Ich rannte um mein Leben. Damals war ich in Topform. Die Jagd hatte in der Rue de la Grande-Truanderie begonnen – Straße der großen Gaunerei, so was fällt auch nur dem Leben ein. Eben hatte ich zusammen mit zwei Kumpels einem armen Bonzensöhnchen den Walkman abgenommen, einen klassischen, eigentlich schon veralteten Sony. Ich wollte dem Jungen gerade erklären, dass wir ihm im Grunde einen Gefallen taten, sein Papa würde ihm gleich einen neuen, viel tolleren Walkman kaufen, leichter zu bedienen, mit besserem Sound und längerer Spieldauer … Aber dafür war keine Zeit.

»Achtung!«, brüllte jemand.

»Halt, stehen bleiben!«, ein anderer.

Wir liefen los.

In der Rue Pierre-Lescot schlängelte ich mich mit beeindruckendem Geschick zwischen den Passanten durch. Das hatte echt Stil. Wie Cary Grant in Der unsichtbare Dritte. Oder wie das Frettchen aus dem alten Kinderlied, wobei es sich in meinem Fall ganz bestimmt kein zweites Mal blicken lassen würde … Als ich rechts in die Rue Berger einbog, wollte ich mich zunächst in das unterirdische Einkaufszentrum von Les Halles verziehen. Keine gute Idee, die Treppen am Eingang waren gestopft voll. Ich also links in die Rue des Bourdonnais. Vom Regen waren die Pflastersteine nass, ich wusste nicht, wer von uns die rutschfesteren Sohlen hatte, die Bullen oder ich. Meine haben mich nicht im Stich gelassen. Ich war Speedy Gonzales, flitzte davon wie die schnellste Maus von Mexiko, gleich zwei böse Kater auf den Fersen, die mich verschlingen wollten. Ich hoffte nur, dass auch dieses Abenteuer enden würde wie im Zeichentrickfilm. Am Quai de la Mégisserie holte ich fast einen meiner Kumpels ein, der mit einer Sekunde Vorsprung gestartet war und besser sprinten konnte als ich. Ich düste hinter ihm her zur Brücke Pont Neuf, verringerte weiter den Abstand. Hinter uns verhallten allmählich die Rufe der Polizisten, anscheinend machten sie schon schlapp. Kein Wunder, schließlich waren wir die Helden … Einen Blick über die Schulter hab ich allerdings nicht riskiert.

Ich rannte um mein Leben, und bald drohte mir die Puste auszugehen. Die Beine wollten nicht mehr, bis Denfert-Rochereau würde ich es auf keinen Fall schaffen. Um die Sache abzukürzen, bin ich über die Brückenbrüstung geklettert, die Fußgänger vorm Sturz in die Fluten bewahren soll. Ich wusste, dass auf der anderen Seite ein etwa fünfzig Zentimeter breiter Vorsprung war. Fünfzig Zentimeter – mehr brauchte ich nicht. Damals war ich rank und schlank. Ich hockte mich hin, blickte auf das schlammige Wasser der Seine, die wie ein reißender Strom Richtung Pont des Arts floss. Die Absätze der Bullenstiefel klapperten immer lauter auf dem Asphalt, ich hielt die Luft an und hoffte, dass der ansteigende Lärm bald wieder verebben würde. Ich hatte keine Angst zu fallen, war mir der Gefahr gar nicht bewusst. Zwar hatte ich keine Ahnung, wo meine Kumpels steckten, aber ich baute dar­auf, dass sie ebenfalls rasch ein sicheres Versteck finden würden. Die Bullen zogen weiter, und ich lachte mir ins Fäustchen. Plötzlich tauchte unter mir ein Lastkahn auf, vor Schreck hätte ich fast das Gleichgewicht verloren. Ich wartete noch einen Moment, bis ich wieder normal atmen konnte, ich war durstig, eine Cola wäre jetzt genau das Richtige gewesen.

Ich war kein Held, schon klar, aber ich war fünfzehn Jahre alt und hatte stets wie ein Tier in freier Wildbahn gelebt. Hätte ich damals über mich sprechen, mich über Sätze, Adjektive, Attribute und die ganze Grammatik definieren müssen, die man mir in der Schule eingetrichtert hatte, wäre ich ziemlich aufgeschmissen gewesen. Nicht, dass ich mich nicht ausdrücken konnte, im Mündlichen schnitt ich immer gut ab, aber dafür hätte ich kurz innehalten müssen. In den Spiegel sehen, einen Moment lang still sein – was mir bis heute, mit über vierzig Jahren, schwerfällt – und in mich hineinhorchen. Wahrscheinlich hätte mir das Ergebnis meiner Überlegungen nicht gefallen. Warum sollte ich mir das antun? Niemand verlangte so was wie eine Selbsteinschätzung von mir, weder zu Hause noch in der Schule. Für drohende Fragen hatte ich ohnehin einen untrüglichen Riecher. Sobald ich ein Fragezeichen witterte, suchte ich das Weite. Als Teenager war ich ein guter Läufer, mit wohltrainierten Beinen. Rennen musste ich oft genug.

Jeden Tag war ich auf der Straße. Jeden Tag lieferte ich der Bullerei einen neuen Grund, mich zu verfolgen. Jeden Tag sauste ich wie ein geölter Blitz von einem Viertel zum nächsten, die Hauptstadt war für mich ein großartiger Vergnügungspark, in dem alles erlaubt war. Jedes Spiel hatte nur ein Ziel: alles schnappen, ohne selbst geschnappt zu werden. Ich brauchte nichts. Ich wollte alles. Die Welt war ein riesiger Laden, in dem alles, was mir gefiel, kostenlos zu haben war. Falls es Regeln gab, kannte ich sie nicht. Niemand hatte sie mir beigebracht, als dafür noch Zeit war, später ließ ich einfach nicht zu, dass diese Bildungslücke gefüllt wurde. Sie kam mir sehr gelegen.

