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Willkommen im Erholungsheim.
Der Tag beginnt ganz entspannt mit den Kurznachrichten. Um acht verkündet ein Radiomoderator knatternd wie eine Maschinenpistole, dass im Département Doubs ein Zug entgleist ist, vier Menschen erlitten leichte Verletzungen, die unter Schock stehenden Passagiere wurden von der Feuerwehr evakuiert. Ein Hoch auf die Grande Nation: In der Formel 1 hat Alain Prost den Großen Preis der USA gewonnen. Die Wettervorhersage fürs Wochenende: sonnig, im Nordosten leicht bewölkt, später vereinzelt Gewitter, die Temperaturen typisch für diese Jahreszeit. So langsam werde ich wach, auf die Nachrichten folgt ein schlimmes Lied von Jean-Jacques Goldman, aber es besteht Aussicht auf Besserung: Im Lauf des Tages werden sie bestimmt drei- oder viermal Lambada spielen, anscheinend ist das der große Sommerhit. Das will man uns jedenfalls mit allen Mitteln weismachen …
Die Riegel schnappen auf. Ich strecke und dehne mich, massiere mir den Nacken, gähne ausgiebig. Bald wird der Kaffee serviert, im Flur rollt der Wagen immer näher. Ich strecke meinen Becher aus, greife mir das Tablett, lege mich wieder hin. Auf Chérie FM läuft gerade Werbung. Eine Horde junger Mädels bricht in Begeisterung aus, weil irgendwelche Schuhe für schlappe 199 Francs zu haben sind. Sie trällern, dass »man schon irre sein müsste, um mehr auszugeben«. Und wenn ich ihnen stecken würde, dass ich einen Haufen Tricks kenne, um gar nichts auszugeben? Ich tunke mein Brot in den Kaffee, die Margarine löst sich auf und bildet winzige gelbe Pünktchen an der Oberfläche … Frühstück im Bett, was will das Volk mehr? Ein bisschen Ruhe vielleicht. Ich drehe die Lautstärke so weit runter wie möglich, aber das Radio wird bis zum Zapfenstreich weiterdudeln. Ausschalten geht nicht. Liane Foly, Rock Voisine und Johnny Hallyday: Das ist die schlimmste Tortur, der man als Häftling in Fleury-Mérogis ausgesetzt ist. Fast so schlimm wie die Wassertropfenfolter. Man könnte schier wahnsinnig werden, hätte man nicht die Möglichkeit, Mylène Farmers asthmatisches Gejaule mit beruhigendem TV-Schnurren zu übertönen. Ich bin schließlich ein reicher Mann. Bei meiner Ankunft gut 12 000 Francs schwer, und hier muss man nur 60 im Monat springen lassen, um einen Fernseher zu mieten! Das leiste ich mir, logisch. Wir empfangen hier alle sechs Sender, inklusive Canal+. Gerade läuft Teleshopping.
Der Moderator Pierre Bellemare will, dass ich ihn anrufe. Er würde mir gern ein Waffeleisen verkaufen. Ich seh mich in meiner Zelle um, ein kurzer Blick genügt, nicht nötig, extra aufzustehen. Tut mir leid, lieber Pierrot, aber mein Schrank ist voll, da passt kein Puderzucker mehr rein. Der Schrank ist voller Zigarettenschachteln (für bedürftige Neulinge, ich selbst rauche nicht) und Kekse der Marke Pepito (für meine Teepause). Wenn ich was kaufen will, geb ich einfach meine Häftlingsnummer an, die gleichzeitig meine Kontonummer ist. 186 247 T. Der Betrag wird direkt abgebucht, Umsatzsteuer und Sozialversicherungsbeiträge fallen nicht an. So versüße ich mir den Alltag, nachdem mein Start hier schon mal gar nicht so übel war. Am Tag meiner Ankunft wurde ich von Ahmed begrüßt, einem Kumpel aus Beaugrenelle. Weil er kurz vor seiner Entlassung stand, hat er mir das Nötigste vererbt: den Schwamm und das Waschpulver, den rechteckigen Rasierspiegel mit rosa Plastikrand, die hautschonende Seife, den CD-Player, natürlich mit Kopfhörern, die Thermosflasche, um das Wasser kalt oder den Kaffee warm zu halten.
