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Ich bin gerade sechzehn geworden. Vor ein paar Tagen habe ich mich vor dem Disziplinarausschuss des Gymnasiums eingefunden, um meine Karriere als Mechaniker zu beenden. Ich wurde beschuldigt, dem Unterricht wiederholt ferngeblieben zu sein und außerdem dem BWL-Lehrer einen Kinnhaken verpasst zu haben.
»Abdel Yamine Sellou, am 23. April haben Sie Monsieur Péruchon tätlich angegriffen. Bekennen Sie sich dazu?«
Mensch, das ist ja ein richtiger Prozess …
»Klar …«
»Immerhin etwas! Versprechen Sie uns, dass es nie wieder dazu kommt?«
»Tja, das liegt ganz bei ihm!«
»Nein, das liegt allein bei Ihnen. Geloben Sie also, es nie wieder zu tun?«
»Nein, das kann ich nicht.«
Der Chefankläger seufzt resigniert. Die Geschworenen lösen weiter Kreuzworträtsel. Meine Dreistigkeit ist nichts Neues für sie. Nach allem, was sie schon erlebt haben, wird es schwer, sie aus der Reserve zu locken. Ich versuche es also mit Humor.
»Sie wollen mich hoffentlich nicht rausschmeißen, Herr Direktor?«
»Liegt Ihnen plötzlich doch etwas an Ihrer beruflichen Zukunft, Abdel Yamine?«
»Na ja … Mir liegt vor allem was an der Mensa. Am Donnerstag gibt’s oft Pommes. Da komm ich gern zum Essen.«
Die anderen im Saal rühren sich immer noch nicht. Nicht mal der fette Schulbeauftragte für Disziplinarfragen, der mir übrigens kein einziges Mal mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte. Hey, Sie da! Wie wär’s mit ’ner Portion Pommes? Ich stelle mir den Mann als Zeichentrickfigur vor, er wird zum dicken Wolf, seine Zunge hängt bis zum Boden, Speichel trieft auf seinen dicken haarigen Bauch, er schafft es nicht, sich die Tüte mit den knusprigen Pommes zu schnappen, die Rotkäppchen Abdel in den Händen hält.
Der Direktor unterbricht meinen kleinen Tagtraum.
»Ihr kulinarisches Argument dürfte leider nicht ausreichen … Wir werden uns jetzt beraten, aber der Ausgang steht wohl schon fest. In ein paar Tagen erhalten Sie Bescheid, wir schicken den Brief an die Adresse Ihrer Eltern. Sie können jetzt gehen.«
»Na gut … Dann bis bald!«
»Wohl kaum … Viel Glück, Abdel Yamine.«
Der Brief ist noch nicht bei meinen Eltern eingetroffen, und ich habe sie nicht vorgewarnt, ich rede überhaupt nicht mehr mit ihnen. Ich habe mich schon längst von Schule und Familie entfernt. Laut Gesetz kann ich jedoch nur gemeinsam mit einem Erziehungsberechtigten befragt werden. Ein Polizeiwagen holt Belkacem und Amina ab, sie werden zum Quai des Orfèvres Nr. 36 chauffiert, dem Hauptsitz der Kriminalpolizei. Als sie den Flur betreten, döse ich auf einem Stuhl vor mich hin. Sie wirken gleichzeitig eingeschüchtert und traurig. Meine Mutter stürzt sich auf mich.
»Abdel, was hast du getan?«
»Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«
Meine Verweisung vom Gymnasium ist ihnen nicht so wichtig. Sie wissen sowieso, dass ich mich dort nur alle Jubeljahre blicken lasse (und zwar ausschließlich wegen der Mensa), und haben seit langem jede Kontrolle über mich verloren. Aber sie fürchten sich vor der Befragung, an der sie gleich teilnehmen sollen. Als sie mich das erste Mal beim Kommissariat um die Ecke abgeholt hatten, war es für erzieherische Maßnahmen bereits zu spät gewesen. Und das Ende vom Lied: Wir sind bei den Bullen gelandet, die für die Schwerverbrecher zuständig sind. Was meine Eltern seit Jahren im Stillen befürchtet haben, scheu und hilflos, ist womöglich eingetroffen.
»Abdel Yamine Sellou, du wurdest mit Hilfe der Überwachungskameras an der Place Carrée wiedererkannt, du warst im dritten Untergeschoss des Forum des Halles, als dort ein Mord begangen wurde, in der Nacht vom Blabla, blablabla …«
Es ist zum Schnarchen. Meine Eltern starren dem Inspektor auf die Lippen, um ihn besser zu verstehen. Beim Wort »Mord« springt meine Mutter auf.
»Keine Angst, Mama, ich war’s nicht, ich habe nichts getan! Ich war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Der Polizist ist auf meiner Seite.
»Madame Sellou, ich befrage Ihren Sohn als Zeugen, er steht nicht unter Mordverdacht, hören Sie?«
Sie nickt und nimmt beruhigt wieder Platz. Was ihr und meinem Vater in diesem Moment durch den Kopf geht, weiß ich nicht und werde es nie erfahren. Sie schweigen. Auch später, als wir zu dritt den berüchtigten Quai des Orfèvres verlassen, bleiben sie still. Erst kurz vor Beaugrenelle versucht mein Vater es kurz mit einer Gardinenpredigt, aber meine Mutter wird ihm den Mund verbieten, damit ich nicht gleich wieder verschwinde.
