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Das Alter von Tetraplegikern wird wie das von Hunden berechnet: Ein Jahr zählt sieben Jahre. Philippe Pozzo di Borgo hatte seinen Unfall mit zweiundvierzig, also vor drei Jahren. Drei mal sieben macht einundzwanzig: 1996 ist er sozusagen dreiundsechzig. Dabei sieht er Methusalix, dem Alten aus Asterix – klein und verkümmert, genauso haar- wie herzlos –, kein bisschen ähnlich … Der Graf sieht aus wie ein Grandseigneur und hat das Herz eines Zwanzigjährigen.
»Herr Pozzo, Sie brauchen eine Frau.«
»Eine Frau, Abdel? Meine Frau ist gestorben, vielleicht erinnerst du dich?«
»Wir werden eine andere finden. Natürlich nicht dieselbe, aber es wird besser sein als gar keine.«
»Aber die Ärmste, was hätte sie denn an mir?«
»Sie wird sich an dem Süßholz laben,
das Sie ihr geraspelt haben
wie Cyrano de Bergerac.«
»Na prima, Abdel! Ich sehe, dass meine Literaturstunden Früchte tragen!«
»Sie bringen mir die Literatur bei, ich bringe Ihnen das Leben bei.«
Ich ließ Freundinnen von mir kommen. Aïcha, eine vollbusige kleine Brünette, Knaller und Krankenschwester in einem, hatte die Lage sofort durchschaut. Bei ihrem ersten Besuch haben wir zusammen was getrunken. Am nächsten Tag hab ich mich verkrümelt. Am übernächsten hat sie sich aufs Bett gelegt. Aïcha und er haben ein Weilchen nebeneinander geschlafen. Aïcha wollte kein Geld und keine Geschenke. Sie interessierte sich für diesen Mann, der sich so schön ausdrücken konnte. Er machte sich nichts vor: Er würde sich nicht in sie verlieben und sie sich nicht in ihn, aber sie verbrachten ein paar angenehme Momente miteinander. Aïcha atmete gleichmäßig neben ihm, er spürte ihren Atem, und die Wärme ihres Körpers beruhigte ihn. Es folgten noch ein paar andere, Professionelle, die froh waren, sich während der Arbeit ausruhen zu können. Ich warnte sie: »Man muss meinen Boss sanft anpacken und anständig mit ihm reden. Bevor du reinkommst, nimmst du deinen Kaugummi raus. Du bist anständig und hütest deine Zunge!«
Monsieur Pozzo erholte sich nur langsam vom Tod seiner Frau. Sehr langsam … Manchmal überraschte ich ihn geistesabwesend und mit leerem Blick. Wie einer, der den menschlichen Freuden nur noch zuschaut und sie für sich selbst abgeschrieben hat. Trotz Aïcha und der berauschenden Parfüms seiner Kurzzeit-Gespielinnen ging es ihm nicht wirklich besser. Béatrice war seit Monaten nicht mehr da, Laurence hatte Urlaub, und die Kinder verkümmerten in Paris. Ich schlug eine kleine Reise vor.
»Monsieur Pozzo, Sie haben doch bestimmt eine kleine Absteige irgendwo im Süden?«
»Eine Absteige … Ich weiß nicht … Ah doch, es gibt La Punta auf Korsika. Unsere Familie hat es vor ein paar Jahren an den Regionalrat verkauft, aber wir haben einen Turm behalten, den wir nutzen können, neben dem Familiengrab.«
»Auf einem Friedhof, das kann ja heiter werden … Mehr haben Sie nicht zu bieten?«
»Nein.«
»Na dann los! Ich pack die Koffer.«
Wir sitzen zu acht im Viehtransporter (wir mussten den Tatsachen ins Auge blicken: Acht Personen passen nun mal nicht in den Jaguar). Céline und die Kinder sind natürlich mit von der Partie, aber auch Victor, ein Neffe von Monsieur Pozzo, seine Schwester Sandra und Théo, ihr Sohn. Es ist heiß, aber noch nicht heiß genug. Wir schalten die Klimaanlage nur hin und wieder kurz ein. Niemand beklagt sich. Tetraplegiker frieren immer. Man begräbt sie unter Decken, Mützen, Wollsachen, aber es reicht nie. In Kerpape habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Monsieur Pozzo fährt dort jeden Sommer zur Reha hin, um, wie er es nennt, seine jährliche Wartung vorzunehmen. Bei den ersten Sonnenstrahlen reihen sich die Rollstühle der Tetraplegiker am Fenster auf, alle nach Süden gerichtet, und rühren sich nicht mehr vom Fleck. Im Auto, vor den Kindern, reißt sich Philippe Pozzo di Borgo zusammen. Ich weiß, dass er noch immer um seine Frau trauert, dass er uns alle ein bisschen hasst, weil wir noch immer da sind und sie nicht mehr. Wir schwitzen, unsere Gerüche vermischen sich, aber wenigstens ist ihm nicht kalt.