Mein bislang unbegrenzter Lebensraum ist auf wenige Quadratmeter zusammengeschrumpft. Ich kann trotzdem atmen. Am späten Vormittag schlägt mir ein Wärter vor, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Das ist kein Muss, ich kann auch weiter Teleshopping machen und über die Schnäppchen-Welt des alten Schnauzbartträgers staunen. Aber ich geh gern raus. Im Hof lassen sich oft Geschäfte abwickeln. Die Frischlinge brauchen ihre Gitanes, vielleicht sind sie im Polizeigewahrsam auf einen mitfühlenden Bullen gestoßen, der ihnen die eine oder andere Zigarette zugesteckt hat, trotzdem sind sie weit unter ihrem üblichen Tagespensum geblieben. Die Neuen sind leicht zu erkennen: Sie tragen die Uniform, die sie bei ihrer Ankunft erhalten haben, sie hatten bisher weder Zeit noch Gelegenheit, ihre eigenen Sachen anzufordern. Und sie stellen sich direkt hinter die Alteingesessenen, um ihre Rauchschwaden einzuatmen, sie stürzen sich auf die Kippen, die diese verächtlich auf den Boden schnippen. Zeit, die Verhandlungen aufzunehmen.
»Hey, ich bin Abdel. Brauchst du Fluppen?«
»Ousmane. Klar, Mann! Was willst du dafür?«
»Diese Jeansjacke da, ist die von Levi’s?«
»Für dich ist die doch viel zu groß.«
»Egal, hab schon Verwendung dafür … Vier Schachteln, und du gibst mir die Jacke.«
»Vier? Abdel, Bruder, glaubst du, ich bin bescheuert? Die Jacke ist mindestens dreißig Schachteln wert.«
»Ich biete dir sechs, das ist mein letztes Wort.«
»Sechs Schachteln … damit komm ich höchstens drei Tage aus.«
»Mein letztes Wort.«
»Okay, ich bin dabei …«
Die Übergabe kann nicht während des Hofgangs erfolgen: Das ist gegen die Vorschriften. Sie wird im Lauf des Tages stattfinden, mit Hilfe der guten alten Yo-Yo-Methode, die von den Aufpassern stillschweigend geduldet wird. Sogar die andern Häftlinge spielen mit: Erstens, weil das für ein bisschen Ablenkung sorgt, zweitens, weil jeder früher oder später selbst auf diese Methode zurückgreifen will, und drittens, weil alle Spielverderber aus unserer kleinen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Ich binde die Schachteln mit einem Tuch zusammen, verknote das Ganze mit einem Laken, werfe das Laken aus dem Fenster und lasse es hin- und herpendeln. Sobald genug Schwung in die Sache gekommen ist, kann mein Zellennachbar das Paket auffangen. Er reicht es seinerseits an den Typ neben ihm weiter, und so geht das in einem fort, bis die Sendung beim Empfänger ankommt. Der verknotet dann die Jeansjacke mit dem Laken und schickt sie mir auf dem selben Weg zurück. Manchmal reißt der Stoff, oder ein ungeschickter Häftling lässt das Laken fallen. Dann landet es unten im Stacheldrahtverhau und ist für immer verloren … Um das so gut es geht zu vermeiden, sucht man sich Handelspartner, die nicht allzu weit weg »residieren«.
Nach dem Hofgang gibt’s Mittagessen. Anschließend Siesta. Morgen ist Besuchstag. Meine Eltern nehmen ihn einmal im Monat wahr. Wir haben uns nichts zu sagen.
»Geht’s, mein Sohn? Kommst du klar?«
»Logisch!«
»Und die anderen in deiner Zelle, lassen sie dich in Ruhe?«
»Ich hab ein Einzelzimmer. Für alle die beste Lösung … Keine Sorge, mir geht’s super!«
Wir haben uns nichts zu sagen, aber ich schenke ihnen reinen Wein ein: In Fleury-Mérogis schieb ich eine ruhige Kugel. Man ist hier unter sich. Wir alle haben gebettelt, gestohlen, ein bisschen draufgehauen, gedealt, sind weggelaufen, gestolpert und haben uns schnappen lassen. Nicht weiter schlimm. Die echten Kriminellen sitzen in Fresne ein. Ein Typ namens Barthélemy behauptet, an der Place Vendôme Diamanten gestohlen zu haben. Wir lachen uns alle schlapp: Tatsächlich sitzt er im Knast, weil er einem Anzugträger in La Défense den Mittagssnack aus der Hand gerissen hat, Würstchen mit Pommes. Verurteilt wurde er wegen »immateriellen Schadens«, herrlich!
