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In der Cité drehten wir inzwischen Däumchen. Die Läden rüsteten allmählich auf, um sich gegen unsere Besuche zu wappnen: Bewegungsmelder, extra leistungsstarke Warensicherungssysteme, Wachleute, besonders geschultes Verkaufspersonal, das eine bestimmte Art von Kunden im Auge behalten sollte … Innerhalb von knapp zwei Jahren waren die Sicherheitsmaßnahmen derart verstärkt worden, dass unsere Quelle versiegte. Wir hatten die Wahl: entweder auf die Kapuzenpullis verzichten, die uns so verdammt gut standen, oder eine neue Quelle auftun … Zum Beispiel die Kids aus den Bonzenvierteln. Eine logische Schlussfolgerung, wenn auch eine recht zynische – das sehe ich heute ein. Damals war mir das nicht bewusst. Ich konnte mich nicht in andere Menschen reinversetzen. Ich kam nicht einmal auf die Idee, es zu versuchen. Hätte mich einer gefragt, wie sich wohl ein Junge fühlt, der gerade ausgeraubt wurde, wäre ich in ein hämisches Kichern verfallen. Da an mir alles abprallte, musste es den anderen zwangsläufig ähnlich ergehen, erst recht diesen Muttersöhnchen, die mit einem Silberlöffel im Mund auf die Welt gekommen waren.
Nach Abschluss der Grundschule begleiteten die Eltern ihren Nachwuchs nicht mehr bis zum Schultor. Kaum traten die Kinder auf die Straße, konnte man sie leicht schnappen. Wir spähten ein Opfer aus, einen Typen, der mit den richtigen Klamotten ausgestattet war. Dann stürzten wir uns zu zweit oder zu dritt auf ihn, kreisten ihn auf dem Bürgersteig ein und begleiteten ihn ein Stück, wie Kumpels, die den gleichen Schulweg haben. Den anderen Passanten fiel nichts Verdächtiges auf. Höchstens, dass unser Anblick sie zu Tränen rührte: Dieser nette Sohn aus gutem Hause ist also mit zwei Arabern befreundet! Dieser aufrechte kleine Katholik hat ein so großes Herz, dass er diese fragwürdigen, abgerissenen Gestalten nicht abblitzen lässt … Sie hörten ja nicht, was wir von uns gaben.
»Was haste für Turnschuhe? Wie groß?«
»Die Schuhgröße? Warum?«
»Sag schon!«
»Vierzig.«
»Super, das passt! Gib sie her.«
»Aber ich kann schlecht in Socken zur Schule gehen, oder?«
»Ich hab ein Teppichmesser dabei. Du möchtest doch keine hässlichen roten Flecken auf deinem hübschen blauen Pulli? Setz dich hier hin!«
Ich zeigte auf eine Bank, eine Treppenstufe, die Schwelle einer noch geschlossenen Boutique.
»Los, mach die Schnürsenkel auf, aber dalli!«
Ich verstaute die Nikes in meinem Rucksack und haute mit Yacine ab, der bereits Schuhgröße 42 brauchte und sich nicht so einfach bei kleinen Gymnasiasten bedienen konnte.
Manchmal benutzten wir das Messer doch. Aber nur, um die Jacke zu zerschneiden, die Hülle, niemals die Haut. Ab und zu setzte es auch Faustschläge und Fußtritte. Und zwar immer, wenn unser Opfer sich wehrte, was wir völlig hirnrissig fanden. Für ein Paar Schuhe, also echt … Ich wurde mehrmals erwischt. Dann verbrachte ich ein bis zwei Stunden auf der Wache, bevor ich wieder heimdurfte. Die französische Polizei ist bei weitem nicht so schlimm wie in den Filmen. Nie hat man mir ein Telefonbuch an den Kopf geworfen oder auch nur die kleinste Ohrfeige verpasst. In Frankreich werden Kinder nicht geschlagen, das gehört sich nicht. Auch bei Belkacem und Amina wurde nicht geschlagen. Ich weiß noch, wie manche Nachbarn schrien: der Vater, der seinen Sohn auspeitschte, der Sohn, der vor Schmerz aufheulte, die Mutter, die um das Ende der Folter bettelte. Ich erinnere mich an Mouloud, Kofi, Sékou, die regelmäßig eine ordentliche Tracht Prügel bezogen. Danach durfte man ihnen ein paar Tage lang nicht allzu fest auf die Schulter klopfen, und vor allem durfte man sich auf keinen Fall anmerken lassen, dass man Bescheid wusste. Immer so tun, als wäre nichts passiert. Es war auch nichts passiert, das Leben nach der Peitsche glich haargenau dem Leben vor der Peitsche. Mouloud, Kofi und Sékou bezogen weiterhin unten am Eingang oder auf dem Betonplatz Stellung, sie rannten weiterhin wie der Blitz.
Ich werde mutiger, wage mich über die Grenzen meines Viertels hinaus. Nehme an der Metrostation Charles-Michel die Linie 10, steige am Odéon um und Châtelet-Les Halles wieder aus. Dort tummelt sich ein buntes Völkchen. Vor allem Schwarze und Araber. Manche halten sich für Amis. Stopfen sich mit Hamburgern voll, um das gleiche Kampfgewicht zu erreichen wie die Breakdancer. Man hört sie schon von weitem kommen, mit dem dröhnenden Ghettoblaster auf der Schulter. Die unvermeidliche Baseballkappe tragen sie verkehrt herum, dazu Hosen, die ihnen fast über den Hintern rutschen. Sie stellen die Anlage ab, drehen die Lautstärke noch weiter auf und legen los. Damit sorgen sie nicht nur für Show und Klangkulisse, sondern verdecken auch, was nebenher läuft.