Doch zuerst liefere ich dem Inspektor meine Version: Die Typen von Les Halles hatte ich nie zuvor gesehen, kannte deren Namen nicht, würde sie nie im Leben wiedererkennen. Damit ist das Gespräch aber noch nicht beendet. Der Polizist stellt mir persönliche Fragen, über meinen Alltag, meine Kumpels vom Châtelet, die eigentlich keine sind. Pro forma hält er mir einen kleinen Vortrag. Entweder gehört das zu den Pflichten, für die er bezahlt wird, oder er will sein Gewissen beruhigen. Muss echt frustrierend sein, wenn man mit seiner Arbeit so wenig bewirkt …
»Abdel Yamine, deine Eltern haben ein geringes Einkommen, also bekommst du staatliche Ausbildungsförderung, bleibst dem Unterricht aber fern. Findest du das richtig?«
»Pfft …«
»Das Geld wird dir auch noch direkt überwiesen, auf dein eigenes Konto. Damit könnten deine Eltern wenigstens für deine Kleidung und Ernährung aufkommen.«
»Pfft …«
»Natürlich kommst du prima alleine klar, nicht wahr? Du führst dich auf wie ein kleiner Gockel … Pass auf, ich stelle dich gleich einer Dame vor, sie ist Jugendrichterin und wird sich um dich kümmern, bis du volljährig bist.«
Meine Eltern sagen nichts. Sie verstehen nicht, worum es geht, aber sie wissen bereits, dass man ihnen den Sohn nicht wegnehmen wird. Dass ich nicht in ein Heim für jugendliche Straftäter komme. Sie wissen, dass ich von nun an alle drei Wochen im Justizpalast erscheinen muss und sich trotzdem nichts ändern wird, weder für sie noch für mich. Youssouf, Mohamed, Yacine, Ryan, Nassim, Mouloud – fast alle Jungs von Beaugrenelle stehen unter Aufsicht von Jugendrichtern. So geht es in der Cité nun mal zu. Meine Eltern denken bestimmt, dass es für alle gilt, für Einwanderer- und Franzosenkinder.
Die Richterin begibt sich sogar persönlich zu uns ins Vernehmungszimmer. Sie ist eine kleine, rundliche Frau mit sanfter Stimme und einer sehr mütterlichen Art. Zwar spricht sie mit mir wie mit einem Zehnjährigen, aber ohne mich für blöd zu verkaufen. Offenbar will sie mir wirklich helfen … Sie sagt, was los ist, ohne tonnenweise Pathos aufzutragen. Das erlebe ich zum ersten Mal …
»Du gehst wohl nicht so gern in die Schule, Abdel Yamine?«
»Nein.«
»Das kann ich verstehen, du bist nicht der Einzige, dem es so geht. Aber du bist gern nachts unterwegs? Ich habe gehört, dass du etwas Schreckliches gesehen hast, beim Forum des Halles, dort wurde vor deinen Augen jemand ermordet, nicht wahr?«
»Hmm.«
»Meinst du, das tut einem so jungen Mann gut, in solche Situationen zu geraten? Du bist schließlich erst sechzehn.«
Ich zucke mit den Schultern.
»In drei Wochen sehen wir uns wieder, Abdel Yamine. Bis dahin kannst du dir in Ruhe überlegen, was du gern tun würdest. Vielleicht auch, wo du gern leben möchtest. Dann können wir uns darüber unterhalten und sehen, was sich machen lässt. Einverstanden?«
»Ja.«
Zu meinen Eltern sagt sie:
»Madame Sellou, Monsieur Sellou, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie für diesen Jungen die Verantwortung tragen, und zwar bis zu seiner Volljährigkeit, die in Frankreich mit 18 Jahren erreicht ist. Bis dahin müssen Sie ihn beschützen, auch gegen seinen Willen. Ein Kind bedeutet keine Last, sondern eine Aufgabe, die Eltern zu erfüllen haben. Können Sie mir folgen?«
»Ja, Madame.«
Diesmal haben sie wirklich etwas begriffen. Nicht alles, aber immerhin etwas. Nachdem mein Vater drei Stunden bei der Kriminalpolizei verbracht hat, mit krummem Rücken und traurigem Blick, wagt er es auf der Straße, seinem Frust freien Lauf zu lassen.
»Hast du gehört, Abdel? Die Dame sagt, wir sind für dich verantwortlich, also wirst du dich von jetzt an benehmen!«
Gehört habe ich vor allem das Wort »Last«. Ich betrachte diesen armen Mann, der seit dreißig Jahren Kabel anschließt, gemeinsam überqueren wir die Seine, am Pont Neuf, der mich schon jetzt an so viel erinnert, und mir kommt mein Leben deutlich aufregender vor als seins. Plötzlich sieht mich meine Mutter an, ihre Augen sind voller Tränen.
»Abdel, du hast einen Mord miterlebt!«
»War nicht schlimm, Mama. Als hätte ich mir einen Unfall oder einen Film im Fernsehen angeschaut. Ich war zwar dabei, aber ich war nicht betroffen, es hatte nichts mit mir zu tun. Es hat mir nichts ausgemacht.«
Genau wie all die Standpauken, die ich mir anhören musste.