Wir reißen die Kilometer herunter, ohne die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten. Einer nach dem andern döst ein, ich halte stand. Céline öffnet die Augen und streckt sich.
»Ach seht mal, wir sind in Montélimar … Wir könnten kurz anhalten und Nougat kaufen.«
Ich brumme, dass wir nie ankommen werden, wenn wir bei jeder regionalen Spezialität anhalten …
Sie sagt nichts, ich glaube, sie ist ein wenig eingeschnappt. Und dann:
»Abdel, ist das normal, dieser Rauch?«
Ich schaue auf beide Seiten der Autobahn, nichts.
»Hast du einen Waldbrand gesehen?«
»Nein, ich meine den Rauch, der aus der Kühlerhaube kommt. Komisch, oder?«
Gar nicht komisch. Der Motor ist im Arsch. Ich wollte den Viehtransporter ein für alle Mal loswerden, jetzt hab ich’s geschafft. Er steht unbeweglich auf dem Pannenstreifen und ich stecke fest – zusammen mit vier Kindern, zwei Frauen und einem Tetraplegiker. Wir haben August, inzwischen sind es vierzig Grad im Schatten und wir noch zweihundert Kilometer von Marseille entfernt, wo in knapp vier Stunden das Schiff nach Korsika ablegt. Das läuft ja wie am Schnürchen … Die veräppeln mich alle, diese Scherzkekse. Ich hab vergessen, den Ölstand zu kontrollieren. Oder den Wasserstand. Oder beides, was weiß ich. Kein Grund zur Panik.
»Irgendwo im Handschuhfach liegt doch bestimmt der Schrieb von der Pannenhilfe? Wunderbar, da ist er ja schon. Hier, ihr werdet’s nicht glauben: Unser Vertrag ist noch genau eine Woche gültig. Zum Glück haben wir die Panne nicht auf der Rückfahrt gehabt, stimmt’s?«
Der Chef freut sich.
»Das stimmt in der Tat, Abdel. Wir sind noch versichert, dann ist ja alles in Butter!«
Ich zücke mein Handy – das Gerät hat sich in letzter Zeit bereits einigermaßen durchgesetzt – und rufe als Erstes den Abschleppdienst an. Dann versuche ich es bei den Autovermietungen. Vergeblich. Es ist Hochsommer, Montélimar voller Touristen, und wir finden nichts. Ich rufe die Hotline des Herstellers an, brülle ins Telefon, dass man einen Tetraplegiker nicht mitten auf der Autobahn stehen lässt. Ich knalle ihnen meinen berühmten Satz über meinen sehr besonderen Mitfahrer vor den Latz:
»Er ist Tetraplegiker. Wissen Sie, was das ist, ein Tetraplegiker? Ein Te-tra-ple-gi-ker!«
Im Auto, aus dem noch immer eine Rauchfahne aufsteigt, lachen sich alle kaputt.
»Aber Abdel, warum regst du dich auf? Haben wir es nicht gut hier, auf der Autobahn, im Land des Nougats?«
Die Assistentin bietet an, für die Strecke von Montélimar bis Marseille das Taxi zu bezahlen. Aber wir müssten uns auf eigene Faust nach Montélimar begeben. In dem Moment kommt der Abschleppwagen. Alle einsteigen, bitte! Der sechzigjährige Mechaniker, der sich, nach seinem Bauchumfang zu schließen, die regionale Spezialität ab und an schmecken lässt, leistet gutmütig Widerstand.
»Ach nein, ich kann nur zwei oder drei Personen in meine Kabine nehmen. Mehr geht nicht an.«
»Wir bleiben im Viehtransporter.«
»Oh nein, das ist verboten, Monsieur. Das geht nicht an.«
Ich zieh ihn am Kragen bis zum Seitenfenster und zeige auf den Rollstuhl.