Im Oktober 1997 wurde ich von einem Sattelschlepper umgefahren. Hüftfraktur, das linke Bein in Trümmern, eine schwere Operation und wochenlange Reha in Garches, in einer Klinik westlich von Paris. Ich hörte auf zu laufen, nahm ein wenig zu. Drei Jahre vor diesem Unfall hatte ich einen Mann kennengelernt, der seit einem Gleitschirmunfall an den Rollstuhl gefesselt war, Philippe Pozzo di Borgo. Jetzt waren wir eine Zeitlang gleichauf. Invaliden. Als Kind hatte ich mit dem Wort nichts weiter als die Gegend rund um die Metrostation Invalides verbunden, eine Grünfläche, breit genug, um Streiche auszuhecken und gleichzeitig nach Uniformierten Ausschau zu halten. Ein idealer Spielplatz. Mit dem Spielen war es nun vorbei, zumindest für eine Weile, aber Pozzo würde lebenslänglich querschnittsgelähmt bleiben. Letztes Jahr sind wir beide die Helden eines fabelhaften Films geworden, Ziemlich beste Freunde. Plötzlich will jeder mit uns befreundet sein! Im Film bin ich nämlich ein richtig cooler Typ. Ich habe makellose Zähne, bin immer gut drauf, lache gern und viel, kümmere mich hingebungsvoll um den Mann im Rollstuhl. Ich tanze wie ein Gott. All die Dinge aus dem Film – Verfolgungsjagden im Luxusschlitten auf der Stadtautobahn, Gleitschirmfliegen, Nachtspaziergänge durch Paris – haben Pozzo und ich wirklich gemacht. Aber das ist nicht mal ein Bruchteil von dem, was wir gemeinsam erlebt haben. Ich habe nicht viel für ihn getan, jedenfalls weniger als er für mich. Ich habe seinen Rollstuhl geschoben, ihn begleitet, soweit möglich seinen Schmerz gelindert, ich war für ihn da.

Ich war noch nie einem so reichen Mann begegnet. Er stammte aus einem alten Adelsgeschlecht und hatte es in seinem Leben auch selbst zu was gebracht: Er hatte mehrere Universitätsabschlüsse, war Geschäftsführer des Champagner-Imperiums Pommery. Ich habe von unserer Bekanntschaft profitiert. Er hat mein Leben verändert, nicht ich seins, oder höchstens ein bisschen. Der Film hat die Wahrheit beschönigt, um die Leute zum Träumen zu bringen.

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Ich sag’s lieber gleich: Ich habe kaum Ähnlichkeit mit dem Kerl im Film. Ich bin klein, Araber, nicht gerade zartbesaitet. Früher habe ich eine Menge hässliche Dinge getan, die ich gar nicht rechtfertigen will. Aber jetzt kann ich davon erzählen: Sie sind verjährt. Ich wurde mit den Unberührbaren verglichen, aber mit den echten Parias, den Unberührbaren in Indien, die ein Leben lang arm und ausgeschlossen bleiben, habe ich nichts gemein. Wenn ich einer Kaste angehöre, dann ist es die der Unbeherrschbaren, und ich bin eindeutig ihr Anführer. Das ist meine Persönlichkeit: Ich bin eigensinnig, sträube mich gegen jede Form von Disziplin, Vorschrift und Moral. Ich will mich nicht rechtfertigen, aber ich will mich auch nicht besser darstellen. Man kann sich schließlich auch ändern. Dafür bin ich der beste Beweis …

Kürzlich bin ich über den Pont Neuf gegangen, das Wetter war ungefähr so wie damals an dem Tag, als mir die zwei Polizisten nachhetzten. Es nieselte, und die penetranten Regentropfen fielen auf meinen kahlen Schädel, während der kühle Wind durch meine Jacke drang. Wie schön mir diese zweiteilige Brücke jetzt vorkam, die die Île de la Cité mit den beiden Stadtufern verbindet. Ich war von ihren Ausmaßen beeindruckt, sie ist gut 20 Meter breit, hat bequeme Gehwege und balkonartige Vorsprünge über den Pfeilern, die den Fußgängern freien Blick auf das Seine-Panorama gewähren … völlig gefahrlos. Darauf muss man erst mal kommen! Ich habe mich über die Brüstung gebeugt. Der Fluss durchströmte Paris so schnell wie ein galoppierendes Pferd, grau schillernd wie ein Gewitterhimmel, bereit, die ganze Stadt zu verschlingen. Als Kind wusste ich nicht, dass selbst ein hervorragender Schwimmer kaum dagegen ankommt. Ich wusste auch nicht, dass rund zehn Jahre vor meiner Geburt rechtschaffene Franzosen Dutzende von Algeriern ins Wasser geworfen hatten. Obwohl diese Franzosen ganz genau wussten, wie gefährlich die Seine ist.

Ich habe den Vorsprung betrachtet, auf dem ich so wagemutig vor den Bullen in Deckung gegangen war, nachträglich überlief mich ein Schaudern. Ich dachte, dass ich mich heute niemals trauen würde, über die Brüstung zu klettern. Doch vor allem dachte ich, dass ich heute keinen Grund mehr habe, mich zu verstecken oder wegzurennen.