Die Fabel von La Fontaine, die ich dir für heute aufgetragen hatte.«
»Ich hab nur Gabel verstanden.«
»Bravo! Monsieur versteht sich aufs Reimen.«
»Ist mir lieber als Schleimen.«
»Raus mit dir, Sellou …«
Ich ließ mich gern aus dem Unterricht werfen. Diese Strafe, vom Lehrer als größtmögliche Demütigung gedacht, erlaubte mir schließlich, mich in aller Ruhe auf Beutezug zu begeben. Wer immer die Pariser Schulen erbaute, hatte entweder nicht bedacht, dass dort eines Tages ein böser kleiner Abdel eindringen würde, oder er hatte beschlossen, ihm die Arbeit zu erleichtern: Die Mantelhaken hängen draußen vor der Klasse, im Flur! Und was steckt in den Manteltaschen? Ein oder zwei Francs, an guten Tagen sogar fünf, ein Yo-Yo, Kekse, Bonbons! Es konnte mir nichts Besseres passieren, als vor die Tür gesetzt zu werden …
Ich stellte mir vor, wie die anderen Kinder abends heulend nach Hause kamen.
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, Mama, aber mein Franc-Stück ist verschwunden …«
»Du warst also wieder einmal schlampig. Von mir bekommst du kein Geld mehr!«
Von wegen, beim nächsten Mal gibt’s doch wieder welches, und die nächste Beute des kleinen Abdels fällt genauso üppig aus …
Auch an meinem zehnten Geburtstag wurde ich aus dem Unterricht geworfen, quasi als Geschenk des Lehrers, und entdeckte im Flur ein Stückchen Pappe, das Gold wert war. Gut versteckt im Dufflecoat eines Mädchens, unter einem rosa-weißen Papiertaschentuch. Es fühlte sich dicker an als ein Fahrschein, war größer als eine Kinokarte – was konnte das sein? Ich zog die Hand aus der Tasche. Ein Foto. Ein Foto der Mantelbesitzerin, aber kein einfaches Porträt, sondern das, was man halbnahe Einstellung nennt: vom Kopf bis zur Taille. Und das Mädchen war nackt.
Zugegeben: Zum Abstauben war ich reif genug, aber nicht zum Anbaggern. Trotzdem wusste ich schon in diesem Moment, was mir dieser Fund einbringen konnte.
»Hallo, Vanessa, meine süße kleine Vanessa, ich hab hier was, das dir gehört …«
Hier tat ich so, als würde ich mir in die Brust kneifen:
»Bei dir sprießen sie schon, was?«
»Gib mir das Foto zurück, Abdel, auf der Stelle.«
»Och nö, so ein hübsches Bild, das behalte ich.«
»Gib’s her, sonst …«
»Sonst was? Gehst du zum Direx? Der würde das Foto bestimmt gern mit eigenen Augen sehen.«
»Was willst du?
»Fünf Francs.«
»Okay. Du kriegst sie morgen.«
Unser Tauschhandel zog sich noch über einige Tage hin. Fünf Francs waren einfach zu wenig. Also hab ich mehr verlangt, immer mehr. Es war ein Spiel, bei dem ich mich köstlich amüsierte, aber Vanessa war keine gute Verliererin. Sie stieg aus. Als ich eines Abends nach Hause kam, nahmen mich meine Eltern an der Hand.
»Abdel, wir gehen auf die Wache.«
»Auf die Feuerwache?«
»Nein. Wir wurden vom Kommissariat vorgeladen. Was hast du angestellt?«
»Keine Ahnung, was das soll …«
Eine Ahnung hatte ich schon, aber ich glaubte, es ginge um was anderes als mein harmloses Geschäft mit Vanessa. Als der Polizist erklärte, warum man uns vorgeladen hatte, atmete ich erleichtert auf.
»Monsieur Sellou, Ihr Sohn Abdel Yamine wird der Erpressung von Schutzgeld bezichtigt.«
Diese Begriffe waren zu hoch für Belkacem. Selbst ich habe erst geschaltet, als der Polizist Vanessas Namen erwähnte. Nachdem ich gelobt hatte, das Bild umgehend der rechtmäßigen Besitzerin zurückzugeben, durfte ich weg. Meine Eltern haben überhaupt nicht verstanden, worum es ging, sie sind mir wortlos gefolgt und stellten mir keinerlei Fragen. Ich wurde weder zu Hause noch in der Schule bestraft.
Viele Jahre später habe ich erfahren, dass der Schuldirektor ins Gefängnis gewandert ist: Neben anderen Straftaten hatte er die Kasse der Schulgenossenschaft geplündert. Wie kann man nur Kinder bestehlen? Das gehört sich nun wirklich nicht.