Nachmittags dreh ich zu jeder vollen Stunde die Lautstärke auf, um die Kurznachrichten zu hören. So erfahre ich, dass Polizisten der Sondereinheit RAID in Ris-Orangis von einem Geistesgestörten in die Falle gelockt wurden. Im Glauben, ihre Kollegen hätten schon die Tür der Wohnung gesprengt, in der sich der Kerl verschanzt hatte, stiegen mehrere bis an die Zähne bewaffnete Bullen durchs Fenster ein. Der Wahnsinnige erwartete sie. Als Sicherheitsbeamter war er ebenfalls bestens ausgerüstet. Er schoss als Erster. Zwei Bullen weniger im Stall. Ich freue mich nicht darüber, aber ich muss auch nicht weinen: Es ist mir schnuppe. Wir leben in einer verrückten Welt, die von Irren bevölkert wird, und ich bin noch lange nicht der gemeingefährlichste von ihnen. Ich dreh die Lautstärke runter, schalte den Fernseher wieder ein. Charles Ingalls sägt Holz, seine Söhne rennen über die Wiese, Caroline kümmert sich im Häuschen ums Kaminfeuer. Ich dämmere weg …
Ich hab’s gut getroffen. Fleury, das ist ein Ferienlager. Besser noch: Club Med, nur ohne Sonne und ohne Miezen. Die Aufpasser, diese netten Animateure, tun alles, um uns glücklich zu machen. Die Knüppelschläge, Beleidigungen, Erniedrigungen kenne ich aus Filmen, hier habe ich so was noch nicht erlebt. Und was den berüchtigten »Seifentrick« unter der Dusche angeht: Das ist bloß eine Legende oder vielleicht eine sexuelle Phantasie. Die Wärter tun mir leid, denn die müssen ihr ganzes Leben hier verbringen. Diese grauen Gebäude tauschen sie am Abend nur gegen ein anderes, das vermutlich auch nicht fröhlicher aussieht. Mit einem einzigen Unterschied: Bei ihnen zu Hause werden die Türen von innen verriegelt, zum Schutz vor bösen Jungs wie uns, die noch nicht eingelocht wurden. Die Männer mit dem Schlüssel sind hier wie dort eingesperrt. Die Häftlinge zählen die Tage bis zu ihrer Entlassung, die Wärter zählen die Jahre bis zur Pensionierung …
Am Anfang habe ich die Tage auch gezählt. Aber schon nach einer Woche war mir klar, dass ich die Zeit einfach verstreichen lassen und im Augenblick leben sollte, ohne an das Morgen zu denken, so wie früher … Ich bin artig geworden, habe mich mit meinen Nachbarn gutgestellt. In der Verbindungswand zwischen zwei Zellen befindet sich in Bauchnabelhöhe immer ein Loch mit acht bis zehn Zentimetern Durchmesser. So kann man sich ein bisschen miteinander unterhalten, Zigaretten oder ein Feuerzeug durchgeben oder seinen Nachbarn in den Genuss des Fernsehers kommen lassen, falls er selbst keinen hat. Dafür braucht man nur einen Spiegel so auf den Hocker zu stellen, dass er das Bild entsprechend zurückwirft. Für den anderen ist es nicht sehr bequem, den Film zu gucken, gebückt klebt er mit dem Auge am Loch und muss die Ohren spitzen, um die Dialoge zu verstehen. Aber es ist besser als nichts. An jedem ersten Samstag im Monat sendet Canal+ einen Porno. Kurz bevor es losgeht, trommeln sämtliche Gefangene gegen die Türen, auf die Tische, auf den Boden. Das ist bestimmt kein Aufruf zum kollektiven Ausbruch. Aber was dann? Keine Ahnung. Ich beteilige mich wie alle anderen an diesem Höllenlärm, es macht mir Spaß, auch wenn ich mir oft Stille wünsche. In Fleury-Mérogis ist es nie still. Niemals. Außer beim monatlichen Porno. Sobald der anfängt, verstummen alle andächtig.
