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Monsieur Pozzo hält regelmäßig einschläfernde Vorträge vor BWL-Studenten, und auch dahin begleite ich ihn. Er spricht über die »Brutalität der Kapitalisten«, von der »Versklavung der Lohnempfänger oder ihrer Ausgrenzung«, von »Finanzkrisen, angesichts deren die Staa­ten ohnmächtig sind und die darüber hinaus die Not der Arbeitnehmer noch vergrößern«. Er duzt die Masse der Studenten, die ihm zuhören, um jeden einzelnen von ihnen zu erreichen. Ich habe seinen Rollstuhl aufs Podest vor die zwanzigjährigen Milchbubis in Anzug und Krawatte gerollt und mich auf einen Stuhl danebengesetzt, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Ich höre nicht zu. Er ist die reinste Schlaftablette, kein Wunder, dass ich einnicke. Aber von Zeit zu Zeit weckt mich ein prägnanter, mit etwas mehr Überzeugung vorgetragener Satz auf.

»Nur du selbst kannst entscheiden, was unter Ethik zu verstehen ist, nur du allein bist für dein Handeln verantwortlich. In dir drin, in deinem Innersten, in der Stille, findest du das Andere und das Fundament deiner Moral.«

Da, sage ich mir, weiß er, wovon er spricht. Von welcher Stille, von welchem Innersten. Von welchem Anderen. Ich bin ein Teil davon. Vor seinem Unfall, als er noch allmächtig war, als er im Pommery schwamm wie meine Mutter in Erdnussöl, hätte er mich da überhaupt eines Blickes gewürdigt? Wäre ich auf einer Party seiner unausstehlichen Göre aufgetaucht, hätte ich wahrscheinlich den Laptop mitgehen lassen. Wenn sie heute solche kleinen Rotznasen einlädt, übernehme ich den Sicherheitsdienst.

Der große unbewegliche Weise, dessen Geist über seiner armseligen fleischlichen Hülle schwebt, dieses höhere Wesen, vom Fleisch und all seinen niederen Bedürfnissen befreit, setzt noch einen drauf:

»Erst, wenn du das Andere erkannt hast, kannst du deine Meinung und dein Handeln in die Gesellschaft einbringen.«

Glaubt er das im Ernst? Diese höheren Söhne, die er vor sich hat, haben doch schon jetzt nichts anderes im Sinn, als sich gegenseitig aufzufressen, und das unter Jahrgangskameraden! Dafür müssten sich sämtliche Großbosse erst mit dem Gleitschirm in Hackfleisch verwandeln, um »das Andere zu erkennen« und die Leute so zu respektieren, wie sie sind …

Na gut, vielleicht müssten Typen wie ich auch aufhören, sich mit dem Asphaltspucken zufriedenzugeben … Wie Monsieur Pozzo sagt, muss man an die Wörter Solidarität, Seelenruhe, Brüderlichkeit und Respekt noch das Wort »Demut« anhängen. Ich verstehe sehr gut, aber ich, ich bin nun mal der Beste. Es ist geprüft, bewiesen und vom Boss zehnmal pro Tag bestätigt worden. Also wenn man mir mit Demut kommt … Ich schlafe wieder ein.

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Ich mache Fehler, bin ungeschickt und aufbrausend, meine Hände schlagen gerne zu, und aus meinem Mund kommen manchmal böse Worte. Monsieur Pozzo zieht um in eine Wohnung im obersten Stock eines Neubaus – selbstverständlich den höchsten Standards entsprechend – im selben Viertel. Eine komplette Seite ist verglast, es ist die Südseite und die Wohnung damit ein einziger Brutkasten. Sogar für ihn ist es zu heiß. Der Fahrstuhl ist breit genug für seinen Rollstuhl und für mich. Aber wenn ein Auto vor der Tür, auf dem sehr engen Bürgersteig parkt, können wir das Haus nicht verlassen.

Eines Morgens zur Frühstückszeit sind wir eingeschlossen. Der Besitzer des Wagens steht daneben, diskutiert mit einem Typen am Straßenrand. Ich sage ihm, er soll Platz machen. Und zwar sofort.

»Nur eine Minute noch.«

Die Minute verstreicht.

»Sie verschwinden jetzt mit Ihrer Karre.«

»Eine Minute, hab ich gesagt.«

Er ist fast eins neunzig groß, wiegt schätzungsweise hundert Kilo, ich reiche ihm gerade mal bis zur Schulter. Ich schlage mit der Faust auf die Kühlerhaube. Eine Delle entsteht, genau auf der Höhe des Kühlers. Er beginnt mich zu beschimpfen. Ich werde sauer.

Einige Minuten später hält mir Monsieur Pozzo eine seiner typischen Mini-Moralpredigten.

»Abdel, das hättest du nicht tun sollen …«

Es stimmt, denn ich finde mich bald vor dem Richter wieder. Der Typ hat Klage eingereicht wegen Körperverletzung, hat sogar eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt, die ihm acht Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Ich habe nicht viel Mühe, den Richter zu überzeugen, dass ein kleiner Bursche wie ich, die Hilfskraft eines Tetraplegikers, einem solchen Koloss überhaupt keine Tracht Prügel verpassen kann. Freispruch. Wer ist der Beste?

Vielleicht doch nicht ich. Es kommt vor, dass mir Monsieur Pozzo aus der Hand rutscht, wenn ich ihn trage. Oder dass ich von seinem Gewicht mitgezogen werde und nicht mehr hochkomme. Oder er sich die Stirn anschlägt. Ich sollte besser sagen: Ich schlage ihm die Stirn an. Es ist allein meine Schuld. In Windeseile entsteht eine Beule, als würde unter seiner Haut im Zeitraffer ein Ei wachsen. Genau wie auf dem Kopf des Katers Sylvester, wenn Speedy Gonzales ihm die Bratpfanne über den Schädel zieht! Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Ich hole schnell einen Spiegel, er muss das sehen, bevor es wieder weg ist. An manchen Tagen lacht er mit mir. An anderen überhaupt nicht. Dann sagt er:

»Ich habe es satt, ich habe es satt, beschädigt zu sein …«

Manchmal hat Monsieur Pozzo es wirklich satt. Bei seinen Vorträgen vergisst er nie, von der Entmutigung zu sprechen, der man nie, nie nachgeben darf. Er kann stolz auf mich sein: Abgesehen von seinem Körper, den ich manchmal nicht richtig gut trage, lasse ich nie etwas fallen.