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»Monsieur Pozzo, nun ist gut, jetzt wird aufgestanden!«

»Ich möchte meine Ruhe haben, Abdel, bitte lass mich.«

»Sie haben lange genug Ihre Ruhe gehabt. Jetzt reicht’s. Ob’s Ihnen gefällt oder nicht, ändert gar nichts. Wir ziehen uns jetzt an und gehen raus … Außerdem weiß ich, dass es Ihnen gefallen wird.«

»Wie du willst …«

Der Pozzo seufzt. Der Pozzo dreht den Kopf, er sucht nach Leere, nach einem Raum ohne zappelnde Hände, ohne Blicke. Plappernde Münder schaltet er auf stumm.

Ich will ihn nicht mehr »den Pozzo« nennen. Er ist kein Ding, kein Tier, kein Spielzeug, keine Puppe. Der Mann vor mir leidet und lebt nur noch in seiner eigenen Welt. Einer Welt, die es so nicht mehr gibt und die bloß aus Erinnerungen besteht. Ich kann mich aufführen wie der Teufel, kann La Cucaracha tanzen, mit meinen Faxen Laurence zum Kreischen bringen, er ignoriert es nicht mal. Was tu ich hier eigentlich? Er könnte mich fragen, warum ich noch hier bin, ich frage mich ja selbst schon …

Ich würde ihm irgendeinen Quatsch erzählen.

Ich würde ihm antworten: Ich bleibe wegen des bequemen Louis-Philippe-Sofas in Ihrem Zimmer, das ich seit Béatrices Tod nicht mehr verlasse. Das Apartment im Dachgeschoss habe ich an eine Freundin untervermietet. Niemand hier im Haus weiß davon. Aber ich bin anständig, und außerdem mag ich das Mädchen wirklich, deswegen verlange ich nicht viel Miete von ihr. Einen Tausender im Monat. Damit bewegen wir uns noch weit unter dem Marktpreis.

Ich würde ihm antworten: Ich bleibe wegen dem Jaguar. Und ich fände es gut, wenn Sie sich ein ganz kleines bisschen aufrappeln würden, damit ich Sie nachts wieder allein lassen und meine Spritztouren unternehmen kann. Diese Karre wirkt nämlich wie ein Magnet auf Frauen. Na ja, auf manche … Mir ist schon klar: Meine Béatrice wird nicht unter denen sein, die einsteigen. Die interessieren sich nur für die Kohle. Man kennt sich nicht, man wird sich nicht kennenlernen. Ich kläre sie auf, wenn die Sache erledigt ist, ich bin ein Mistkerl und auch noch stolz darauf.

»Die Karre gehört meinem Boss. Ich kann dich an der nächsten Metrostation absetzen, wenn du willst …«

Ich würde ihm antworten: Ich bleibe, weil ich es mag, im Nobelrestaurant ein paar Häppchen zu kosten und danach genüsslich eine Gyros-Tasche zu verputzen.

Ich würde ihm antworten: Ich bleibe, weil ich noch nie La Traviata gesehen habe, ganz im Ernst, und darauf baue, dass Sie mich mal in die Oper mitnehmen werden (er hat mir einmal Ausschnitte daraus vorgespielt und die Geschichte erklärt, ich bin fast krepiert vor Langeweile …)

Ich würde ihm antworten: Ich bleibe, weil ich meinen Spaß will, weil ich lebendig bin und weil das Leben dafür da ist, sich zu amüsieren. Und das ist nun mal einfacher, wenn man ein bisschen Geld zur Verfügung hat. Und da er zufällig welches hat und selbst auch am Leben ist, passt das ganz gut zusammen!

Ich würde ihm antworten: Ich bleibe wegen der Kohle. Das glauben übrigens auch fast alle meine Kumpels, und nicht alle behalten ihre Meinung für sich. Ich kläre Leute, die allzu selbstsicher sind, nicht gern über ihre Irrtümer auf. Wenn sie vor lauter Gewissheit erstarren, kann das sehr lustig aussehen.