»Soll ich ihn etwa zwanzig Kilometer über den Pannenstreifen schieben?«
»Aber nein, Sie haben recht, Monsieur. Das geht auch nicht an.«
»Richtig, das geht nicht an … Steigen wir ein!«
Alexandra, Victor und Théo nehmen im Abschleppwagen neben dem Fahrersitz Platz, während der Alte beginnt, den Viehtransporter auf die Rampe zu laden. Monsieur Pozzo haben wir dringelassen. Laetitia, Robert-Jean, Céline und ich versuchen während des Manövers im Stehen seinen Rollstuhl festzuhalten. Das schaukelt ganz schön, wie ein Schiff auf hoher See. Die Kinder lachen sich kringelig und wiederholen mit dem Akzent des Mechanikers: »Das geht nicht an! Das geht nicht an!« Es wird unser Ferien-Motto. Ich glaube zu sehen, dass Philippe Pozzo genauso fröhlich lacht.
Und so treffen wir am Hafen von Marseille ein. Gerade noch rechtzeitig: Das Schiff fährt in zwanzig Minuten. Theoretisch … Ich bezahle die beiden Taxis, und als sie weg sind, höre ich, wie Céline beunruhigt sagt:
»Für einen Abfahrtstag sind aber nicht gerade viele Leute da, findet ihr nicht? Sind denn sämtliche Urlauber schon eingestiegen? Da tut sich gar nichts auf dem Schiff …«
Es stimmt, die gelbweiße Fähre sieht ziemlich verlassen aus. Kein Mensch auf dem Kai, abgesehen von uns, und die Laderampe für die Autos ist auch nicht runtergelassen … Ich renne zum Büro des Fährbetreibers, um die Sache zu klären. Dann kehre ich zu meiner Crew zurück, die sich im Schatten eines leeren Lagerschuppens niedergelassen hat. Dort ist es genauso menschenleer.
»Ihr werdet lachen, aber das Büro ist geschlossen.«
»Wirklich? Und es ist nirgendwo etwas angeschlagen?«
»Doch, doch, da steht, dass die Reederei auf unbestimmte Zeit bestreikt wird.«
Allen bleibt ein paar Sekunden der Mund offen stehen. Bis Victor mit seinem dünnen Stimmchen die Sache auf den Punkt bringt:
»Das geht nicht an!«
Ich rief im Reisebüro an, das uns die Fährtickets verkauft hatte. Man schlug uns vor, nach Toulon zu fahren, wo die nächste Fähre nach Korsika bereitstand. Toulon, siebzig Kilometer von hier … Ich versuchte, ein Taxi zu rufen. Nichts zu machen. Also zog ich zu Fuß los, allein, bis zum Bahnhof von Marseille, wo ich nicht ein, sondern gleich zwei Taxis auftreiben musste. Aber die Zugreisenden waren genauso am Verzweifeln. Es gab kein einziges Taxi. Ich versuchte es weiter im Stadtzentrum, wo ich mich ins Gassengewirr, ein Ableger der Kasbah in Algier, stürzte. Auf Arabisch sprach ich die Alten an, die auf den Türschwellen ihren Tabak kauten, und fand schließlich einen, der gegen ein kleines Scheinchen bereit war, mir zu helfen.
Das Gesicht der anderen, als wir am Hafen ankamen … Unser Fahrer war der stolze Besitzer eines klapprigen Peugeot 307 Kombi, der so übel zugerichtet worden war, dass er diesen Sommer auf die Reise ins Morgenland verzichten musste. Das will was heißen …
»Abdel, wir steigen doch da nicht etwa ein?«
»Oh doch, meine liebe Laetitia! Es sei denn, du möchtest hierbleiben?«
»Nein, aber du bist echt krank! Ich steige da nicht ein, vergiss es!«
Diese verwöhnte Zicke, spießig bis unter die – natürlich manikürten, mit fünfzehn! – Fingerspitzen, kriegt einen hysterischen Anfall. Ihr Vater fragt ungläubig:
»Jetzt mal die Frage der Bequemlichkeit beiseite, wie sollen wir zu acht in einen solchen Wagen passen?«
»Zu neunt, Monsieur Pozzo, zu neunt! Sie haben den Fahrer vergessen …«
Wir haben’s tatsächlich geschafft. Und sogar Laetitia hat überlebt.