So geht jeder seinen kleinen Geschäften nach, ohne sich um die anderen zu kümmern. Ich stürze mich ins Gewühl, verschlinge ein Sandwich, verkloppe hier einen Blouson von Lacoste, dort ein Paar Westons, alles ganz harmlos – die Drogen kursieren woanders, außerhalb von meinem Revier. An dieser Art Handel bin ich nicht interessiert, höchstens, um die reichen Popper aus den Nobelkiezen zu ärgern, die sich den Abend ein bisschen versüßen wollen. Ich verticke ihnen getrocknete Paprika. Ähnelt Cannabis kein bisschen, weder vom Geruch noch von der Farbe her. Das stört sie offenbar nicht, sie blättern anstandslos die Kohle hin. Aus einem Stück Ahornrinde schnitze ich ein formvollendetes Täfelchen, reibe es mit ein wenig echtem Hasch ein, von wegen Geruch und Farbe, und wickle es in Zeitungspapier. An der Fontaine des Innocents, dem Unschuldsbrunnen, taucht ein Milchbubi im Blazer auf.
»Hast du was dabei?«
»Und du, hast du die Knete dabei?«
Wir werden uns sofort einig, der Blazerträger verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. Ich stelle mir vor, was er beim Jointbauen für eine Fresse ziehen wird. Erst wird er die Blättchen und den Tabak unter der Matratze hervorziehen, dann wird er versuchen, das Zeug zu zerbröseln, bis ihm die Finger bluten. Na, Jean-Bernard, wie gefällt dir mein Stoff? Kein Wunder, ist reiner Ahorn!
Abends finden die Kellerfeten statt, »Zulu-Partys« genannt. Wir verstehen uns alle prächtig, die ethnische Herkunft spielt keine Rolle. Und weil wir uns so prächtig verstehen, wissen wir nichts voneinander. Ich kenne den Vor- oder Spitznamen von jedem Typen, sie kennen meinen: der kleine Abdel. Mehr nicht. Ihre Nachnamen sind mir unbekannt, und »Sellou« haben die noch nie gehört. Sie nennen mich den Kleinen wegen meiner Größe, nicht wegen meines Alters, fünfzehn Jahre. Hier sieht man noch viel Jüngere als mich und sogar ein paar arg naive Mädchen. Sie spielen mit dem Feuer, genießen die Blicke dieser Jungs, die stark wie Männer sind. Sie werden es noch bitter bereuen. Ich beobachte das Ganze von der Seite, ohne wirklich teilzunehmen. An einem Abend bin ich draußen bei den Punks, an anderen ziehe ich mich vor dem Regen in den Keller zurück, um meine Ware zu verticken.
»He! Kleiner Abdel! Hab’n Tipp für dich. Ein Mädchen vom Henri-IV-Gymnasium gibt heute Abend eine Party, schicke Wohnung, Nähe Ranelagh. Ihre Alten sind verreist, bist du dabei?«
»Klar!«
In solchen Fällen nistet man sich bei der Gastgeberin ein und feiert brav mit, bis einer zum Aufbruch bläst. Dann lässt man alles mitgehen, was sich lohnt. Mindestens ein aktueller Videorekorder ist immer dabei. Ich stöpsle vorsichtig die Kabel aus und rolle sie sorgfältig auf. Die junge Dame des Hauses sieht es mit Entsetzen. Was treiben ihre neuen Freunde da? Eben waren die noch so nett! Wie hätte sie das ahnen können? Ach, die bösen Jungs! Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein. Auf der Straße lachen sich die Kumpels bei meinem Anblick halbtot, während ich ganz lässig ein Gerät davontrage, das so viel wiegt wie ich.
»Du bist der Beste, kleiner Abdel!«
Kann man wohl sagen … An diesem Abend hängen wir an der Place Carrée ab, die ihren Namen gar nicht verdient, weil sie eher rund als eckig ist. Ganz hinten, an der Mauer, geraten plötzlich zwei Typen in Streit. Wir sehen aus sicherer Entfernung zu, halten uns im Hintergrund. Man mischt sich nicht in fremde Angelegenheiten ein. Niemals. Die Typen gehen aufeinander los, so was sieht man jeden Tag.
Weniger alltäglich ist das Blut, das einem der beiden plötzlich aus der Kehle schießt. Ganz und gar nicht alltäglich ist der Reis, der weiß aus dem Schlund des Schwarzen quillt. Er ist tot, eindeutig.
Innerhalb von Sekunden machen wir uns wie eine Schar Tauben vom Acker. Ich habe die Klinge nicht gesehen, die das Fleisch durchtrennt hat, sie muss groß und stark gewesen sein, genau wie die Hand, die sie führte. Entschieden. Darum rühre ich keine harten Drogen an, ich konsumiere sie nicht, und ich verkaufe sie nicht. Dieses Geschäft geht zu weit. Komisch: Obwohl ich mein Tun noch nie hinterfragt, obwohl ich beim Stehlen nicht die geringsten Skrupel habe, weiß ich jetzt schon, dass ich niemals für Geld morden könnte. Die Bullen werden gleich hier sein, ich laufe möglichst weit weg, alle Zeugen haben sich längst über die Stadt und in ihre Katakomben verteilt. Ich habe gesehen, wie der Kopf des Toten auf die Schulter fiel, fast komplett vom Rumpf abgeschnitten. Ich habe gar nichts gesehen.