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Kinder an einen Bruder oder eine Schwester abzugeben, die keine eigenen haben, ist in afrikanischen Kulturen fast gängige Praxis, in Schwarzafrika wie im Maghreb. Dort hat natürlich jeder einen leiblichen Vater und eine leibliche Mutter, aber man wird schnell zum Kind der ganzen, meist vielköpfigen Familie. Wenn die Eltern beschließen, sich von einem Sohn oder einer Tochter zu trennen, überlegen sie nicht lange, ob ihr Kind darunter leiden wird. Groß und Klein finden es ganz natürlich, die Eltern zu wechseln. Kein Anlass, Worte zu verlieren, kein Grund, Tränen zu vergießen. Die afrikanischen Völker durchtrennen die Nabelschnur früher als die Europäer. Kaum hat ein Kind laufen gelernt, folgt es einem größeren auf Entdeckungstour. Es bleibt nicht am Rockzipfel der Mutter hängen. Und wenn die es so will, bekommt das Kleine eine neue Mutter.
Zur Lieferung gehörten bestimmt auch zwei, drei Unterhemden, aber ganz sicher keine Gebrauchsanweisung. Wie soll man Kinder aufziehen, wie mit ihnen sprechen, was soll man ihnen erlauben und was verbieten? Belkacem und Amina wussten es nicht. Also haben sie versucht, die anderen Pariser Familien zu imitieren. Was machten diese in den siebziger Jahren am Sonntagnachmittag, übrigens genau wie heute? Sie gingen in den Tuilerien spazieren. So bin ich mit fünf über den Pont des Arts gegangen, um am Rand eines trüben Teichs zu stranden. In diesem Tümpel, gerade mal einen halben Meter tief, fristeten ein paar Karpfen ein trauriges Dasein. Ich sah sie an die Oberfläche steigen, das Maul aufreißen, um ein bisschen Luft zu schnappen und gleich die nächste Runde im Winzbecken zu drehen. Wir mieteten ein kleines Segelboot aus Holz, das ich mit einem Stock in die Mitte schob. Wenn der Wind in die richtige Richtung blies, erreichte das Boot in zehn Sekunden die gegenüberliegende Seite des Beckens. Ich rannte schnell rüber, drehte den Bug um und schob das Segelboot mit einem Schwung zurück. Manchmal hob ich den Kopf und staunte: Am Eingang des Parks stand ein gewaltiger Bogen aus Stein.
»Was ist das, Papa?«
»Äh … ein uraltes Tor.«
Ein vollkommen nutzloses Tor, da es weder von Mauern noch von Zäunen flankiert wurde. Auf der anderen Seite erblickte ich riesige Gebäude.
»Und was ist das, Papa?«
»Der Louvre, mein Sohn.«
Der Louvre … Ich war nicht schlauer als zuvor. Man musste wohl sehr reich sein, um dort zu wohnen, in einem so schönen und stattlichen Haus, mit so großen Fenstern und lauter Statuen, die an den Fassaden klebten. Im riesigen Park hätte man sämtliche Stadien Afrikas unterbringen können. Über die Alleen und Rasenflächen waren Dutzende versteinerte Männer verteilt, die von ihren Sockeln auf uns herabschauten. Sie trugen alle Mäntel und hatten lange Locken. Ich überlegte, wie lange sie schon dastanden. Dann widmete ich mich wieder meinen Spielen. Bei Flaute konnte es passieren, dass mein Boot mitten im Becken stehen blieb. In diesem Fall musste ich andere Matrosen überreden, eine Flotte zusammenzustellen und damit Wellen zu schlagen, bis mein Schiffchen wieder in Gang kam. Manchmal krempelte Belkacem die Hosenbeine hoch.
Wenn das Wetter richtig schön war, bereitete Amina ein Picknick zu, und wir aßen vorm Eiffelturm, auf dem Champ-de-Mars, zu Mittag. Danach streckten sich die Eltern auf einer Decke aus, während sich die Kinder schnell mit anderen zusammentaten und sich um einen Ball zankten. Am Anfang war mein Wortschatz noch zu klein, deshalb hielt ich mich zurück. War ganz lieb und brav. Zumindest äußerlich unterschied ich mich kein bisschen von den kleinen Franzosen in kurzen Cordlatzhosen. Abends kehrten wir genauso fix und fertig wie sie nach Hause zurück, wo meinem Bruder und mir allerdings niemand verbot, noch den berühmten Sonntagabendfilm zu gucken. Bei den Western hielten wir am längsten durch, aber das Ende bekamen wir nur selten mit. Belkacem trug uns nacheinander ins Bett. Für Liebe und Fürsorge braucht man keine Gebrauchsanweisung.
Wenn mein Vater in Algier zur Arbeit ging, trug er eine Leinenhose und eine Jacke mit Schulterpolstern. Dazu Hemd, Krawatte und Lederschuhe, die er jeden Abend auf Hochglanz bürstete. Ich ahnte, dass er einer eher geistigen, wenig schweißtreibenden Tätigkeit nachging, ohne zu wissen, was er genau machte, und fragte auch nicht danach. Im Grunde war mir sein Beruf egal. Mein Vater in Paris schlüpfte jeden Morgen in einen Blaumann und setzte sich eine dicke Schiebermütze auf den kahlen Schädel. Als Elektriker kannte er keine Arbeitslosigkeit. Für ihn gab’s immer was zu tun, er war zwar oft müde, aber beklagte sich nie, malochte fleißig weiter. In Algier wie in Paris blieb Mama zu Hause, um sich ums Essen, den Haushalt und – theoretisch – auch um die Kinder zu kümmern. Was das anging, konnte Amina keinem Vorbild nacheifern, sie hatte noch nie ein typisch französisches Heim von innen gesehen. Deswegen machte sie es so wie in der alten Heimat: Sie bekochte uns mit köstlichen Gerichten und ließ die Tür offen. Ich bat sie nicht um Erlaubnis, wenn ich rauswollte, und sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, mich zur Rechenschaft zu ziehen. Bei uns Arabern wird Freiheit ohne Einschränkung gewährt.