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Céline hat uns verlassen. Sie möchte Kinder haben, sie will nicht ihr Leben lang Köchin spielen für zwei Teenager, die sowieso immer nörgeln, einen Tetraplegiker, der ständig auf Diät gesetzt, und einen Typen, der süchtig nach Gyros-Taschen ist.

Adieu, Céline. Ich stell mich ein paar Tage lang an den Herd. Alles geht gut. Außer dass drei Putzfrauen hintereinander kündigen, weil sie es satthaben, morgens, mittags und abends hinter mir herzuräumen … Dann nehmen wir Jerry auf, einen Philippiner, den uns die Arbeitsvermittlung schickt. Wir hätten ihm den Zugang zur Waschmaschine verbieten sollen. Er hat sämtliche Anzüge des Chefs bei vierzig Grad durchgejagt. Das Resultat sieht nicht gerade hübsch aus. In einem Dior-Anzug, dem letzten, der ihm geblieben ist, betrachtet Monsieur Pozzo gefasst die Überreste seiner Garderobe, die der junge Mann in den Schrank zurückgehängt hat, als wäre nichts geschehen.

»Abdel, da ist doch dieser Giacometti-Abguss im Wohnzimmer, du weißt schon, der große Stängel neben dem Bücherregal? Man könnte ihm die Hugo-Boss-Jacke überstreifen, die müsste passen …«

»Aber, Monsieur Pozzo, das macht doch nichts. Da, wo wir jetzt hingehen, brauchen Sie nichts als eine dicke Wollmütze.«

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Wir verreisen. Tante Éliane, eine kleine, sanfte Frau, die seit Béatrices Tod sehr präsent ist, möchte ihren braven Philippe in die Obhut von Nonnen in Quebec geben. Sie steckt unter einer Decke mit dem Cousin Antoine, der sich ganz dem religiösen Hokuspokus verschrieben hat. Als sie das Projekt vorstellten, haben sie schwere Geschütze aufgefahren: Sie sprachen von einer »Therapie der Liebe«.

»Monsieur Pozzo! Therapie der Liebe! Das ist genau, was wir brauchen, das sag ich doch schon die ganze Zeit!«

»Abdel, ich glaube, wir meinen nicht ganz dieselbe Sache …«

Ich für mein Teil war sofort begeistert. Wie immer habe ich nur gehört, was ich hören wollte: Die Geschichte von Kloster, Einkehr, Seminar und Kapuzinerschwestern ist mir entgangen. Für mich ist Quebec bloß der verlängerte Teil von Amerika, nur dass die Leute dort echt Stil haben und französisch sprechen. Ich seh mich schon in der Neuen Welt und den Great Plains, umzingelt von Betty-Boops, Marilyns und XXL-Pommestüten. Und da man uns obendrein auch noch die Liebe verspricht … Laurence, Philippe Pozzos treue Sekretärin, hat sich auch eingeladen: Sie hat einen Hang zu Spiritualität, Meditation und dem ganzen Kram. Sie will »Buße tun«, sagt sie. Buße, aber wofür bloß? Ich wusste schon immer, dass dieses Mädel leicht maso ist. Sympathisch, aber maso.

Wir landen in Montreal, düsen aber nicht direkt zu den Nonnen. Wär doch schade, wenn man die Chance verpasst und sich nicht etwas umschaut, oder? Ich liebe die Restaurants hier. All you can eat-Buffets, überall! Um nicht als Vielfraß aufzufallen, der sich ständig Nachschlag holt, bringe ich die Platten direkt an unseren Tisch. Monsieur Pozzo hat mich noch nicht aufgegeben, er ermahnt mich.

»Abdel, das gehört sich nicht … Und übrigens, hast du in letzter Zeit nicht etwas zugenommen?«

»Nichts als Muskeln! Das kann nicht jeder von sich behaupten.«

»Volltreffer, Abdel.«

»Aber nein, Monsieur Pozzo! Damit meine ich doch Laurence!«

Das Fortbewegungsmittel unserer Wahl ist ein herrlicher beigefarbener Pontiac. Herrlich, wenn auch nicht gerade selten: Hier fahren alle denselben Wagen. Aber halb so wild, Hauptsache, ich kann meinen amerikanischen Traum leben.

Auf dem Weg zum Kloster bittet mich der Boss, kurz anzuhalten und ihm Zigaretten zu kaufen. Er hat Angst, sie könnten ihm ausgehen. Das bereitet mir ein wenig Sorgen.