Er würde weiterbohren:

»Warum bleibst du, Abdel?«

Ich würde ihm nicht sagen, dass ich seinetwegen bleibe, weil wir schließlich Menschen und keine Tiere sind.

Ich habe ihm den Cerruti-Anzug angezogen, den perlgrauen, ein blaues Hemd, goldene Manschettenknöpfe und eine blutrot gestreifte Krawatte. Dazu ein Tropfen Eau Sauvage, seit dreißig Jahren sein Eau de Toilette, das auch schon sein Vater benutzt hat. Ich habe seine Haare gekämmt und den Schnurrbart geglättet.

»Wohin führst du mich, Abdel?«

»Austern schlürfen? Was halten Sie davon, ein paar Austern zu schlürfen? Ich hab auf einmal solche Lust auf Austern …«

Ich lecke mir die Lippen, ich streiche mir über den Bauch. Er lächelt. Er weiß, dass ich Austern nicht ausstehen kann, schon gar nicht im Sommer, wenn sie ganz milchig sind. Er aber, mit einem Tröpfchen Zitrone oder einem Hauch Schalottensauce: mmh … Auf geht’s in die Normandie.

»Legen wir eine CD ein? Was möchten Sie hören, Monsieur Pozzo?«

»Gustav Mahler.«

Ich lege zwei Finger unter die Nase, mache einen auf Nazi und schimpfe ganz zackig.

»Gustaf Mahlör? Ach nein, Monsieur Pozzo! Schluss mit dem Malheur. Es reicht!«

Er deutet ein Lächeln an. Das ist doch schon was …

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Der Jaguar ist ein herrliches, aber ein gefährliches Auto. Man spürt die Geschwindigkeit nicht. Er gleitet, man hebt ab, man merkt überhaupt nichts. Auf dem Weg zum Krankenhaus Raymond-Poincaré in Garches hab ich nicht bemerkt, dass es mir durchgebrannt ist wie ein Pferd im Galopp. Wir fühlten uns wunderbar, Monsieur Pozzo und ich, im Hintergrund spielte France Musique eine nette kleine Symphonie, ideal als telefonische Warteschleife beim Arbeitsamt. Auf dem Pont Saint-Cloud rücken zwei Motorradpolizisten auf. Ich sehe sie im Rückspiegel, werfe einen Blick auf den Tacho: nur 127 Kilometer die Stunde … Monsieur Pozzo ist gut drauf heute, ich könnte einen Versuch wagen.

»Da sind zwei Bullen, die werden uns gleich anhalten.«

»Ach … Abdel! Wir werden uns verspäten.«

»Nicht unbedingt, Monsieur Pozzo. Setzen Sie doch mal Ihre Leidensmiene auf!«

Die Polizisten nähern sich bedrohlich.

»Was meinst du damit?«

Ich ziehe eine Grimasse, und er lacht laut auf.

»Aber nein, Monsieur Pozzo, nicht lachen, jetzt muss gelitten werden. Los, ich zähl auf Sie.«

»Abdel, nein, wirklich! Abdel!«

Ich drossle deutlich ab, setze den Blinker, fahre an den Straßenrand und lasse die Scheibe runter.

»Abdel!«

»Drei, zwei, eins … Leiden Sie!«

Ich schaue ihn nicht an, ich habe Angst loszuprusten. Ich beuge mich zum Bullen, der sich vorsichtig nähert. Ich spiele den braven Kerl in Panik.

»Er hat einen Anfall! Das ist mein Chef! Er ist Tetraplegiker. Es ist sein Blutdruck, ich bringe ihn nach Garches, wir können nicht warten, sonst geht er drauf!«

»Machen Sie den Motor aus, Monsieur.«

Ich gehorche widerwillig, schlage mit der Faust aufs Lenkrad.