Ich hab gelernt, mich dem ständigen Lärm zu entziehen, indem ich mir einen eigenen Soundtrack bastle. Er besteht vor allem aus Filmszenen. Spiel mir das Lied vom Tod ist von 1968, drei Jahre später kam Abdel, das göttliche Kind, auf die Welt. Zum Glück wird mein Lieblingswestern häufig gezeigt, und ich verpasse keine einzige Wiederholung. Inzwischen kenne ich die Dialoge auswendig: »Ist dir wirklich nichts anderes eingefallen, als sie umzulegen? Ich sagte, du solltest sie einschüchtern.« Darauf die furztrockene Antwort: »Ich mach das eben auf meine Art.« Oder: »Am Bahnhof waren drei Mäntel, und in den drei Mänteln standen drei Männer, und in den drei Männern waren drei Kugeln …« Der Hammer! Manchmal stoße ich auf einen Stummfilm mit Charlie Chaplin und muss so laut lachen, dass die Wärter glauben, ich drehe durch. Auch die Nachrichten im Radio und Fernsehen bringen mich oft zum Lachen. In Creil sind drei Mädchen mit Burka in die Schule gegangen – schon glauben die Franzosen, dass bei ihnen der Mullah regiert. Sie geraten buchstäblich in Panik. So absurd diese Nachrichten, einfach zum Lachen.
Der Tag ist bald zu Ende, Licht und Fernseher schalten sich nach dem zweiten Abendfilm von allein aus. Das Jahr ist bald zu Ende, ich habe meine Zeit praktisch schon abgesessen, wenn man den Straferlass berücksichtigt. Ich hab bestimmt zehn Kilo zugenommen, als ich meine Tage wie ein alter Pascha im Liegen verbrachte. Das steht mir nicht besonders gut. Macht nichts: Draußen warten neue Geschäfte auf mich, dann muss ich wieder auf Zack sein, von null auf hundert beschleunigen, schnell und lange rennen, da werd ich schon abnehmen. Im Juni hatte ich mich vor Gericht schuldig bekannt, weil ich dachte, wenn ich die Wahrheit sage, bin ich umso schneller wieder draußen. Tatsächlich hätte ich nur alles abstreiten müssen, damit man mich bis zum richtigen Prozess wieder auf freien Fuß setzt. Dann wär ich vielleicht untergetaucht, hätte mich bei Kumpels versteckt oder bei meiner Familie in Algerien. Und hätte damit auf eine interessante, völlig schmerzfreie Erfahrung verzichtet.
Auch am 9. November liege ich auf meiner Pritsche und schaue fern. Von Christine Ockrent erfahre ich, dass Europa seit 28 Jahren durch eine Mauer geteilt ist. Die Nachrichtensendungen drehen sich alle um das eine große Ereignis: Der Eiserne Vorhang wackelt. Dann zeigen sie Leute, die Steine aus der Mauer brechen und sich mitten in den Trümmern in die Arme fallen. Ein alter Mann spielt vor den Graffitis Geige. Ost und West bildeten bis zu diesem Tag also wirklich zwei völlig undurchlässige Blöcke. Das war keine Erfindung von Drehbuchautoren aus Hollywood, und wenn James Bond echt wäre, würde er sich tatsächlich mit Sowjet-Spionen herumschlagen …
Plötzlich frage ich mich, auf welchem Planeten ich eigentlich gelebt habe, bevor ich nach Fleury-Mérogis kam. Seit sechs Monaten bin ich in einer Zelle eingesperrt und entdecke dabei die Welt. Das ist doch wirklich verrückt. Die Wärter nennen mich den »Touristen«, weil ich alles auf die leichte Schulter nehme. Als wäre ich hier nur auf der Durchreise.
Meine Zeit ist ohnehin abgelaufen, ich bin schon wieder auf dem Sprung. Danke, Jungs, ich hab mich super erholt, jetzt kann ich mich wieder ins Getümmel stürzen. Ob in Berlin, am Trocadéro, in Châtelet-Les Halles oder im Außenministerium, offenbar herrscht überall das gleiche Chaos. Und falls ich wieder in Fleury landen sollte … ist das auch kein Beinbruch.