»Wenn Sie keine mehr haben, hol ich einfach welche!«

»Abdel, wenn wir einmal dort sind, bleiben wir auch. Wir ordnen uns dem Rhythmus der Kapuzinerinnen unter und ziehen das Seminarprogramm bis zum Ende durch. Bis zum Ende der Woche.«

»Das Programm? Was für ein Programm? Und wie? Wir verlassen das Hotel eine ganze Woche lang nicht?«

»Nicht das Hotel, Abdel, das Kloster!«

»Mmh, na, ist nicht das ungefähr dasselbe? Also, wie viele Päckchen?«

Ich parke den Pontiac vorm Schaufenster eines Drugstores, kaufe seine Droge und kehre zum Auto zurück. Ich öffne die Tür zum Fahrersitz, lasse mich auf den Sitz fallen, drehe den Kopf nach rechts, wo ich eigentlich dem Blick meines Bosses begegnen sollte. Er hat die Farbe gewechselt. Und das Geschlecht. Da sitzt eine riesige schwarze Mama.

»Was haben Sie mit dem kleinen weißen Kopffüßler gemacht, der vor einer Minute noch hier saß?«

Sie schaut mich an und zieht die Augenbrauen hoch bis zum Ansatz ihrer Rastazöpfe.

»Na, aber hören Sie mal! Wer sind Sie denn überhaupt?«

Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel. Im Pontiac gleich hinter uns befindet sich ein vergnügter Monsieur Pozzo, und auf dem Rücksitz liegt Laurence, wahrscheinlich totgelacht, Gott hab sie selig.

»Madame, es tut mir leid. Wirklich sehr leid. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.«

»Aber ich hab doch gar keine Angst, du kleiner Grünschnabel!«

Grünschnabel! Sie hat mich Grünschnabel genannt! Ich musste den Atlantik überqueren, um mich Grünschnabel schimpfen zu lassen! Ich kehre mit eingezogenem Schwanz zum Wagen zurück. Es stimmt, verängstigt sah sie nicht aus … Allerdings hab ich auch gut und gerne fünfzig Kilo weniger drauf als sie. Und er behauptet, ich habe zugenommen! Da ist doch noch jede Menge Spielraum!

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Das Kloster sieht aus wie ein Landhaus in den Bergen: überall Holz, keine vergitterten Fenster, ein See voller Boote. Ob die Mädels Angelruten verleihen? Philippe Pozzo di Borgo ist ein besonderer Gast: Normalerweise öffnen die Nonnen das Haus nur für Frauen. Wie in den Schulen früher: die Mädchen auf der einen, die Knaben auf der andern Seite. Keine Vermischung! Aber ein Tetraplegiker, das ist natürlich etwas anderes … Die Männlichkeit meines Bosses hat durch seinen Unfall einen harten Schlag erlitten, und ich finde es nicht sehr zartfühlend, ihn daran zu erinnern, dass er sich nicht mehr nach Lust und Laune vermischen kann. Was mich betrifft, so bin ich in meiner Funktion als »Hilfskraft« zugelassen. Inzwischen mag ich das Wort. Ich hatte Zeit, über seinen Sinn nachzudenken: Wie das Hilfsverb in der Grammatik, hat auch eine Hilfskraft keine Funktion, solange sie alleine ist. Das Hilfsverb muss mit einem anderen Verb zusammengetan werden, oder es ist rein gar nichts. Ich habe, zum Beispiel? Was habe ich denn? Ich habe gegessen. Ich habe gelesen. Ich habe geschlafen. Alles klar. Ich bin das Hilfsverb, und Monsieur Pozzo ist das Hauptverb. Er ist es, der isst, der liest, der schläft. Aber ohne mich schafft er das nicht. Was die Nonnen nicht wissen, ist, dass das Hilfsverb Abdel eine besonders freie Stellung besitzt in der Grammatik des Lebens. Aber sie werden schon noch draufkommen.