»Wir haben keine Zeit, sag ich!«

Der zweite Polizist ist mittlerweile auch näher gekommen, geht misstrauisch um den Wagen herum. Er richtet sich an meinen Beifahrer.

»Monsieur, lassen Sie bitte die Scheibe herunter. Monsieur, Monsieur!«

»Wie soll er denn die Scheibe herunterlassen? Wissen Sie, was das ist, ein Tetraplegiker? Ein Te-tra-ple-gi-ker!«

»Ist er gelähmt?«

»Na bravo, die haben’s kapiert!«

Sie schauen mich beide an, genervt, überfordert und beleidigt, alles auf einmal. Ich riskiere einen Blick auf Monsieur Pozzo. Er ist großartig. Er lässt den Kopf auf die Schulter fallen, drückt die Stirn an die Türscheibe, verdreht die Augen und obendrein röche-che-chelt er … Das ist nicht seine Leidensmiene, aber ich bin der Einzige, der das weiß.

»Hören Sie«, fragt der erste nervös, »wohin soll’s den gehen in diesem Tempo?«

»Nach Garches, ins Raymond-Poincaré-Krankenhaus, das sagte ich Ihnen doch. Und es eilt!«

»Ich rufe sofort eine Ambulanz.«

»Das tun Sie nicht, das dauert viel zu lange, so lange hält er nicht durch! Wissen Sie, was wir machen? Kennen Sie den Weg nach Garches? Ja? Sehr gut! Dann fahren Sie vor, und Ihr Kollege da, der folgt. Los, schnell!«

Ich starte den Motor und drücke aufs Gaspedal, um meine Entschlossenheit zu betonen. Nach einer Sekunde Zögern – der Polizist an sich zögert öfter, als man denkt – setzen die Jungs ihre Helme auf und reihen sich brav ein. Wir brausen los Richtung Krankenhaus, allerdings etwas langsamer als vorhin, weil die Polizisten mit der einen Hand den Lenker halten und mit der andern die Autofahrer auffordern müssen, Platz zu machen. Monsieur Pozzo hebt vorsichtig den Kopf und fragt:

»Und wenn wir da sind, Abdel, was dann?«

»Tja, dann tun wir genau das, was wir vorgehabt haben! Sollten Sie nicht einen Vortrag vor Behinderten halten?«

»Doch, doch …«

Auf dem Parkplatz des Krankenhauses ziehe ich schnell Monsieur Pozzos zusammenklappbaren Rollstuhl aus dem Kofferraum, öffne die Beifahrertür, setze den nächsten Oscar-Preisträger in den Rollstuhl und schlage gnadenlos die Hilfe des Motorradpolizisten aus:

»Ach, bloß nicht, junger Mann: Dieser Herr hier ist zerbrechlich wie ein Ei!«

»Raaa …«, macht der Sterbende.

Im Laufschritt schiebe ich ihn zum Eingang der Notaufnahme, während ich den Polizisten zurufe:

»Schon gut, Sie können gehen! Wenn er überlebt, werde ich Sie auch nicht verklagen!«

Wir warten, bis sie verschwunden sind, und verlassen das Gebäude wieder: Der Vortrag soll woanders stattfinden. Der Boss lacht, wie er seit Wochen nicht mehr gelacht hat.

»Na, wer ist der Beste?«

»Der bist du, Abel, du allein!«

»Im Gegensatz zu Ihnen, das soll ein Anfall gewesen sein, also wirklich! Was war denn das für eine Grimasse?«

»Abdel, hast du schon mal La Traviata gesehen?«

»Nein, hab ich nicht. Aber dank Ihnen kenn ich die Geschichte, vielen Dank.«

»Am Schluss gab ich die Violetta …«

Und er singt. »Gran Dio! Morir sì giovine …«*

* »Großer Gott! So jung sterben …« (III. Akt, 4. Szene)