Man teilt mir ein Zimmer im Erdgeschoss zu, gleich neben meinem Chef – nein, man wird mich nicht dazu bringen, es Zelle zu nennen. Der Wagen steht auf dem Parkplatz, ich bin ganz gelassen. Heute Abend heißt mein Hauptverb »schlafen«. Und ich habe einen Plan: Sobald ich Monsieur Pozzo in die Heia gebracht habe, werde ich aus dem Fenster steigen und in die nächste Stadt fahren. In der Zwischenzeit mache ich das Spielchen mit. Wie immer, wenn ich an einen Ort komme, den ich nicht kenne, beobachte ich erst mal. In der Kirche stelle ich den Rollstuhl vom Chef neben die Sitzreihe, dann lehne ich mich an einen Pfeiler in der Nähe und mache ein Auge zu. Mit dem anderen beobachte ich. Die Seminaristinnen sehen alle ein wenig kaputt aus, körperlich oder psychisch oder beides gleichzeitig. Sie konzentrieren sich nur auf ihr Leiden, das sie nicht loslässt, sie ganz und gar in seinen Krallen hält, und sie versuchen, sich durch das Gebet von ihm zu befreien. Ich seh nicht ein, was das mit mir zu tun haben soll. Ein paar von ihnen sind an den Rollstuhl gefesselt, wie Monsieur Pozzo. Ich betrachte sie: Keine Frage, wenn mich das Arbeitsamt zu denen geschickt hätte, wäre ich nicht geblieben. Sie sehen mir wirklich eine Spur zu unglücklich aus. Sämtliche Sicherungen sind rausgesprungen, in ihrem Oberstübchen brennt keine einzige Glühbirne mehr! Während es bei Pozzo blinkt und blitzt. Dieser Typ ist ganz anders als sie. Er ist ein weiser Krieger, ein Jedi wie in Star Wars … Die Macht ist mit ihm.

Im Restaurant – nein, man wird mich nicht dazu bringen, es Refektorium zu nennen – wird nicht gesprochen. Man kaut und betet gleichzeitig, so will es die Regel. Ob man dafür beten darf, dass das, was man kaut, besser schmeckt? Wenn ich nur daran denke, dass es zwanzig Minuten von hier All you can eat-Buffets gibt … Monsieur Pozzo und ich haben beschlossen, uns nicht in die Augen zu sehen. Bloß nicht! Wir würden auf der Stelle in Lachen ausbrechen. Ich lese seine Gedanken, und er liest meine. Unsere Andacht lässt noch etwas zu wünschen übrig, und ganz ehrlich, mit seiner steht es nicht besser als mit meiner. Eine Pastorin schaut mich aus dem Augenwinkel an. Was für ein neckischer Blick. Wenn sie hält, was sie verspricht, packe ich sie in den Pontiac, und die wilden Quebecer Nächte gehören uns!

Außer dass ich das Zimmer nicht durch das Fenster verlassen kann. Es ist nicht verriegelt, es ist nicht vergittert, aber die Fluchttreppe endet genau vor meiner Scheibe. Wenn die Baracke Feuer fängt, gibt es einen Toten, einen einzigen. Man wird für seine Seele beten, man wird ihn heiliger Abdel nennen … Ich sitze in der Klemme. Es gibt nicht das kleinste Geräusch, wir sind verloren in der Quebecer Pampa, eine Eule schreit, eine Kapuzinerin schnarcht, die Fluchttreppe sitzt fest an der Fassade, es ist nichts zu machen. Ich gehe schlafen.

Am nächsten Morgen zwinkere ich der Pastorin zu, als wir ihr im Flur begegnen. Sie plaudert munter drauflos:

»Hallo! Stimmt es, dass Sie aus Frankreich kommen?«

Dieses Geschöpf zählt sich zu Gottes Schäfchen. Sie hat Hunderte von solchen Seminaren hinter sich. Sie duzt die örtlichen Nonnen. Wenn sie sich traut, so laut zu sprechen, dann kennt sie vielleicht die Regeln, die wahren Regeln. Ich dachte, das Sprechen ist hier verboten?

»Ja, ja, wir kommen aus Paris … Aber sagen Sie, wird das Schweigegebot hier streng gehandhabt?«

»Ach was, setzen Sie sich heute Abend in der Kantine zu mir. Dann können wir uns besser kennenlernen.«

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So ist unser Flüstergrüppchen – Monsieur Pozzo, Laurence und ich – von drei auf vier angewachsen. Dann auf fünf, dann sieben Seminaristen. Dann auf zehn, fünfzehn und bis zur Wochenmitte sogar auf zwanzig! Wir flüsterten auch gar nicht mehr, und es wurde laut gelacht an unserem Tisch. Die Gesichter, auf denen ich bei unserer Ankunft am meisten Schmerz erkannt haben wollte, schienen plötzlich viel gelöster. Nur eine Gruppe von unverbesserlichen Depressiven spielte noch eine Extrawurst. Ich nannte sie die Genussverweigerer. Die Kapuzinerinnen, die keine großen Anstrengungen unternahmen, uns zum Schweigen zu bringen, lachten sich krumm und bucklig.

»He, Mädels, ihr solltet euer Praktikum umtaufen.«

»Wie denn, Abdel? Gefällt Ihnen etwa Liebestherapie nicht?«

»Ich glaube, Humortherapie wäre viel erfolgversprechender.«